Heute in den Feuilletons

Ich verzichte auf Brot

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.11.2008. Verrat oder Tragödie? In der FR versucht György Dalos eine Rekonstruktion der Ereignisse in Prag 1950, die zur Inhaftierung Mirolsav Dvoraceks führten. In salon.eu.sk antwortet Martin Simecka auf die elf Großautoren, die Kundera verteidigten. In der Zeit brandmarkt Alena Wagnerova die Medienhinrichtung Kunderas (wie wir leider zu spät bemerkt haben). Online fordert Milena Oda: Kundera soll sprechen. In der Printausgabe In der taz kritisiert Alain Badiou den Kapitalismus. Die FAZ hat schon die Antwort auf die Krise: Meidet Mangos!

FR, 13.11.2008

György Dalos schreibt einen bemerkenswerten kleinen Essay über die Kundera-Affäre - er hält die Version am wahrscheinlichsten, dass Kundera zusammen mit seinem Freund Miroslav Dlask agierte. Und er fordert zu weiteren Recherchen auf, aber ohne einen der Agierenden zu verurteilen: "Wenn wir diese Tragödie an den antiken Mustern messen, wie es der Respekt-Herausgeber und ehemalige Dissident Martin Simecka vorschlägt, dann müssen wir auf das Schwarzweiß-Schema - auf der einen Seite Helden, auf der anderen Übeltäter - verzichten. Vor allem handelte es sich um junge Leute, die in dem weltweiten Konflikt von damals und unter dem Druck einer menschenverachtenden Diktatur von höheren Kräften ferngesteuert ihr Leben, ihre Freiheit, ihr Glück und ihre Moral riskiert hatten."

Weitere Artikel: Ina Hartwig unterhält sich mit Lukas Bärfuss, Autor eines Romans über den Völkermord in Ruanda, über die neuesten Konflikte im Osten Kongos. Im Gespräch mit Peter Michalzik äußert sich der Kiwi-Verleger Helge Malchow über die Folgen des Krise für den Büchermarkt - noch ist er recht optimistisch. Und Martin Lüdke gratuliert Peter Härtling zum 75.

Besprochen werden der Münchner "Wozzeck" unter Kent Nagano und Andreas Kriegenburg, Konzerte des Berliner Jazzfests und Filme, darunter Caroline Links Melodram "Im Winter ein Jahr" und Malgoska Szumowskas Film "33 Szenen aus dem Leben".

Weitere Medien, 13.11.2008

Das slowakische Internetmagazin salon.eu.sk übersetzt Martin Simeckas Antwort auf die elf Großautoren, die Milan Kundera gegen eine "Verleumdungskampagne" verteidigten. Alles spricht nach wie vor für die Echtheit und Schlüssigkeit der Dokumente, schreibt er und fragt, ob wir "Kunderas Dementi akzeptieren sollten, weil er ein renommierter Autor ist?" Und er antwortet: "Nein, das können wir nicht, trotz seines großen Talents und des wichtigen Beitrags, den sein Werk zum Verständnis des kommunistischen Totalitarismus geleistet hat. Schließlich geht es hier neben kulturellen Verdiensten auch um historische, nicht-literarische Wahrheit und um das Leben wirklicher Personen. Sollten wir unseren eigenen Augen und elementarer Logik nicht trauen, nur weil Milan Kundera das Gegenteil behauptet?"

Welt, 13.11.2008

Tobias Gohlis unterhält sich mit John le Carre, der zur Zeit wegen seines neuen Buchs "Marionetten" durch alle Medien gereicht wird. Er spricht sich gegen den Krieg gegen den Terror in seiner heutigen Form aus: "Man kann keinen Krieg gegen eine Taktik führen. Der Krieg gegen den Terror versetzt uns in Furcht vor dem Islam, in Furcht vor einem Gang in den Supermarkt, überhaupt in Furcht. Selbst zur Zeit der viel konkreteren irischen Bedrohung haben wir die Menschenrechte nicht so eingeschränkt wie jetzt."

Weitere Artikel: Hendrik Werner kommentiert die Information, dass Barack Obama bei Google jetzt häufiger gesucht wird als Britney Spears. Ulrich Weinzierl liest ein Buch des Historikers Anton Holzers, das sich mit Gräuel gegen die Zivilbevölkerung im Ersten Weltkrieg auseinandersetzt. Stefan Keim porträtiert den Schauspieler Jan Neumann, der selbst Stücke schreibt und Theaterexperimente konzipiert.

Besprochen werden Filme, darunter Caroline Links Familiendrama "Im Winter ein Jahr" und Malgoska Szumowskas Film "33 Szenen aus dem Leben" mit Julia Jentsch und eine Ausstellung im Alten Museum Berlins, die Figuren Giacomettis mit altägyptischer Kunst konfrontiert.

TAZ, 13.11.2008

Die taz dokumentiert die furiose Polemik gegen die Moral des Kapitalismus, die der französische Philosoph, Dramatiker und Romancier Alain Badiou zuerst in Le Monde veröffentlicht hat. Die Unterscheidung zwischen "Realwirtschaft" und einer "irrationalen" Finanzökonomie absurd, da der Finanzkapitalismus schließlich seit fünfhundert Jahren ein wichtiger Teil des Kapitalismus im Allgemeinen sei. "Die Rückkehr zum Realen kann nicht in der Bewegung, die von der schlechten 'irrationalen' Spekulation zur gesunden Produktion führt, bestehen. Es ist die Rückkehr zum unmittelbaren und reflektierten Leben all derer, die diese Welt bewohnen. Von dort aus kann man den Kapitalismus samt dem Katastrophenfilm, den er uns in der letzten Zeit aufzwingt, beobachten, ohne schwach zu werden. Das Reale ist nicht dieser Film, sondern das Publikum. Was sieht man, wenn wir uns abwenden oder zurückwenden? Man sieht, und das ist, was man sehen nennt, einfache und seit langer Zeit bekannte Dinge: Der Kapitalismus ist nichts als Banditentum, irrational in seinem Wesen, verheerend in seinem Werden."

"Gott ist ein ziemlich schweinischer Künstlerarsch", erklärt Christoph Schlingensief in einem Gespräch über seine Festspielhauspläne in Afrika, sein jüngstes Stück "Der Zwischenstand der Dinge", das heute im Berliner Maxim Gorki Theater Premiere hat, und Erkenntnisse, die er aus seiner Krebserkrankung gezogen hat.

Weiteres: Anneli Klostermeier porträtiert die Autorin und Übersetzerin Sara Stridsberg, die in Schweden der radikalen Feministin Valerie Solanas und einstigen Andy Warhol-Attentäterin zu sagenhafter neuer Popularität verhalf, indem sie 2003 deren Manifest "SCUM" (Society for cutting up men/SCUM = Abschaum; hier das Original und Auszüge auf Deutsch) ins Schwedische übersetzte. In tazzwei beschäftigen sich die Historikerin Sylvia Schraut und die Frauenforscherin Gisela Notz in acht Thesen mit dem erst vor 90 Jahren eingeführten Frauenwahlrecht und erklären unter anderem die Spezifik des weiblichen Politikverständnisses und warum Fahnensticken 1848 ein hochpolitischer Akt war. Besprochen wird der neue Film von Caroline Link "Im Winter ein Jahr".

Und hier Tom.

Zeit, 13.11.2008

Alena Wagnerovas Text in der Print-Ausgabe haben wir leider, leider übersehen, wir reichen ihn hiermit nach. Sie springt Milan Kundera entschieden zur Seite, den Bericht im Magazin Respekt brandmarkt sie als "öffentliche Medienhinrichtung": "Zuckte man bei der ersten Nachricht über den Fund noch zusammen, so fühlte man sich nach der Lektüre des Artikels in Respekt nur noch angewidert von der Art und Weise, wie die Zeitung die Nachricht als als Sensation ausbreitete, von der Niedertracht der ganzen Kampagne, die man stolz als ein Beispiel für die notwendige Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit Ausgabe. Eher fühlte man sich freilich an die Kampagnen der Stalinzeit erinnert, an all jene Säuberungen und Prozesse, bei denen mit den gleichen Methoden der schwarz-weißen Sicht der Dinge und je nach politischem Bedarf Menschen verurteilt und vernichtet wurden."

Online hält es die Autorin Milena Oda dagegen für die große Frage, ob Kundera sprechen wird: "Schafft es ein scheuer Mensch, ein empfindlicher und empfindsamer Schriftsteller, sich zu einem so großen Problem auf der Weltbühne zu äußern? Und was ändert sich damit? Der Schriftsteller Milan Kundera bleibt unter den Unsterblichen. Es ist auf jeden Fall die Frage des Charakters, der Stärke und des Gewissens, der Fähigkeit, die Tiefe des eigenen Abgrunds in Worte zu fassen. Bis jetzt verlangten es nur die Tschechen, jetzt ist vielleicht auch die übrige literarische Welt wissbegierig geworden. Das zeigt der lächerliche Protest der Schriftsteller. Eine fast hysterische Reaktion. Wissen sie nicht, dass man Geschichte aufarbeitet, mitsamt all den Mitläufern und Zeitzeugen?"

Desweiteren erzählt die Schriftstellerin Irene Dische erzählt in einem wunderschönen Text, wie sie sich ins tiefste Hinterland von Florida begeben hat, um für Barack Obama als Wahlhelferin zu arbeiten. Einen "grausam öden Abend" hat Peter Kümmel mit Frank Castorfs neuem Stück "Kean" in der Berliner Volksbühne verbracht, weshalb er ihr Theater jetzt für endgültig erledigt erklärt. "Wo bleibt der Reklameschutz?", fragt verzweifelt Hanno Rauterberg im Aufmacher und ruft die Kommunen zum Widerstand gegen die Zumutungen der Werbeindustrie auf. Volker Hagedorn sieht mit der Finanzkrise schwere Zeiten auf den amerikanischen Opernbetrieb zukommen. Stefan Willeke bricht eine Lanze für Dietmar Hopp, den TSG Hoffenheim und das Millionärsprinzip, die eine einfache Wahrheit bewiesen hätten: "Fähigkeiten mal Vermögen gleich Aufstieg." Im Interview mit Thomas Groß spricht Marianne Faithfull über ihre neue CD "Easy Come, Easy Go", den Blues und Amy Whinehouse ("Hoffentlich schafft sie es, am Leben zu bleiben"). Petra Reski erzählt, wie Thomas Gaethgens das Getty Research Institute wieder auf Kurs gebracht hat.

Besprochen werden die Ausstellung "Leben, lieben, Kunstmachen über Künstlerpaare im Kölner Wallraf-Richartz-Museum, Alban Bergs "Wozzeck" an der Bayerischen Staatsoper und Ralf Dörnens Choreografien nach den "Goldberg-Variationen" in Greifswald.

Im Aufmacher des Literaturteils bespricht Susanne Mayer Aravind Adigas mit dem Booker-Preis ausgezeichneten Roman "Der weiße Tiger". Im Politikteil schreibt der amerikanische Ideengeschichtler Mark Lilla über den Niedergang der konservativen Intellektuellen.

NZZ, 13.11.2008

Philipp Meier meldet ein Ende der Partystimmung auf dem Kunstmarkt: Die letzte Auktion bei Sotheby's war ein Flop. "Von den 64 Katalognummern der Hauptsitzung für zeitgenössische Kunst blieben 23 unverkauft." Klaus Bartels erklärt das Stichwort "Laizismus"

Besprochen werden das Gastspiel "Questo buio feroce" von Pippo Delbonos Kompanie im Theater Chur, Ruth Klügers zweiter Erinnerungsband "unterwegs verloren" und Gerbrand Bakkers Provinzroman "Oben ist es still". Die Filmseite widmet sich Caroline Links Familienporträt "Im Winter ein Jahr" und Christoph Schaub Film "Happy New Year".

Berliner Zeitung, 13.11.2008

Frank Herold berichtet - ohne wirklichen Bezug zur causa Kundera -, dass Tschechien ein Gesetz einführt, mit dem die Leugnung der kommunistischen Verbrechen unter Strafe gestellt wird. Herold hält dies vor allem für ein politisches Manöver gegen die Kommunistische Partei: "Der Ruf nach dem Strafrecht zur Bekämpfung von Lüge zeigt immer eine gewisse Hilflosigkeit der freiheitlichen Ordnung gegenüber der Perfidie der Halsstarrigen. Grundsätzlich ist die Frage, wie sich Äußerungsverbote mit dem Recht auf freie Rede vereinbaren lassen. Gesetze, die den Umgang mit Geschichte regulieren sollen, sind in Europa dennoch weit verbreitet."
Stichwörter: Europa, Strafrecht, Tschechien

FAZ, 13.11.2008

Der kürzlich schon von Frank Schirrmacher gefeierte Hedgefondsmanager (hier sein Fonds), Risikoforscher und Ökonomiephilosoph Nassim Nicholas Taleb kommt uns erneut mit dem Truthahn und gibt Jordan Mejias im großen Interview auf der ersten Seite des Feuilletons ansonsten atemberaubend hilfreiche Tipps zum Überleben der Gegenwart: "Wir verstehen unser Klima nicht. Darum bin ich ökologisch hyperkonservativ. Ein komplexes System wie das Klima, das so lange schon besteht, verdient unseren Respekt. Wir sollten uns genauso verhalten, wie unsere Vorfahren es taten. Was heute nicht populär ist. Ich nehme auch Medizin nur unter äußerst seltenen Umständen ein und vermeide jedes moderne Essen. Ich verzichte auf Brot, auf Zucker und esse lediglich Früchte, die einen griechischen oder hebräischen Namen tragen, also keine Mangos. Das alles geht auf meine Grundüberzeugung zurück, komplexe, für uns unbegreifliche Systeme nicht oder nur in Notfällen anzutasten."

Weitere Artikel: Paul Ingendaay schildert, wie es bei einem spanischen Kunstgeschenk an die Schweiz finanziell nicht mit rechten Dingen zuging. Ein gefundenes Fressen für den immer juristoideren Feuilletonchef Patrick Bahners ist, wie zu erwarten, der Fall der - vom Gericht für in Sachen postmortale Menschenwürde unbedenklich erklärten - Umbennung einer zuvor nach dem einstigen Landesbischof Hans Meiser benannten Straße in München. Jan Brachmann stellt einen Kompromissvorschlag des Architekten Stephan Braunfels für den Umbau des Lindenopern-Zuschauersaals vor. In seinem Bericht über den französischen Gedenktag zum Ende des Ersten Weltkriegs nimmt Jürg Altwegg recht erstaunt zur Kenntnis, dass Nicholas Sarkozy die Deserteure des Grabenkriegs ausdrücklich gegen den Vorwurf der Feigheit in Schutz nahm. Patricia Rommel protokolliert Gedanken der Cutterin Patricia Rommel, die mit "Das Leben der Anderen" und "Nirgendwo in Afrika" schon zwei Oscar-Gewinner geschnitten hat. Regina Mönch porträtiert den an die Spitze der Stiftung Berliner Mauer berufenen Historiker Axel Klausmeier. Über den dritten Gesetzesentwurf zur Patientenverfügung schreibt Oliver Tolmein.

Mindestens die schlimmeren, wenn nicht sogar die schlimmsten der Geschichten über das niederländische Monarchenpaar Juliana und Bernhard erweisen sich, wie Dirk Schümer informiert, in einer nun von Königin Beatrix autorisierten Biografie ihrer Eltern als wahr. Josef Oehrlein sieht die Biennale von Sao Paolo kurz vor der Selbstabschaffung. Auf der Forschung-und-Lehre-Seite kommentiert Jürgen Kaube die Pläne, Plagiatoren in Baden-Württemberg hinfort der Universität zu verweisen, mit dem Hinweis,"dass die Universität in mehr als einem Sinne ihre Plagiatoren selbst hervorbringt". Auf der Kinoseite schreibt Bert Rebhandl über den Filmemacher John Gianvito und andere Entdeckungen, die er auf der Viennale gemacht hat. Von der Duisburger Filmwoche berichtet Andreas Rossmann. Über den Konkurrenkampf der täglichen französischen Sportzeitungen informiert auf der Medienseite Jürg Altwegg. Matthias Rüb ist immer noch nicht über die vermeintlich ungerechte Behandlung der von ihm so überaus geschätzten Sarah Palin hinweg.

Besprochen werden die Londoner Uraufführung von David Hares neuem, sehr Blair-kritischem Stück "Gethsemane" und Bücher, darunter Pierre Michons Essay "Rimbaud der Sohn" und der Emmanuelle-Beart-Akt-Band "Cuba Libre", vor dem Andreas Kilb am liebsten die Augen verschlösse (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 13.11.2008

Thomas Steinfeld wundert sich ein wenig, dass sich zwei Wissenschaftler der London School of Economics wundern, dass Romane Wissen besser darstellen und vermitteln können als wissenschaftliche Texte. Willi Winkler hat Einblick genommen in jetzt öffentlich gemachte Akten des FBI über den linken Autor Norman Mailer. Helmut Mauro reicht die durch Literaturfunde gut abgesicherte Erkenntnis weiter, dass die Briten bereits im 18. Jahrhundert den Baseball erfunden haben. Stephan Speicher stellt den Kompromissentwurf des Architekten Stephan Braunfels für den Zuschauersaal der Lindenoper vor. Amerikanische Architekten beginnen gerade bislang unamerikanische Werte wie "Energieeffizienz" zu entdecken, weiß Gerhard Matzig zu berichten. Über eine abgesagte New Yorker Anti-Irakkriegs-Ausstellung informiert Stefan Koldehoff.

Besprochen werden Volker Hesses Luzerner Inszenierung von Thomas Hürlimanns Stück "Stichtag", neu anlaufende Filme wie "Im Winter ein Jahr" von Caroline Link, "So viele Jahre liebe ich dich" von Philippe Claudel und die Screwball-Komödie "Zufällig verheiratet" mit Uma Thurman, und Bücher, darunter Roddy Doyles Roman "Paula Spencer" und Per Kirkebys Gedichte "Liniertes Papier" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).