Heute in den Feuilletons

Geplärre im großen Maßstab

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.11.2008. Die taz bringt traurige Nachrichten vom Berliner Open Mike-Wettbewerb: Die Texte waren durchweg solide. Die Berliner Zeitung wundert sich über Medwedjew und sein elastisches Verständnis des Begriffs "Völkermord". Die FR erinnert an eine literaturhistorische Entscheidung zwischen Solschenizyn und Schalamow.

FR, 18.11.2008

Die Lyrikerin Olga Martynova schreibt über Alexander Solschenizyn und Warlam Schalamow und erzählt auch von der denkwürdigen Entscheidung, die Georgi Wladimow als Redakteur der Zeitschrift Nowyj Mir treffen musste: Er durfte einen Text über den Gulag veröffentlichen, entweder Solschenizyns "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" oder Schalamows "Erzählungen aus Kolyma": "'Verstehen Sie', gestand Twardowskij, 'Schalamow mag ein besserer Schriftsteller sein. Aber' - und hier begannen die verdeckten Mechanismen zu arbeiten - 'Solschenizyn hat einen Roman, der in einem Stück veröffentlicht werden kann. Selbst wenn die Zensur ihn entstellt, bleibt er als Werk erhalten. Bei Schalamows Kurzgeschichten würde die Zensur die besten Texte einfach rausschneiden, und der Rest würde untergehen.' So wurde entschieden - sozusagen zensurtechnisch - , dass es Alexander Solschenizyn sein würde, der den Nobelpreis bekommt, ins Exil geht, die ganze Menschheit und insbesondere das russische Volk belehrt, 'nicht in Lüge zu leben'." Während Schalamow zu Lebzeiten keinen einzigen Absatz in Russland veröffentlichen konnte und 1982 verbittert, krank und einsam starb."

Weiteres: Christian Thomas versucht sich zu erklären, was der Architekt und Vorsitzende der Berliner Stadtschloss-Jury Vittorio Magnago Lampugnani, mit seinem quasi "anarchischen Akt" bezweckt haben könnte, als er sich im Spiegel zum Gegner der reinen Rekonstruktion erklärte: "Wahrscheinlich, dass Lampugnani bereits einen Entwurf ins Auge gefasst hat, den er favorisiert." In Times mager sieht Hans-Jürgen Linke die deutschen Bahnhöfe unter Mehdorn zu "Orten hasserfüllter Stoßseufzer" mutieren. Catharina Koller berichtet vom Open-Mike-Wettbewerb, den in diesem Jahr Sonia Peter gewann.

Besprochen werden die Uraufführung von Peter Ruzickas "Hölderlin" an der Berliner Lindenoper und das Düsseldorfer Tanzfestival "Fest mit Pina" und ein Museumkonzert von Orffs "Carmina Burana".

Berliner Zeitung, 18.11.2008

Unter der Gleichgültigkeit der Weltöffentlichkeit begehen die Ukrainer den 75. Jahrestag des "Holodomor", der von Stalin verfügten Hungersnot, bei der Millionen Ukrainer starben. Medwedjew lehnte es ab, zu den Feierlichkeiten zu kommen, weil er den Begriff des "Völkermords" für dieses Ereignis ablehnt. Zu recht, wie Christian Esch findet, der Medewedjew aber auch einiges zu sagen hat: "Und warum darf der Kreml, wenn Kiew seine Zunge hüten soll, selbst mit der Vokabel 'Völkermord' nur so um sich schmeißen? Das Vorgehen der Georgier in Süd-Ossetien nannte Medwedjew sofort Völkermord... Noch Mitte September erwähnte Medwedjew vor Vertretern der Russischen Gesellschaftskammer den angeblichen Genozid - also einen Monat, nachdem die russische Staatsanwaltschaft die Opferzahlen stark revidiert hatte. Die nüchterne Wortwahl, die Medwedjew fordert, fordert er nur für andere."

TAZ, 18.11.2008

Rene Hammann scheint sich auf dem gerade abgelaufenen Berliner Open Mike-Wettbewerb für junge wilde Lyrik nach Kräften gelangweilt zu haben: "Die Texte waren fast durch die Bank solide, Ausfälle gab es so gut wie keine. Die Themenwahl war breit gefächert, es gab Pop, es gab sensible Beziehungs- und Provinztexte und solche, die sich mit dem Schicksal und der sozialen Realität Behinderter auseinandersetzten."

Weitere Artikel: Stefan Reinecke berichtet von einer Tagung des Hamburger Instituts für Sozialforschung zu Frage "Wohin treibt die Bundesrepublik?" Sonja Vogel liest Zeitschriften, die sich mit kroatischer und serbischer Literatur auseinandersetzen. Klaus Hillenbrand liest einen Band über das Schicksal von den Nazis geplünderter jüdischer Privatbibliotheken. Und Ekkehard Knörer schreibt zum Tod des Kritikerkollegen Peter W. Jansen.

Schließlich Tom.

NZZ, 18.11.2008

Carsten Krohn interviewt den Wiener Architekten Wolf Prix vom Büro Coop Himmelb(l)au über deren neuestes Projekt, bei dem sie das Wachstum des Gehirns mit dem Wachstum einer Stadt vergleichen. Besprochen werden die Uraufführung von Peter Ruzickas "Hölderlin" an der Berliner Lindenoper, die Ausstellung über Herrschaftsrituale "Spektakel der Macht" in Magdeburg und Bücher, darunter Daniel Alarcons Roman "Lost City Radio", Valerie Mrejens Roman "Zitrus" und Dieter E. Zimmers Buch "Wirbelsturm Lolita" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Welt, 18.11.2008

Der ehemalige Berliner Senatsbaudirektor Hans Stimmann reagiert im Interview mit Rainer Haubrich empört auf die Vorschläge einiger Jurymitglieder des Berliner Schlosswettbewerbs, die geplante Schlossattrappe lieber doch nicht so märklingenau wieder aufzubauen: "Der Auslober schließt doch einen Vertrag mit den Jurymitgliedern, die er beruft. Was einige von denen jetzt tun, ist ein Bruch dieses Vertrages. Ein Stück aus dem Tollhaus 'Wettbewerbskultur'."

Weitere Artikel: Herbert Kremp fragt sich im Aufmacher, welche Vorbilder aus der Geschichte sich Obama wohl für seine Präsidentschaft wählen wird. Uta Baier fordert die Russen in der Leitglosse auf, die von ihnen gehortete Raubkunst wenigstens zu zeigen, wenn sie sie schon nicht zurückgeben. Holger Kreitling unterhält sich mit Regisseur Ridley Scott über seinen neuen Film "Der Mann, der niemals lebte" mit DiCaprio und Crowe. Gabriela Walde meldet, dass die Restaurierung des Markttors von Milet, eines der spektakulärsten Exponate im Pergamonmuseum, abgeschlossen ist.

Besprochen werden Peter Ruzickas "Hölderlin"-Oper an der Berliner Staatsoper, die den Rezensenten Manuel Brug "zwei pausenlos öde Stunden" seines Lebens kostete, und zwei Choregrafien Martin Schläpfers in Mainz (und die "Pezzi und Tänze" sind laut Jochen Schmidt ein"choregrafisches Wunder"). Gemeldet wird, dass Damien Hirst sich im Independent bereit erklärte, seine Kunst angesichts der Krise jetzt billiger zu verkaufen.

FAZ, 18.11.2008

Warum sind die Beliebtheitswerte Nicolas Sarkozys so stark gestiegen? Es liegt nur an Carla Bruni, glaubt Klaus Harpprecht, die den Präsidenten vor "seinen attraktiven Ministerinnen" bewahrt hat, "die ihm seit der Trennung von der schlechtgelaunten Gattin Cecilia zappelnd vor Eifer - und mit unterschiedlichem Glück - ihre Talente demonstrierten, zumal die exotisch-elegante Justizministerin Rachida Dati".

Weitere Artikel: Angesichts der lauter werdenden Torschlusspanik in der Stadtschloss-Jury will Andreas Kilb, ceterum censeo, noch einmal sagen, dass seiner Meinung nach ins Schloss keine Humboldt-Mixtur, sondern die derzeit am Kulturforum versammelte Museumslandschaft gehört. In einem langen Artikel feiert Dieter Bartetzko die große Nana Mouskouri und ihre nun in deutscher Sprache erscheinenden Memoiren. Wolfgang Schneider hat beim "Open Mike"-Wettbewerb gelungene, nicht unbedingt berauschende Texte gehört. Eine Kasseler Tagung zum Multikünstler Hans Jürgen von der Wense hat Ilona Lehnart besucht. Swantje Karich kommentiert den Rückzug der Deutschen Bank als Sponsor sowohl des Deutschen Pavillons in Venedig wie der Art Cologne - hat aber beides, wird glaubhaft versichert, nichts mit der Finanzkrise zu tun. Rose-Maria Gropp meldet, dass sich Damien Hirst, der gut lachen hat, durchaus über fallende Preise auf dem Kunstmarkt freut. In der Glosse von Gerhard Stadelmaier geht es um Fragen wie "Wo komsch denn Du alds Arschloch her?" und zwar wegen Cem Özdemir, das "Obamale" aus dem Schwabenland. Andreas Rossmann gratuliert dem Anglisten Robert Weimann nur im Print, Andreas Platthaus der Mickey Mouse auch hier zum Achtzigsten.

Online-Video-Tipp: Gastro-Kritiker Jürgen Dollase testet - mit Messer und Gabel - den Hamburger von McDonalds und es erinnert doch ein wenig an Chaplin und seinen Schuh.

Besprochen werden die Uraufführung von Peter Ruzickas Musiktheater "Hölderlin. Eine Expedition", an der und an dem Julia Spinola wenig Überzeugendes fand, die DVD-Ausgabe der von Sasha Waltz choreografierten Aufführung von Henry Purcells Oper "Dido und Aeneas", und Bücher, darunter der Comic "Das Zeichen des Widders" von Fred Vargas (Szenario) und Edmond Baudoin (Zeichnungen) und die kritische Ausgabe der "Werke" von Friedrich Franz von Unruh (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 18.11.2008

"Eine Gruppe israelischer Intellektueller und Künstler hat jetzt, wenige Wochen vor der vorgezogenen Wahl am 10. Februar, der sozialliberalen Arbeitspartei den Rücken gekehrt - was einem Todesstoß der Partei gleichkommt", berichtet Thorsten Schmitz. Unter den Parteirebellen ist auch Amos Oz, der sich darüber aufgeregt hat, dass der Parteivorsitzende Ehud Barak "bei der Zeremonie zu Rabins Todestag vergangene Woche von Frieden geredet (hat) und dass gegen gewalttätige jüdische Siedler vorgegangen werden müsse. Und am nächsten Tag lese ich in der Zeitung, dass derselbe Barak den Ausbau jüdischer Siedlungen genehmigt hat!" Oz und Freunde wollten jetzt zusammen mit den Mitgliedern der linken "Meretz"-Partei eine neue Partei gründen.

Weitere Artikel: Gerhard Matzig findet den neu aufgeflammten Streit um das Berliner Stadtschloss - entgegen der Vorgaben zur Rekonstruktion sprachen sich jetzt einige der Juroren für einen Neubau aus - absolut überflüssig: "Auf die Details kommt es an. Geplärre im großen Maßstab hilft nicht weiter." Susan Vahabzadeh schreibt zum Achtzigsten von Mickey Mouse. Über die Baugerüste am Markusplatz sind jetzt 240 Quadratmeter große Werbeplakate der Firma Swatch gehängt worden, meldet Henning Klüver, ("die halbe Größe eines Schwimmbeckens von olympischem Format, wie die Presse-Agenturen zu erwähnen nicht vergaßen"). Zum 30. Jahrestag des Massenselbstmordes von Jonestown fand man Briefe, die belegen, dass die Selbstmorde so freiwillig wohl nicht waren. Öl-Versorgungskrisen gab's auch in der Antike; dies belegen laut Andreas Hensen Untersuchungen an einem römischen Gräberfeld in Heidelberg, wo man in einem Grab Reste zweier Kerzenständer statt einer Öllampe fand. Thomas Schirren berichtet von einer wissenschaftlichen Diskussionsrunde in Innsbruck um Raoul Schrotts Homer. Jean-Michel Berg war beim Open-Mike-Wettbewerb in Berlin.

Besprochen werden die Ausstellungen "Der weite Blick. Landschaften der Haager Schule aus dem Rijksmuseum" und "Nature as Artifice" in der Neuen Pinakothek München, ein Klavierabend mit Ivo Pogorelich in München, Peter Ruzickas "Hölderlin"-Oper in Berlin und Bücher, darunter Matthew Ecks Roman "Das entfernte Ufer" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).