03.11.2008. "Ritter Dene Voss" am Deutschen Theater haben's auch nicht rausgerissen. Die Welt ist enttäuscht über den Beginn der Theatersaison in Berlin. In der Welt Online erklärt Bettina Röhl die Politik der Haarfarben in Bernd Eichingers RAF-Film. Die Berliner Zeitung analysiert Barack Obamas Wahlkampf als ein perfektes Beispiel für modernes Branding. Im Guardian schreibt Don de Lillo über seine Liebe zum Kino.
Welt, 03.11.2008
Recht frustriert hat Matthias Heine die heiß erwarteten Premieren von "Ritter Dene Voss" in der Regie von
Oliver Reese am Deutschen Theater und "Anatol" in der Regie
Luk Percevals in der Schaubühne verlassen und
kommt am Ende seines Artikels zu folgendem Stoßseufzer: "Einmal werktreu bis zur Selbstaufgabe, einmal Regietheater. Doch weder das eine noch das andere rettet den so schwerfällig begonnen Berliner Theaterherbst:
Fünf Großbühnen haben noch keine Premiere zustande gebracht, die man getrost einem Freund empfehlen könnte. Die
Volksbühne dauerkriselt, das
Deutsche Theater verkraftet den renovierungsbedingten Ausfall seines großen Hauses nicht, das
Gorki produziert so viel, dass ihm kaum noch Zeit zum Denken und Hingucken bleibt, das
Berliner Ensemble suhlt sich in vermuffter Spießerzufriedenheit, und die
Schaubühne packt es auch nicht."
Weitere Artikel: Uwe Wittstock
verfolgte die Tagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung zum Thema
Migration und die Verleihung des Büchner-Preises an
Josef Winkler. Olga Kronsteiner
berichtet, dass der "Blaue Wittelbacher", ein Diamant, der aus dem Haus Wittelsbach in Privatbesitz geriet, am 10. Dezember bei
Christie's versteigert wird. Thomas Schmid
schreibt zum Tod des großen amerikanischen Journalisten
Studs Terkel. Besprochen werden eine
Ausstellung über Venedig in der Kunst in der Basler
Fondation Beyeler,
Ödön von Horvaths "Karoline" am Thalia Theater, ein
neues Album von the Cure und einige DVDs, darunter eine
Box mit dem Oeuvre von
Pedro Almodovar.
Ignes Ponto, die Witwe von
Jürgen Ponto, verklagt
Bernd Eichinger, weil er die Erschießung ihres Mannes in seinem RAF-Film inkorrekt gefilmt haben soll. Im
Interview mit Matthias Kamann für
Welt Online spricht
Bettina Röhl, Tochter von Ulrike Meinhof, auch über die angeblich aus juristischen Gründen falsche Haarfarbe der Ponto-Darstellerin in der Szene: "Auch meine Schwester und ich sind in der Eröffnungsszene des Films und wo wir sonst noch vorkommen, von zwei blonden in zwei
dunkelhaarige Mädchen verwandelt worden. Eichingers Juristen haben diese Maßnahme meiner Schwester gegenüber, die in dem Film überhaupt kein Bild von sich sehen möchte, so begründet, dass uns jetzt niemand mehr als Töchter von Ulrike Meinhof erkennen könnte, was natürlich ein
Riesenquatsch ist."
Berliner Zeitung, 03.11.2008
Was wissen wir über
Obama? Nichts! Und das ist gewollt,
meint der in Berlin lebende amerikanische
Publizist Steve Kettmann, der Obamas Wahlkampf als perfektes Beispiel für
Branding analysiert: "In der Obama-Kampagne ging es niemals darum, dass die Öffentlichkeit den Kandidaten als Kandidaten - oder gar als 'Mensch' - kennen lernen sollte. Sie sollte lediglich
das Gefühl erhalten, dass sie ihn kennt. Von Anfang an hat Obama diese Technik des
Unbestimmt-Bleibens hervorragend genutzt; dank ihrer ist es ihm schließlich gelungen, sich zur perfekten Projektionsfläche zu machen: Er hat den Leuten erlaubt, auf ihn zu projizieren, was immer sie wollen."
Aus den Blogs, 03.11.2008
Via
Gawker.
Time Inc., der größte Zeitschriftenverlag der Welt, entlässt in den nächsten zwei Wochen
sechshundert seiner insgesamt 10.200 Mitarbeiter, wie die
New York Times letzte Woche
meldete.
Entlassungen soll es außerdem geben bei den Magazinen Portfolio, Us, Rolling Stone und Men's Journal. Und der
New York Times Company geht es finanziell so schlecht, dass sie about.com verkaufen will.
Gawker hat auch das "
Anti-Amerika"-Heft des
Spiegels gelesen. "Das antiamerikanische Schlachtfest beginnt mit einem wütenden Uncle Sam und fragt einschlägige Fragen wie 'Kann Condoleezza Rice sich von Bush emanzipieren?' und 'Wann wird Amerika zusammenbrechen?' Die deutsche Vision von Amerika ist die von einem
rassistischen,
bankrotten Land. Und sie fürchten sich nicht, uns für tot zu erklären." Die Leserkommentare sind
saftig!
Weitere Medien, 03.11.2008
Via
Arts & Letters Daily. In
Atlantic Monthly stellt Benjamin Schwarz
"Have You Seen ??" vor, ein Buch des in San Francisco lebenden englischen
Filmkritikers David Thomson. Thomson ist auch Autor von "
'Biographical Dictionary of Film', erstmals veröffentlicht 1975 und in seinen verschiedenen Ausgaben das verführerischste, ärgerlichste und einflussreichste Referenzbuch, das je zum Film geschrieben wurde." Thomsons neues Buch, dessen Schwerpunkt auf Filmen aus den 30ern, 40ern und 50ern liegt, ist hoffnungslos nostalgisch, wie der Autor selbst befürchtet und Schwarz zustimmt. "Es ist nostalgisch für eine Zeit, in der der Westen so etwas wie eine Form der Massenkultur hatte, wenn auch eine, die definiert war durch eine Mischung aus Bestreben, fehlgeschlagenen Anstrengungen und Kompromissen. Es ist nostalgisch für eine Zeit, sehr lange her, bevor '
Krieg der Sterne' - 'die Linie im Sand, das verhängnisvolle Ereignis', wie Thomson richtig sagt - das amerikanische Kino in ein Anhängsel der
Videospiele-Industrie verwandelte. ... Warum sich mit der Frage quälen, wie er das hier tut, 'ob Filme möglicherweise als Museumsstücke enden werden?' Das sind sie schon."
Dann muss sich
Don de Lillo auch schon wie ein Museumsstück fühlen. Er
schreibt im
Guardian über
"Wanda", den 1970 gedrehten ersten und einzigen Film von
Barbara Loden. "Wenn ich mit Schriftstellern zusammenkomme, die ich kenne, sprechen wir nicht über Bücher. Wir sprechen über Filme. Das tun wir nicht, weil wir Mechanismen des Romans in bestimmten Filmen, den Werken von Kieslowski bis Malick erkennen, sondern weil Film unser
zweites Selbst ist, eine mächtige erzählerische Kraft in der Kultur, ein Aspekt des Bewusstseins der auf einem bestimmten Level mit dem Schlaf und Träumen verknüpft ist, so wie der Roman mit der Schufterei des bewussten Lebens."
In
Portfolio porträtiert David Kushner den
online-Poker-Star Annette Obrestad, eine pausbäckige 20-jährige Norwegerin, die bereits über drei Millionen Dollar beim Pokern gewonnen hat.
NZZ, 03.11.2008
Sören Urbansky schickt Eindrücke aus dem
sibirischen Tschita nahe der chinesischen Grenze. "
Tschita, das ist eine Chiffre der neunziger Jahre, für wirtschaftlichen wie sozialen Ausnahmezustand, für
Kriminalität und Chaos in jener düsteren Dekade. In Krasnokamensk, im Osten der Provinz, ein paar hundert Kilometer hinter Tschita und ein paar Kilometer vor China, sitzt
Michail Chodorkowski ein. Vor Gericht wird Russlands wohl prominentester politischer Häftling nur noch in Tschita gehört - hinter dicken Gitterstäben. Das Grüppchen Demonstranten, das sich im August zu einer Verhandlung eingefunden hatte, verscheuchte ein Gewitter. Die Männer in Zivil brauchten gar nicht auszurücken."
Weiteres: Der Freiburger Politikwissenschaftler Wolfgang Jäger
betrachtet das Amt des amerikanischen
Vizepräsidenten, über dessen Bedeutungslosigkeit bereits John Adams und Benjamin Franklin gespottet haben. "Schwer zu goutieren"
fand Joachim Güntner die Dankesrede des frisch gekürten Büchnerpreisträgers
Josef Winkler, ist der der Migrationsliteratur gewidmeten Tagung der Deutschen Akademie ansonsten aber mit Interesse gefolgt. Andrea Köhler
schreibt den Nachruf auf den
Guerilla-Journalisten und "Arbeiter am Gedächtnis der Menschheit",
Studs Terkel.
Besprochen werden Matthias Fontheims
Inszenierung von Max Frischs "Andorra" am Schauspielhaus Zürich und das
Musical "Hair" in Basel.
TAZ, 03.11.2008
Der Musiker
Ted Gaier von den
Goldenen Zitronen unterhält sich mit der afro-amerikanischen
Künstlerin Ursula Rucker über Barack Obama und die immer näher rückende Möglichkeit eines schwarzen Präsidenten: "Ich bin eine Pessimistin. Redet miteinander, toleriert euch - das klingt nach
Hippie-Talk. Da wäre erst noch viel Basisarbeit zu leisten. Es beginnt nicht mit einem schwarzen Mann als US-Präsidenten. Es ist nicht so, dass sich plötzlich alle in diesem rassistischen Land sagen: Ich habe mich verändert, ich bin erleuchtet. Ich gehe jetzt runter und baue das
brennende Holzkreuz auf dem Gelände meines schwarzen Nachbarn wieder ab. Das wird nicht passieren. Wenn ich in Downtown Philadelphia einkaufen gehe, in einem Laden, wo normalerweise keine Schwarzen sind, was meinst du, wie ich und meine Kinder beobachtet werden? Niemand wird das ändern. Genauso wenig, dass diese Typen in meiner Nachbarschaft rumhängen und ihr Gift verkaufen."
Besprochen werden Volker Löschs "zornige"
Inszenierung von "Marat, was ist aus unserer Revolution geworden" in Hamburg und
Alice Coopers Autobiografie "Golf Monster".
Auf den Tagesthemen-Seiten
schreibt Andreas Schäfler einen großen Nachruf auf
Studs Terkel, den
Mann, der Amerika interviewt: "'
Dig a little deeper', nach einer Gospelsong-Zeile, war und blieb der Leitsatz für Terkels Arbeitsverfahren, während sich als sein eigenes Lebensmotto längst 'I tape therefore I am' durchgesetzt hatte. Als drittes Bonmot - und als Terkels Wunschgrabinschrift - etablierte sich '
Curiosity did not kill this cat'."
Und noch
Tom.
FR, 03.11.2008
"Vorkommnisse gab es heuer keine", die Feierstunde verlief "
temperamentlos",
berichtet Ina Hartwig aus dem Darmstädter Staatstheater, wo der Büchnerpreis an
Josef Winkler, der Heinrich-Merck-Preis für Kritik und Essay an
Lothar Müller sowie der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa an
Michael Hagner verliehen wurde. Rudolf Walther
schreibt zum Tod des Reporters
Studs Terkel. Julia Kospach
war bei der Gedenkfeier für den Germanisten
Wendelin Schmidt-Dengler an der Universität Wien. In Times Mager
beschreibt Hans-Jürgen Linke die verheerenden Folgen des französischen
Werbeverbots für Wein - das jetzt auch aufs Internet ausgedehnt werden soll - in französischen Orten mit Namen wie Collioure und Bordeaux, Beaune und Macon, Banyuls, Cahors und Bergerac.
Besprochen werden
Burkhard C. Kosminskis Inszenierung von Tracy Letts' "Eine Familie" in Mannheim und
Konzerte beim 39. Deutschen
Jazzfestival in Frankfurt.
FAZ, 03.11.2008
Nicht nur höchstes Niveau hat Oliver Jungen bei der diesjährigen Tagung der
Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (
Website) erlebt: "Applaus bekam Neumitglied
Jens Malte Fischer, Münchener Kulturwissenschaftler, für den es - arg prätentiös - die Hölle auf Erden bedeutet, 'im
Interschrott zu schlurfen' oder 'sich von
Fuzzypedia belehren zu lassen'. Gerne goutiert man in diesem Kreis Durchhalteparolen aus dem E-Book-Krieg: 'Vom Kollaborieren zum Kollabieren sind es nur zwei Buchstaben.' Doch wird man damit in der Welt da draußen noch gehört?" Nein.
Weitere Artikel: In der Glosse
feiert Lorenz Jäger die
dünnen Bücher des Herbstes, über denen man die dicken für die Ewigkeit aber nicht vergessen sollte. Vom deutschen
Jazzfestival, bei dem es vor allem Gelungenes gab,
berichtet Wolfgang Sandner. Erwin Seitz schilder, wie das fränkische
Schweinfurt die eigene Schönheit entdeckt. In Felicitas Hoppes Washingtoner
Wettbüro-Bericht geht es heute unter anderem um die Wahl der Tiere. Dirk Schümer spekuliert über die Gründe für die plötzliche Abberufung der Bozener
Museions-Direktorin
Corinne Diserens, die den Kippenbergerschen Frosch am Kreuz in ihrem Haus somit nur um ein Weniges überlebte. Wie man sich als
Muslim im Weltraum verhält, hat Nils Fischer vom früheren Kosmonauten Abdulahad Momand erfahren. Irene Bazinger war dabei, als sich der Religionsphilosoph
Klaus Heinrich und der Komponist
Dieter Schnebel in Berlin zum "unglücklichen Aufguss" trafen. Jordan Mejias
schreibt zum Tod des Oral-History-
Autors Studs Terkel und hat auch den kurzen Nachruf auf den Maler und Schriftsteller
William Wharton verfasst, der mit dem erfolgreich verfilmten Roman "Birdy" bekannt wurde. Auf der Medienseite
erzählt Thomas Thiel, wie
Sarah Palin das telefonische Schicksal der Andrea Ypsilanti zu teilen lernte.
Besprochen werden die Berliner Inszenierung von Thomas Bernhards "
Ritter, Dene, Voss" mit Becker, Zilcher, Matthes, Burkhard Kosminskis Inszenierung von
Tracy Letts' Broadway-Stück "Eine Familie" und Bücher, darunter zwei Bände mit Erzählungen von
D.H. Lawrence (mehr dazu in der
Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).
SZ, 03.11.2008
Andreas Zielcke bezweifelt, dass der
Weltfinanzgipfel Mitte November den Kapitalmarkt wird regulieren können. Zwei
Frauenporträts galten mal als
echte van Goghs, dann wieder nicht und jetzt wieder schon, berichtet Stefan Koldehoff. In der
NYRB-Serie zum amerikanischen Wahlkampf schreibt
Joan Didion über alles, was im Wahlkampf (fast) nie angesprochen wurde (hier die
englische Fassung).
Fareed Zakaria, Chefredakteur von
Newsweek, spricht im Interview über Amerikas Fixierungen, Ängste und seine
Chancen nach den Wahlen. Holger Liebs war bei der Abschiedsfeier für den Generaldirektor der Staatlichen Berliner Museen,
Peter-Klaus Schuster. Volker Breidecker saß bei der Verleihung des Bücherpreises an
Josef Winkler. Andrian Kreye schreibt zum Tod
Studs Terkels.
Besprochen werden DVDs mit Opernfilmen, ein Konzert mit Christian Thielemann, Gidon Kremer und Marie-Elisabeth Hecker bei den
Philharmonikern in München,
Luc Percevals Inszenierung von Schnitzlers "Anatol" und
Oliver Reeses Inszenierung von Bernhards "Ritter, Dene, Voss" sowie Bücher, darunter
Gerhard Seyfrieds Liebesroman "Gelber Wind oder Der Aufstand der Boxer" (mehr in unserer
Bücherschau heute ab 14 Uhr).