Heute in den Feuilletons

Cayenne, Dreyfus, Chauvinismus

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.11.2008. Nun stellt sich heraus: Marx' "Kapital" ist ein Kunstwerk, zumindest in der Verfilmung von Alexander Kluge, finden SZ und taz. Die Welt findet, dass die Nobelpreisträger durch ihren "Blankoscheck" für Kundera eine Debatte über den Stalinismus in Osteuropa verhindern. In der FAZ zeigt sich Jürgen Dollase entsetzt über Ferran Adria, der meint, dass er für dasselbe Geld auch keine besseren Hamburger machen kann als McDonald's.

NZZ, 12.11.2008

Marc Zitzmann stellt das Theatre de la Commune in der Pariser Banlieue Aubervilliers vor, dessen Leiter Didier Bezace er für fast so gut hält wie Peter Brook. "Bezace ist ein Humanist, sein Theater engagiert, aber ohne Militantismus - es spricht Kopf und Herz der Zuschauer an, nicht ihren Bauch. Nach jedem Besuch fühlt man sich leichter und größer."

Weiteres: Joachim Güntner mokiert sich über die "große Rührung", von der er meint, dass die Deutschen nach Barack Obamas Wahlsieg befallen wurden. Besprochen werden eine große Schau mit Werken von Andrea Mantegna im Louvre, ein "Wozzeck" von Alban Berg in der Bayerischen Staatsoper München (bei dem Peter Hagmann nur Kent Naganos französisch-impressionistische Wärme überzeugt hat) und Bücher, darunter Peter Orners Roman "Die Wiederkehr der Mavala Shikongo", Zora del Buonos Debüt "Canitz' Verlangen" sowie Wolfgang Schmales Geschichte der europäischen Identität (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FR, 12.11.2008

Christian Schlüter liest ein Buch des Erzbischofs Reinhard Marx mit dem originellen Titel "Das Kapital". Hans-Jürgen Linke erklärt in Times mager, was es mit Schallschutzschirmen (als Wort ein durchaus unschönes Klangereignis!) in Orchestergräben auf sich hat. Arno Widmann unterhält sich mit dem Frankfurter Opernintendanten Bernd Loebe, der die oft jahrelange Vorplanung von Opernereignissen so erklärt: "Es sind Termingeschäfte. Aber nicht mit toten Schweinebäuchen, sondern mit lebenden Menschen." Gemeldet wird, dass die wegen mancher Inkompetenz ins Gerede geratene Nobelpreiskommission die Autoren Roberto Saviano und Salman Rushdie zu einem Gespräch über Meinungsfreiheit nach Stockholm einlädt. Besprochen wird die Uraufführung von Franz Hummels Oper "Der Richter und sein Henker" nach Dürrenmatt.

Welt, 12.11.2008

Hans-Jörg Schmidt berichtet über die jüngsten Entwicklungen in der Sache Kundera und meint: "Kundera wird auf die neuen Vorwürfe vermutlich nicht antworten. Er hat die Sache für sich abgehakt, will Respekt und die Prager Gauck-Behörde auch nicht mehr vor Gericht zerren, wie er anfangs angedroht hatte. Lieber schreibe er noch einen großen Roman, der kommerziell Erfolg verspreche. Ohnehin weiß er sich nicht allein. Man denke nur an die elf wohlfeilen Autoren aus aller Welt, die Kundera - etwas ahnungslos - zur Seite sprangen. Autoren, die teilweise selbst unter Diktaturen zu leiden hatten, und die es mit ihrem Blanko-Scheck verpasst haben, in Tschechien und ganz Mittel-Osteuropa die notwendige Debatte über den Stalinismus zu befördern."

"Ab morgen ist eine große Entdeckung zu machen im Kino", verkündet Peter Zander und stellt die Schauspielerin Karoline Herfurth vor: "In 'Im Winter ein Jahr' kann man sich ein Bild von ihr machen. Buchstäblich. Denn im Film wird auch ein Gemälde von ihr entworfen. Das hat es seit Jacques Rivettes 'Die schöne Querulantin' nicht mehr gegeben, dass wir den Großteil des Films einem Maler beim Handwerk zuschauen. Wobei das Modell hier mit dem Maler spielt, ihm etwas vormacht, was ihn zur Verzweiflung bringt, weil irgendetwas nicht stimmt in seinem Bild. Bis am Ende der Knoten platzt. Bis hinter der scheinbar längst Erwachsenen noch ein sehr verletzliches Kind durchscheint. Karoline Herfurth spielt das alles..."

Weitere Artikel: Hannes Stein beschreibt amerikanische Comedy nach George W. Bush. Tilman Krause schreibt zum Hundertsten von Hans Werner Richter. Uwe Wittstock annonciert den Kunstsalon, ein privat organisiertes und finanziertes Kunstfestival in Köln, Berlin und Hamburg. Eine Meldung informiert uns über den Tod des Schauspielers Hans Jüssen.

Besprochen werden die Ausstellung "Goldener Drache - Weißer Adler" im Dresdner Residenzschloss, Andreas Kriegenburgs Inszenierung des "Wozzeck" in München und die neue CD von Grace Jones.

TAZ, 12.11.2008

Einfach überwältigt ist Ekkehard Knörer von Alexander Kluges neunstündigem, "unfassbar zeitgemäßen" Filmessay zu Karl Marx' "Das Kapital": "'Nachrichten aus der ideologischen Antike' ist keine Verfilmung des 'Kapitals' und ist auch keine Rekonstruktion von Eisensteins größenwahnsinnigem Projekt. Es ist auch kein Film in einem irgend vertrauten, soll heißen: von anderswo als Kluges Neuerfindung des Fernsehens her vertrauten Sinn. Ein in sich geschlossenes, nach allen Seiten zugleich offenes 'artistisches Kunstwerk' ist das Ganze dennoch. Als 'artistisches Kunstwerk' hat Karl Marx selbst das 'Kapital' bezeichnet, und als solches nimmt Kluge und nehmen beinahe alle von ihm ausgesuchten Gesprächs-, Gesangs-, Musik- und Denkpartner es ernst. Sie begreifen Marx' Wurf als eine Art begehbare Installation. Sie treiben, mithilfe nicht nur, aber auch von Eisenstein Stollen hinein. Sie greifen Begriffe heraus, den des 'Warenfetisch' zum Beispiel, wenden ihn hin, wenden ihn her, reiben daran, bis er wieder zu glänzen beginnt."

Weiteres: Tilman Baumgärtel singt in einer Mail aus Manila angesichts verwirrender technischer Standards auf den Philippinen ein Loblied auf die DIN-Norm. Besprochen wird die Ausstellung "Spektakel der Macht" im Kulturhistorischen Museum Magdeburg über Stabilisierungsrituale der Macht im alten Europa.

In tazzwei gratuliert David Denk Loriot ausführlich zum 85. Geburtstag, und im Kommentar auf Seite eins stellt Michael Ringel angesichts der Diskussion um die allgemeine respektive Humorqualität des Fernsehens in seinem Kommentar fest: "Mut kann man als Fernsehverantwortlicher selbst von einem sanften Erneuerer wie Loriot lernen." Auf der Meinungsseite erklärt schließlich der Soziologe und ehemalige Berater von Robert und Edward Kennedy, Norman Birnbaum, was Obama angesichts der Widersprüche und Abgründe der Lage, die er von seinem Vorgänger erbt, abverlangt wird. Worst case wäre, dass er genauso ende "wie Johnson, Carter und der scheidende Präsident: Besiegt durch die Unmöglichkeit, Imperium und Sozialstaat, Nationalstolz sowie militärischen und politischen Realismus in Einklang zu bringen."

Und Tom.

SZ, 12.11.2008

Alexander Kluge hat in München seine Marx-DVDs vorgestellt, in denen er ein Projekt Eisensteins aufgreift: die Verfilmung des "Kapitals". Sie dauert 580 Minuten und scheint eine recht fröhliche und assoziationsreiche Wissenschaft geworden zu sein, berichtet Fritz Göttler, der auch erzählt, wie Eisenstein selbst sich seine Marxverfilmung vorstellte: "Ein paar Stunden im Leben eines Paares soll der Film 'erzählen', eine Frau kocht Suppe für den Mann, daran sieht man die Geschichte der Menschheit aufgehängt. Ein Verfahren, das man dialektisch nennen muss und das auch Kluge schon lange praktiziert. Beim Pfeffern etwa geht es zu Cayenne, Dreyfus, zum französischen Chauvinismus, Krieg: 'Die versinkenden englischen Schiffe', man könnte nicht sagen, ob so ein Satz noch Eisenstein ist oder schon Kluge, 'könnte man gut mit dem Deckel des Kochtopfs zudecken.'"

Weitere Artikel: Reinhard J. Brembeck feiert Kent Naganos musikalische Leitung des "Wozzeck" in München und meldet Zweifel an der allzu vordergründigen Inszenierung Andreas Kriegenburgs an. Sonja Zekri meldet, dass der Petersburger Gazprom-Tower nun doch nicht gebaut werden soll. Thomas Hummel erzählt von der Aussöhnung zweier Familien, den Hoffenheimer Hopps mit ihrem SAP-Millardär Dietmar und den Juden Fred und Menachem Mayer, die von Hopps Vater, einem SA-Mann, drangsaliert und vertrieben wurden - die Mayers haben ihre Geschichte in einem Buch erzählt, dessen Übersetzung von den Hopps finanziert wurde, das Treffen der Familien in Hoffenheim wurde überdies in einem Film dokumentiert. Jörg Häntzschel berichtet von der Kunstbiennale von New Orleans, die sich den Folgen von "Katrina" auseinandersetzt. Abgedruckt wird ein Vortrag Stephan Märklis, des Weimarer Intendanten, über die Rolle des Theaters in der Zivilgesellschaft, gehalten bei einer Tagung gegen Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit in Weimar. Günter Kowa schildert die Vorbereitungen der Stadt Wittenberg auf Luthers 500. Geburtstag, als dessen Krönung ein "banales Einkaufszentrum" vorgesehen ist. Christine Brinck fragt sich, warum die Chinesen ausgerechnet in Hamburg die Kopie eines Teehauses aus dem 16. Jahrhundert errichten.

Besprochen werden eine Dramatisierung von Thomas Manns "Doktor Faustus" in Wien und Bücher, darunter Slavenka Drakulics Essay "Leben spenden".

FAZ, 12.11.2008

Hellauf entsetzt ist Jürgen Dollase von des katalanischen Molekularkochs Ferran Adria nonchalanter Interviewäußerung, dass er zu dem Preis, den McDonalds verlangt, auch keinen besseren Burger zustandebekäme als der Industriebrater. Unverantwortlich findet Dollase das: "Natürlich kann man bessere Hamburger für das gleiche Geld machen - aber genau das liegt überhaupt nicht im Blickfeld unserer Meisterköche. Sie verstehen sich liebend gerne als Repräsentanten einer wichtigen Säule der Kultur, können oder wollen aber gleichzeitig ihre aus dieser Lage und ihren Fähigkeiten herrührende Verantwortung gegenüber der Gesellschaft nicht wahrnehmen."

Weitere Artikel: In der Glosse schildert Kerstin Holm die Suche nach einer russischen Gerichtsvollzieherhymne. Alexander Cammann hat Frank-Walter Steinmeier beim "Genschern" erlebt. Ulrich Olshausen berichtet vom Berliner Jazzfest. Felicitas von Lovenberg hat schon einmal in die erst im März nächsten Jahres erscheinende "Harry Potter"-Alternativ-Hörbuch-Version reinhören dürfen, die Felix von Manteuffel liest. Das in Frankreich gerade erschienene autobiografische Buch "Trois Coeurs" ("Drei Herzen") von Julien Greens Adoptivsohn Jean-Eric Green hat Joseph Hanimann gelesen. Brita Sachs hat die Münchner Schack-Galerie nach ihrer Teilrenovierung besucht. Auf der DVD-Seite feiert Andreas Platthaus Alexander Kluges neunstündiges Karl-Marx-DVD-Projekt "Nachrichten aus der ideologischen Antike". Außerdem geht es um D.W. Griffiths unsäglich rassistischen Klassiker "Geburt einer Nation", Louis Malles "Black Moon" und Filme, die der jüngst verstorbene Autor und Regisseur Michael Crichton gedreht hat.

Besprochen werden die Uraufführung von Thomas Freyers Stück "Und in den Nächten liegen wir stumm" in Hannover, die Heidelberger Uraufführung von Philipp Löhles Stück "Lilly Link", eine von Andreas Kriegenburg inszenierte und von Kent Nagano dirigierte Aufführung von Alban Bergs Oper "Wozzeck", die Ausstellung "Unsterblich! Der Kult des Künstlers" in der Berliner Kunstbibliothek, Caroline Links Film "Im Winter ein Jahr", und Bücher, darunter Elliot Perlmans Roman "Sieben Seiten der Wahrheit" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).