Heute in den Feuilletons

Diskretes Espressivo-Maß

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.10.2008. In der Jungle World prangert die Turkologin Corry Guttstadt das feige Verhalten der Türkei im Holocaust an. In der Welt diagnostiziert David Owen: Blair litt am Hybris-Syndrom. In der FAZ erklärt John McWhorter, warum er Hip-Hop für politisch überschätzt hält. In der SZ erklärt Joachim Kaiser, warum er Alfred Brendel keineswegs für überschätzt hält. Im Tagesspiegel antwortet Michael Wolffsohn auf Gregor Gysi.

Jungle World, 31.10.2008

Bush ist an so vielem Schuld, sogar am selbstverschuldeten Niedergang der Linken, meint Jörn Schulz nicht ohne Sarkasmus in der Jungle World: "Bush propagierte zur Rechtfertigung des Irak-Kriegs noch einmal jenen bürgerlichen Idealismus, der die Bourgeoisie einst zu einer revolutionären Kraft gemacht hatte. Die Antwort aus dem linken Mainstream auf seine Demokratisierungsrhetorik war nicht etwa eine Kritik der bür­ger­lichen Demokratie, sondern eine Mischung aus Ignoranz und Kulturalismus. Zwar unterstützt nur eine Minderheit den irakischen 'Widerstand', noch weniger Freunde haben die Taliban und al-Qaida. Doch wird unermüdlich behauptet, vor allem die Anwesenheit der US-Truppen störe den Frieden und ihr Abzug werde eine Einigung ermöglichen. Diese Einschätzung ist nicht nur naiv, sie lässt auch kein großes Interesse am Schicksal der dortigen Bevölkerung erkennen."

Ebenfalls in der Jungle World unterhält sich Bernhard Schmid mit der Turkologin Corry Guttstadt über das feige Verhalten der Türkei im Holocaust: "Von den türkischen Juden, die zum Beispiel in Berlin lebten, wurden viele ab 1938 ausgebürgert und dann 1941 als Staatenlose erste Opfer der Deportationen. Besonders fatal wirkte sich aus, dass Ankara die Ausbürgerungen zum Beispiel in Deutschland auf dem Wege der Amtshilfe durch die dortigen Behörden durchführen ließ. So richtete das türkische Konsulat in Berlin eine Aufforderung an die Ausländerpolizei, die türkischen Juden vorzuladen und ihnen die Pässe abzunehmen."

FR, 31.10.2008

Sylvia Staude ist schlichtweg begeistert von Leonard Cohens Konzert in Frankfurt: "Zwar ist sein schmales Gesicht mittlerweile gefurcht wie die Gesichter auf Totempfählen, doch ist seine Stimme nun die noch bessere Cohenlieder-Stimme: Flüssige Bitterschokolade mit fein gemahlenem Krokant. Er schickt sie nach unten und innen, fast immer steht er mit gebeugten Knien, gesenktem Kopf, geschlossenen Augen. Diese Musik braucht nicht zu wachsen und aufzublühen, ihr Reich ist die Dunkelheit, das Rätsel, die Pathetik, die Ironie."

"Das Letzte, was die Stadt im Augenblick braucht, ist das feierliche Zelebrieren des Luxus," bemerkt Sebastian Moll zum jüngsten New Yorker Event: "Aus diesem Grunde ist die Eröffnung eines von Zaha Hadid gestalteten Pavillon im Central Park, in dem der klassischen '2.55'-Handtasche von Chanel gehuldigt wird, nicht einfach nur schlechtes Timing."

Weitere Arikel: Elke Buhr ist gespannt, wie die neuen Direktoren der Berliner Museen, Udo Kittelmann und Michael Eissenhauer, künftig das "Hierarchie-Monster Staatliche Museen" angehen werden. Und Harry Nutt bilanziert, was deren Vorgänger Peter-Klaus Schuster und Klaus-Dieter Lehmann bewirkt haben. In der Times Mager schreibt Ina Hartwig über Knigge und Klaus Mann.

Besprochen werden eine Lesung mit Dieter Kühn und Schauspielerin Fritzi Haberlandt in Frankfurt, bei der Kühns Biografie von Gertrud Kolmar vorgestellt wurde, und ein Konzert-Abend von Moody Blues in Frankfurts Alter Oper.

Welt, 31.10.2008

Thomas Kielinger unterhält sich mit dem britischen Politiker, Arzt und Autor David Owen, der gerade ein Buch über das "Hybris-Syndrom" veröffentlicht hat, das er ernstlich als medizinisches Phänomen beschreibt. Seiner Meinung war Blair davon befallen, als er den Irak-Krieg vorbereitete: "Ich spüre einem Syndrom nach, das sich im Laufe langer Amtszeiten aufbaut, wenn der Betroffene die Ebene natürlicher Zuversicht in seine Fähigkeiten verlässt und sich äußerster Zuversicht, nicht mehr hinterfragt, hingibt. Wenn aus dem Zuhören ein Nicht-mehr-Zuhören wird, und aus der Usance, Rat einzuholen, die Überzeugung, dass man keinen Rat mehr braucht. Wie bei Margaret Thatcher nach ihrem dritten Wahlsieg 1987."

Weitere Artikel: Eckhard Fuhr zieht eine freundliche Bilanz des Wirkens Peter Klaus Schusters als Chef der Staatlichen Museen zu Berlin. Gabriele Walde bespricht die Koons- und Klee-Ausstellungen, die Schusters Amtszeit krönen. Manuel Brug verdrückt eine Träne für den Flughafen Tempelhof. Heimo Schwilk verfolgte eine mit Henryk Broder, Gloria von Thurn und Taxis und einem Wallfahrtsdirektor apart besetzte Podiumsdiskussion (sie handelte von Ingo Langners Hörbuchbiografie über Ratzinger). Sven Felix Kellerhoff besucht eine Luther-Ausstellung in Halle, die zeigt dass der Reformator aus einer wohlhabenden Familie stammte. Dankwart Guratzsch zeichnet Diskussionen der evangelischen Kirche um ungenutzte Kirchengebäude nach. Jeannette Neustadt stellt den Nachwuchsdramatiker des Jahres, Ewald Palmetshofer vor. Katharina Dockhorn berichtet, dass auf dem Flughafen Tempelhof künftig Filme gedreht werden sollen.

TAZ, 31.10.2008

Brigitte Werneburg verabschiedet den Generaldirektor der Staatlichen Museen in Berlin, Peter-Klaus Schuster. Freundliches kann sie sagen, erinnert aber auch an ein großes Debakel: "Schlechte Beratung führte dazu, dass Friedrich Christian Flicks Auftritt, zu seinen in vieler Hinsicht inakzeptablen und im Nachhinein auch samt und sonders revidierten Bedingungen, dann neue Maßstäbe in der Kunstdebatte setzte. Der feste Glaube, Kunst sei an sich ein unschlagbares Argument, gerade in diesem Fall, diese schöne Verblendung einer alles überstrahlenden und einigenden Macht der Kunst, verrät den Romantiker, der nicht wirklich politisch denkt und handelt."

Weiteres: Julian Weber unterhält sich mit der Band Deichkind über Verweigerung und ihr neues Album "Arbeit nervt". Neue House-Alben stellt Tim Caspar Boehme vor. Brigitte Werneburg schreibt außerdem zur Jeff-Koons-Ausstellung in der Berliner Nationalgalerie.

Auf der Meinungsseite stellt der in Princeton lehrende Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller fest, dass von den drei in den 70er Jahren aufgekommenen Strömungen - Neoliberalismus, Antikommunismus und politischem Islam -, nur die ersten beiden deutlich an Attraktivität verloren haben.

Und Tom.

Aus den Blogs, 31.10.2008

Richard Wagner gibt in der Achse des Guten Gregor Gysi recht (hier sein gestriger Artikel aus dem Tagesspiegel). Die DDR kann ja gar nicht antisemitisch gewesen sein: "Wenn der ehemalige SA-Mann und NSDAP-Partei-Genosse Günther Kertzscher in den Kommentaren des ND zu Israel als stellvertretender Chefredakteur den Ton angab, so war das natürlich keineswegs antisemitisch. Denn was antisemitisch war, und was nicht, wurde von der Partei, jeweils nach Interessenlage entschieden. Sie entscheidet es heute noch."

Tagesspiegel, 31.10.2008

Oder war die DDR doch antisemitisch? Michael Wolffsohn antwortet auf Gregor Gysi: "Hier einige Tatsachen: In den Jahren 1949 bis 1953 wurden DDR- und andere Ostblockjuden als Juden verfolgt. In der Sowjetunion, Ungarn und der Tschechoslowakei wurden manche sogar hingerichtet. Ihre eigentliche 'Straftat' war ihre jüdische Herkunft. Wie in anderen kommunistischen Staaten wurden in der DDR Anfang der 50er Jahre und 1967 (Israels Sechstagekrieg) regelrechte 'Judenlisten' angelegt. Kaum ein Zweifel besteht daran, dass es Deportationslisten sein sollten."

NZZ, 31.10.2008

Die Medienseiten feiern die Einführung der Computerwissenschaft an der ETH Zürich vor vierzig Jahren. Stefan Betschon betrachtet aus diesem Anlass die Technikfeindlichkeit, die in fast allen politischen Lager und geistigen Strömungen in Europa vorherrscht: "In der Schweiz und im europäischen Ausland engagierten sich linke Kreise noch während der 1980er Jahre im Kampf gegen die Informatisierung der Gesellschaft. Die Gewerkschaften riefen zur 'Maschinenstürmerei' auf, die Wochenzeitung (Woz) publizierte eine Anleitung, wie man mit klebrigen Flüssigkeiten, einer Nagelschere oder Aluschnipseln Computeranlagen sabotieren kann. Als die Woz Mitte der achtziger Jahre für die Setzerei selber Computer anschaffen wollte, gab es in der linken Szene einen Aufstand. In Kalifornien dagegen gehörte Computertechnik zur Kultur der progressiven Jugend wie Sex, Drugs und Rock'n'Roll."

Im Feuilleton versichert Carsten Krohn, dass die Temporäre Kunsthalle sehr gut auf den Berliner Schlossplatz passt: "Seit fast zwanzig Jahren werden auf dieser Brachfläche alle Arten von mobiler Architektur realisiert - von Zirkuszelten über Baucontainer bis hin zur Attrappe der Fassade des 1950 gesprengten Stadtschlosses." George Waser stellt Londons neues Kulturzentrum Kings Place vor, das ganz ohne Subventionen auskommen soll: Die Konzertsäle und Galerie befinden sich im Untergeschoss, darüber steht ein gigantischer Bürokomplex, der unter anderem an den Guardian vermietet wird. Andrea Köhler berichtet von der Debatte um Teenager-Schwangerschaften in den USA. "Trauer und Ironie, zwischen Trost und Sarkasmus" hat Ueli Bernays in Grace Jones' offenbar sehr gelungenem Comeback-Album "Hurricane" gefunden.

SZ, 31.10.2008

Über den Pianisten Alfred Brendel, der dieser Tage seinen Abschied von der Konzertbühne nimmt, schreibt Joachim Kaiser vorwiegend Hymnisches: "Als junger Künstler war Brendel noch über manche Schubertschen Harmonie-Wechsel, wie mir schien, hinweggebraust. Später aber begriff er den langsamen Satz der c-Moll Sonate als eine unendliche Folge immer zarterer, überraschenderer, leiserer Nuancen. Demonstrierte souverän auch die Herrlichkeit der großen A-Dur Sonate. Und fast noch erstaunlicher: Der späte Brendel, der Alt-Meister, nahm sogar das von russischen Schubert-Mystikern forcierte, überlangsame Tragifizieren melancholisch schlendernder Schubert-Andante-Sätze zurück! In diesem Weltbürger steckte halt unaustilgbar ein Wienerisches, diskretes Espressivo-Maß..." Andreas Dorschel hat sich mit Brendel unterhalten.

Weitere Artikel: Kai Strittmatter informiert über Zensureingriffe beim "Culturescapes"-Festival für türkische Kunst in zehn Schweizer Städten. Den Streit um Volker Loeschs - untersagte - Hamburger Millionärsverlesung schildert Till Briegleb. Der US-Autor Darryl Pinckney erklärt, warum die aktuelle Präsidentenwahl für ihn etwas Besonderes ist. Hans Schifferle gratuliert dem Filmemacher-Maverick Eckhart Schmidt, Willi Winkler "Deutschlands letztem Barockpoeten" Horst Tomayer zum Siebzigsten. Auf der Medienseite schreibt Tobias Moorstedt über das Fernsehen der Zukunft, das er bei StudiVZ gesehen hat - oder auch nicht.

Besprochen werden ein von Jürgen Kruse inszenierter "Don Juan" in Leipzig, die große Jeff-Koons-Ausstellung in Berlin, die Candice-Breitz-Ausstellung in der temporären Berliner "Kunsthalle", die Ausstellung "Fundsache Luther" in Halle und Bücher, darunter Stefan Merrill Blocks Roman "Wie ich mich einmal in alles verliebte" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 31.10.2008

Claus Lochbihler unterhält sich mit dem HipHop-Kritiker John McWhorter über HipHop, Hautfarben und Barack Obama. McWhorter gefällt an Obama gerade das, was ihn vom HipHop unterscheidet: "Obama denkt nach. Der Hip-Hop deklamiert nur und tut so, als ob wir noch die gleichen Probleme wie in den sechziger Jahren hätten. Obama ist kompromissfähig, kein Ideologe, das gefällt mir... Wir Obama-Anhänger, ob weiß oder schwarz, sollten uns eingestehen, dass wir ihn auch wegen seiner Hautfarbe unterstützen. Der Hauptgrund, weshalb sich das schwarze Amerika so sehr für Obama begeistert, hat damit zu tun, dass er ein 'brother' ist, und weniger mit seinen politischen Vorstellungen."

Weitere Artikel: Aus China berichtet Mark Siemons, dass die Politiker des Landes aus Interesse an der Erhaltung des weltpolitischen Gesamtsystems keineswegs mit Triumphalismus auf die Finanzkrise des Westens reagieren. Eine ganze Seite ist dem Wechsel an der Spitze der Generaldirektion der Staatlichen Museen zu Berlin gewidmet. Camilla Blechen schreibt zum Abschied des alten Direktors Peter-Klaus Schuster, Niklas Maak fragt sich nach der Zukunft der Berliner Museen und hat sich gemeinsam mit Julia Voss mit dem neuen Direktor Michael Eissenhauer über seine Pläne unterhalten. Vorsichtig freundlich äußert sich Timo John über einen architektonischen Entwurf, der die Stuttgarter Innenstadt beträchtlich verändern könnte. Den juristisch komplexen, jedenfalls komplizierten Fall des in Texas Anfang August - trotz Einspruchs von George W. Bush - hingerichteten Jose Ernesto Medellin beschreibt in vielen Einzelheiten Alexandra Kemmerer. Günter Gillessen freut sich, dass jetzt doch wieder ein Preis nach dem zum Nationalsozialismus aus eher aristokratischem Geist heraus oppositionellen Historiker Gerhard Ritter benannt wird.

Thomas Jansen stellt eine niederösterreichische Bibelübersetzung aus dem 14. Jahrhundert vor. Felicitas Hoppe berichtet aus ihrem Wettbüro von Washington vor der Wahl. Die Glosse widmet Edo Reents der Ankündigung, dass es in Zukunft in Rostock ein nach dem Schriftsteller benanntes "Kempowskiufer" geben wird. Grad nur so nicht ignorieren will Gerhard Stadelmeier das Skandälchen um Volker Loeschs Theater-Provokation, bei der nun gerichtlich die Verlesung der Namen von Hamburger Millionären untersagt wurde. Jürg Altwegg weist auf "Le cas Sonderberg" hin, das in Frankreich gerade erschienene neue Buch von Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel, in dem dieser "auf den Spuren Jonathan Littells" die Geschichte eines NS-Täters erzählt. Dem an Manieren reichen äthiopischen Prinzen Asfa-Wossen Asserate gratuliert Martin Mosebach zum Sechzigsten. Martin Thoemmes schreibt kurz zum Tod der Journalistin Katharina Christiansen, die die Tochter von Julius Leber war.

Besprochen werden ein Leonard-Cohen-Konzert in Frankfurt und Bücher, darunter Jose Manuel Prietos Roman "Rex" und ein kunsthistorischer Sammelband über "Lichtgefüge des 17. Jahrhunderts" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Gemeldet wird, dass der FAZ-Leseaal mit dem bayrischen Printmedienpreis ausgezeichnet wurde. (Haben sie ihn für die Jury ausgedruckt?)