Heute in den Feuilletons

Nur Gebetsbücher mit Litaneien

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.11.2008. Elf weltbekannte Autoren, darunter J.M. Coetzee, Salman Rushdie, Jorge Semprun, Gabriel Garcia Marquez bekennen in Le Monde ihre Solidarität mit Milan Kundera. Auch Richard Wagner kommentiert die Kundera-Affäre in der Achse des Guten: "Besser wäre es, er würde reden." In der FAZ kritisiert die chinesische Dissidentin Qinglian He den chinesischen Onlinedienst der Deutschen Welle. In der Welt erinnert Wolf Lepenies an den amerikanischen Publizisten Randolph Bourne.

Weitere Medien, 04.11.2008

Elf weltbekannte Schriftsteller, darunter vier Literatur-Nobelpreisträger, haben in einem Brief ihre Unterstützung für den tschechischen Autor Milan Kundera bekundet, der beschuldigt wird, einen Landsmann 1950 an das stalinistische Regime verraten zu haben. Der Verratene, Miroslav Dvoracek (mehr hier), wird nicht mit einem Wort erwähnt. In dem Schreiben, das Le Monde (mit Verweis auf die Webseite BibliObs) im Wortlaut zitiert, heißt es, dass "auf zumindest zweifelhafter Grundlage die Ehre eines der größten lebenden Romanciers beschmutzt" werde. "Wir bringen hiermit unsere Entrüstung über diese Verleumdungskampagne zum Ausdruck und betonen unsere Solidarität mit Milan Kundera." Unterzeichnet wurde der Brief von John M. Coetzee (Nobelpreis), Jean Daniel, Carlos Fuentes, Gabriel Garcia Marquez (Nobelpreis), Nadine Gordimer (Nobelpreis), Juan Goytisolo, Pierre Mertens, Orhan Pamuk (Nobelpreis), Philip Roth, Salman Rushdie und Jorge Semprun. (Hier der ganze Brief in der deutschen Übersetzung).

In der Zeitung Pravo (www.pravo.cz) berichtet der Schriftsteller Petr Prouza von einem Besuch bei Kundera, der anders als angedroht, doch nicht gegen das tschechische Magazin Respekt klagen wolle. Kundera sei "nicht mehr 60 oder 70, seine Zeit ist knapp bemessen und er möchte (lieber) noch einen großen Roman schreiben".

FR, 04.11.2008

Im Interview mit Sam Tanenhaus bekundet John Updike seine Sympathie für Barack Obama. Auch der südafrikanische Krimiautor Deon Meyer wird interviewt und äußert sich gegenüber Sylvia Staude optimistisch über die Zukunft seines Landes: "Unsere Kriminalitätsrate wird stark übertrieben, und unsere politische Situation ist typisch für eine junge, dynamische, lebhafte und starke Demokratie." In times mager bedauert Arno Widmann, dass er seine Mutter nicht früher nach dem Schicksal ihrer jüdischen Bekannten fragte - nun stellt sich heraus, dass sie dem Holocaust keineswegs entrinnen konnten, wie sie immer behauptete, aber die Mutter ist 88 und kann sich der Vergangenheit nicht mehr stellen. Christian Thomas stellt klar, dass "das amerikanische Sendungsbewusstsein und wohlinformierte Ignoranz nicht allein die acht Jahre, in denen George W. Bush regierte, kennzeichnen" und auch gleich dass diese Einsicht nicht unter das "wohlfeile Verdikt des Antiamerikanismus" fällt.

Besprochen werde  Oliver Reeses Inszenierung von Thomas Bernhards "Ritter, Dene, Voss" am Deutschen Theater in Berlin und der neue James-Bond-Film.

NZZ, 04.11.2008

Joachim Güntner vernimmt mit Unbehagen, wie billig Google schon wieder im Streit mit den amerikanischen Verlagen um sein Book-Search-Projekt davon gekommen ist. "Zu Klagen vor Gericht kam es, weil Google geschützte Bücher auch ohne Einholung der Rechte im Netz verbreitete und meinte, es genüge, wenn man die Verbreitung erst dann sein lasse, wenn der Inhaber des Copyrights protestiere. Google, so ließe sich pointieren, minimierte also das Urheberrecht zum nachträglichen Einspruchsrecht." Dafür muss Google jetzt die Kosten zur Schaffung eines Buchrechte-Registers übernehmen.

Aldo Keel berichtet, wie die Finnen gerade ihr Selbstbild revidieren müssten, sie hätten im Zweiten Weltkrieg eigenständig und sauber gegen die sowjetischen Invasoren gekämpft und nur technische Hilfe von Nazi-Deutschland angenommen: "Als Sensation gewertet wird Oula Silvennoinens Entdeckung eines bisher unbekannten 'Einsatzkommandos Finnland', das im nördlichen Karelien Massenexekutionen jüdischer und kommunistischer Kriegsgefangener durchführte. Dieses Sonderkommando baute auf die Zusammenarbeit der Gestapo mit der finnischen Sicherheitspolizei Valpo, die durch freundschaftliche Bande zwischen der Nummer zwei der Valpo Aaltonen und Gestapochef Heinrich Müller angebahnt wurde. Nicht mehr ermitteln lässt sich die Zahl der Exekutionen."

Weiteres: Sieglinde Geisel meldet, dass Berlin nun in einer Gedenkstätte "Stille Helden" ehrt: Helfer von Juden in Nazideutschland. Von Klaus Merz ist die Geschichte "Der Argentinier" zu lesen.

Besprochen werden Maazels Aufführung von Wagners "Parsifal" in Valencia, Eliot Weinbergers Essay "Das Wesentliche", ein Handbuch zu Foucault und Edmund Arens' Studie "Gottesverständigung" (mehr ab 14 Uhr in der Bücherschau des Tages).

Aus den Blogs, 04.11.2008

Richard Wagner kommentiert in der Achse des Guten die Kundera-Affäre: "Möglich, dass die Freunde dachten, sie könnten sich nur durch eine Denunziation retten. Damit aber wären sie Kollaborateure, und vielleicht ist das auch der Grund, warum Kundera schweigt. Besser wäre es, er würde reden. Man käme damit in der Aufklärung dieser tragischen Geschichte weiter, und auch in der Veranschaulichung des alltäglichen Lebens unter den Bedingungen des Totalitarismus. Auch das wäre hilfreich, angesichts der zunehmenden Verharmlosung der kommunistischen Vergangenheit, knapp zwanzig Jahre später."

Don Alphonso kommentiert ein neuerliches Bloggerbashing in sueddeutsche.de so: "Die Süddeutsche ist Marktführer für Arroganz einerseits und das mieseste Onlineportal einer Qualitätszeitung andererseits." Nicht mal die Quelle ihrer Information habe sie genannt: die International Herald Tribune.

Tagesspiegel, 04.11.2008

Paul Auster drückt im Gespräch mit Denis Scheck die Daumen: "Im Grunde spricht alles für einen Erdrutschsieg der Demokraten."
Stichwörter: Auster, Paul, Scheck, Denis

Standard, 04.11.2008

Der Standard dokumentiert Josef Winklers Büchner-Preisrede: "Es gab in diesem, im Winter tiefverschneiten, kreuzförmig gebauten Kärntner Dorf Kamering, in dem ich geboren wurde und aufgewachsen bin und das im Jahre 1897 an einem windigen Spätsommertag nach der Heuernte von zündelnden Kindern zur Gänze eingeäschert und danach wieder kreuzförmig aufgebaut worden war, keine Romane zu lesen, keine Bibel, nur Gebetsbücher mit Litaneien."
Stichwörter: Standard

Welt, 04.11.2008

Wolf Lepenies erinnert an den amerikanischen Publizisten Randolph Bourne, der bereits zur Zeit des Ersten Weltkriegs ein "Trans-National-America" ansagte, dessen Buntheit Amerika zur Globalisierung befähigt. "Charakteristisch für die Assimilation der nationalen Einwanderergruppen war .. ein Paradox: Während die Immigranten sichtbar und begeistert zu Amerikanern wurden, blieben sie mit gleicher Begeisterung Deutsche und Skandinavier, Böhmen und Polen. Zu Unrecht, schrieb Bourne, sahen viele Beobachter darin nicht nur ein Misslingen der Amerikanisierung, sondern auch ein Scheitern der Demokratie. Den 'Englisch-Amerikanischen Konservatismus', der in dieser Klage zum Ausdruck kam, nannte Bourne das Haupthindernis für den künftigen Fortschritt Amerikas und für die Wahrung seiner Führungsrolle in der Welt."

Weitere Artikel: Hanns-Georg Rodek durchforstet die amerikanische Filmgeschichte nach schwarzen Präsidenten. Rolf Schneider kritisiert die Reaktion des Aufbau-Verlags auf Enthüllungen über Erwin Strittmatters Wehrmacht- und SS-Vergangenheit. Manuel Brug schreibt zum Tod der peruanischen Sängerin Yma Sumac. Kai Hinrich Renner verfolgte ein Potsdamer Kolloquium über die Zukunft des Qualitätsjournalismus im Internetzeitalter - der nach Ansicht von Medienwissenschaftlern nicht ohne Subventionen irgendeiner Art überleben kann. Günter Agde verfolgte das Dokfilmfestival in Leipzig.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Schriftstellerfotografien von Isolde Ohlbaum in München und Lothar Machtans Studie "Die Abdankung" über den ruhmlosen Abschied der deutschen Fürstendynastien nach dem Ersten Weltkrieg.

TAZ, 04.11.2008

Auf den vorderen Seiten ist Barack Obama so gut wie gewählt. Von Deniz Yücel gibt es eine Handreichung all der Soulhits, die unbedingt auf den Wahlparties laufen müssen: Von den Pointer Sisters ("Oh yes we can") bis Marvin Gaye ("War is not the Answer").

Manfred Krug plaudert im Gespräch mit Corinna Stegemann über seinen neuen Erzählungsband "Schweinegezadder", über das Lesen, Weißpunktkugelfische und die DDR: "Die DDR war ja leider unangenehm durch ihre Staatsform. Nicht in Bausch und Bogen, aber ein System, das Freundschaften auseinanderbringen kann, einfach dadurch, dass der eine ein Spitzel ist und der andere nicht - das nervt."

Weiteres: Detlef Kuhlbrodt resümiert das zu Ende gegangene Festival für Dokumentar- und Animationsfilm in Leipzig. Kathrin Bettina Müller berichtet vom Festival Fressen oder Fliegen im Berliner HAU-Theater, das das "Tändeln und Pendeln zwischen Theater, bildender Kunst, Film und Performance" verfolgt. Eine neue Bescheidenheit hat Brigitte Werneburg beim Art Forum in Berlin bemerkt. Robert Misik wundert sich über die Unentschlossenheit von noch immer zehn Millionen Amerikanern. Andreas Fanizadeh kommentiert das Hessen-Debakel.

Und noch Tom.

SZ, 04.11.2008

Der Komponist Philip Glass erzählt im Interview, welchen Schock seine - tonale! - Musik bei Avantgardisten wie Elliot Carter, George Crumb und John Cage auslöste, und wie er überhaupt dazu fand: "Zwei Menschen waren dafür sehr wichtig. Meine Lehrerin Nadia Boulanger, die Aaron Copland unterrichtet hat, Virgil Thomason, Leonard Bernstein. Und Ravi Shankar, für den ich als Assistent gearbeitet habe. Das war Mitte der sechziger Jahre in Paris. Boulanger veranstaltete damals diese Konzertreihen. Stockhausen war da, Maurizio Kagel. Morton Feldman und John Cage gehörten zu den wenigen Amerikanern, die bei diesen Konzerten akzeptiert wurden. Meiner Generation wurde nachgesagt, dass wir Musik weder lesen noch schreiben konnten. Ich habe dann auch mit Samuel Beckett gearbeitet. Gleichzeitig habe ich für Ravi Shankar gearbeitet und seine Musik für eine Filmmusik notiert. Und irgendwie zwischen Boulanger und Beckett und Shankar habe ich meine Sprache gefunden. Kurz darauf ging ich nach New York, dort traf ich Robert Wilson. Die großen musikalischen Innovationen wurden immer im Theater vollzogen, denken Sie an Monteverdi, Mozart, Wagner. Die Anforderungen des Theaters zwingen Komponisten zur Innovation."

Weiteres: Die Feuilletonredaktion erklärt auf vier Seiten, warum sie die USA liebt. Andrian Kreye liebt die amerikanische Kultur, weil sie so unbefangen zwischen gut und schlecht und nicht zwischen hoch und niedrig unterscheidet. Gerhard Matzig liebt die geistige Beweglichkeit und Dynamik der Amerikaner, die sich jetzt sogar in Öko-Pragmatiker verwandeln. Jörg Häntzschel besucht den amerikanischen Fotografen William Eggleston in Memphis. Willy Winkler liebt Bob Dylan. Jonathan Fischer liebt Country. Alex Rühle gibt den Spielverderber und sagt der - noch - vorzüglichen amerikanischen Forschung den Niedergang voraus. Jens-Christian Rabe liebt amerikanisches Fernsehen, das das Kino als "Ort der maßgeblichen Gegenwartserzählungen" abgelöst hat. Ijoma Mangold liebt den amerikanischen Glauben "an Addition, an das unendliche Nebeneinander, während die europäische Distinktionskultur über Ausschluss funktioniert". Burkhard Müller liebt die amerikanische Natur, Petra Steinberger die vorzüglichen Magazine, und Georg Diez liebt die Schriftsteller, vor allem George Saunders, Miranda July und David Foster Wallace.

FAZ, 04.11.2008

Auf der Medienseite findet sich ein Gespräch mit der in den USA lebenden chinesischen Dissidentin Qinglian He (mehr), in dem diese die Idee zurückweist, die Pressefreiheit in ihrer Heimat nehme zu. Qinglian He war bis 2005 Kommentatorin bei der Deutschen Welle in China, verlor diesen Auftrag aber - auf Druck des Propagandaministeriums, wie sie glaubt. Zur chinesischen Website der Deutschen Welle meint sie: "Sobald ein Gegenstand die sensiblen politischen Bereiche berührt, tendieren die chinesischen Internetseiten der Deutschen Welle dazu, das Regime zu verteidigen, ausgleichende Texte oder Meinungsstücke fehlen. Hinzu kommt, dass die Redakteure selten nach Fehlern der chinesischen Regierung fragen. Gelegentlich übernehmen sie sogar offizielle chinesische Propaganda als erwiesene Geschichten." Sabine Pamperrien berichtet in einem zum Dossier gehörigen Artikel, dass der Intendant der Deutschen Welle, Erik Bettermann, vom Bundestag zum Rapport einbestellt wurde.

Beunruhigende wissenschaftliche Ergebnisse hat Jordan Mejias zur Frage zu vermelden, was "echte" Amerikaner sind: "Wer oder was echt amerikanisch ist, sollte durch Versuche auch an der University of Chicago und San Diego State University ergründet werden. Studenten, die an den aufs Unterbewusstsein gerichteten 'implicit association tests' teilnahmen, hatten ihre liebe Mühe, einen Kandidaten schwarzer Hautfarbe als durch und durch amerikanisch zu empfinden. Barack Obama war ihrem Unterbewusstsein nach weniger amerikanisch als Tony Blair. Und anscheinend ist das keine Wahrnehmung, die nur weißen Amerikanern eigen ist. Von Latinos und asienstämmigen Amerikanern liegen vergleichbare Testergebnisse vor." (Lieber Himmel, man stelle sich die Ergebnisse einer solchen Untersuchung in Deutschland vor!)

Weitere Artikel: Die spanische Immobilienkrise und die keineswegs angemessenen Reaktionen der Politiker schildert Paul Ingendaay. In Felicitas Hoppes Washingtoner Wettbüro wird die Zeit knapp. In der Glosse muss Gina Thomas den Erfolg einer Werbeaktion konstatieren, die in London und darüber hinaus auf Bussen und anderswo Plakate mit der frohen Botschaft klebt, dass es beruhigenderweise "wahrscheinlich" keinen Gott gibt. Von einer Veranstaltung an der Frankfurter Universität, mit der Ruth Klügers Berufung auf eine Gastprofessur der Universität Tel Aviv begangen wurde, berichtet Florian Balke. Über einen spektakulären kulturwissenschaftlichen Campus, der gerade auf der venezianischen Insel San Giorgio eingerichtet wird, berichtet Dirk Schümer. Jan Wiele wird vielen "Led Zeppelin"-Fans keine Freude machen mit der Nachricht, dass Robert Plant nach dem einmaligen Wiedervereinigungskonzert mit seiner alten Band nichts mehr zu tun haben will. Dieter Bartetzko schreibt zum Tod der peruanischen Sängerin Yma Sumac. Auf der Forschung- und Lehre-Seite referiert Milos Vec juristische Literatur zur Frage der umstrittenen Bewertungsportale im Internet. Auf der Medienseite erzählt Michael Hanfeld, wie es kam, dass eine geplante deutsch-türkische Zusammenarbeit bei der Sendung "Kulturzeit" platzte.

Besprochen werden Jens-Daniel Herzogs "Meistersinger"-Inszenierung in Mannheim, Luc Percevals "Mogelpackung"-Version - so eine empörte Irene Bazinger - von Schnitzlers "Anatol", eine Inszenierung von Hans-Werner Henzes Konzertoper "Phaedra" in Heidelberg, die Ausstellung "Rasna. Die Etrusker" in Bonn, zwei endlich auf CD greifbare Puccini-Opern-Mitschnitte mit Jussi Björling und Amy Blooms Roman "Die unglaubliche Reise der Lillian Leyb" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).