Heute in den Feuilletons

Maximale Partitur-Rendite

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.11.2008. Bei der taz ist nicht alles Goldt, was Essig und Gurk ist. Die FR bringt David Grossmans Dankesrede zum Erhalt des Geschwister-Scholl-Preises. Im Rahmen der FAZ-Berichterstattung über die Finanzkrise kommt es zur vierten apokalyptischen Vision Frank Schirrmachers. Die SZ haut unterdes mit jungen Dirigentenstars auf die Pauke.

FR, 25.11.2008

Die FR druckt David Grossmans Dankesrede zum Erhalt der Geschwister-Scholl-Preises ab. Darin spricht der israelische Schriftsteller von dem tiefen Gefühl der Kränkung, das die Shoah noch immer bei ihm auslöse, aber auch davon, wie er sich durch das Schreiben Freiräume gegen die Willkür erkämpft: "Nicht, dass ich wirklich verstanden hätte, wie ein Mensch sich selbst so auslöschen kann, dass er Bestandteil einer Vernichtungsmaschine wird. Nicht, dass die militärische Besatzung enden würde, wenn ich ihre Untaten nur möglichst genau beschriebe. Doch meine innere Einstellung zu dem Unabänderlichen änderte sich dann. In dem Moment, wo ich zu schreiben begann, stand ich jedweder Willkür nicht mehr dort gegenüber, wo ich vor dem Schreiben verharrt war. In Situationen, die mir wie ewig, absolut und monolithisch vorgekommen waren, taten sich mir neue Nuancen auf. Ich erschuf mir eine gewisse Bewegungsfreiheit. Gegenüber dem Unabänderlichen, was mich vorher mit Angst und Verzweiflung gelähmt hatte, wurde ich frei. Ich war kein Opfer mehr."

Weiteres: In Times mager stellt Harry Nutt fest, dass das "Herz der Berliner Symbolpolitik" seine "Schlagfrequenz" erhöht. Christian Thomas preist den Reprint der Stadtplan-Sammlung "Städte der Welt".

Besprochen werden die Turner-Prize-Schau in der Londoner Tate Britain, eine Ausstellung der Amerikanerin Frances Stark im Frankfurter Portikus, Hans Neuenfels' Inszenierung der "Traviata" an der Komischen Oper Berlin und das Wiesbadener Festival Just Music.

NZZ, 25.11.2008

Gabriela M. Keller begutachtet die politischen Plakate auf den Straßen Beiruts und bemerkt vor allem eine Professionalisierung der Hisbollah-Propaganda. Jürg Huber hat beim Luzerner Pianofestival unter anderem Alfred Brendel gehört. Joachim Güntner meldet einen Intendantenwechsel bei der Essener Philharmonie: Für Michael Kaufmann, dem zu Unrecht Misswirtschaft vorgeworfen worden war, kommt Johannes Bultmann.

Besprochen werden Hans Neuenfels' "denkbar unitalienische" Inszenierung von Verdis "Traviata" in der Komischen Oper Berlin, Vincenzo Consolos laut Franz Haas "großartiger" Roman "Palermo", Iwan Bunins Reisebilder "Der Sonnentempel" und Andre Brinks Roman "Die andere Seite der Stille" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau der Woche).

TAZ, 25.11.2008

Ekkehard Knörer staunte bei der Verleihung des Kleist-Preises an Max Goldt (mit Laudatio von Daniel Kehlmann) nicht schlecht, "was so alles zusammenpassen soll in unserer schönen Berliner Republik. Zum Beispiel knattermimischer Kleist-Vortrag und versierte Lesebühnen-Eleganz; das unter Peymann restlos verspießerte Berliner Ensemble und die immerwachen Antispießer von der Titanic; Scherz, Satire und tiefere Bedeutung; Superlativ und Understatement; nicht zuletzt: Essig und Gurk."

Weitere Artikel: Simone Kaempf porträtiert den libanesisch-kanadischen Theaterautor und -regisseur Wajdi Mouawad, dessen Stück "Der Sonne und dem Tod kann man nicht ins Auge sehen" heute Abend an der Berliner Schaubühne läuft. Christian Broecking stellt die interessantesten Jazz-CDs des Jahres 2008 vor. Alexander Haas besuchte ein politisches Theaterfestival in Köln. Andreas Fanizadeh erkundet die Ambitionen der neuen Wiener Buchmesse. Auf der Medienseite fragt der über die Entlassungspläne bei der SZ und ihren schwäbischen Mutterkonzern berichtende Steffen Grimberg: "Warum agiert die SWMH so ungelenk? Aus Taktik oder Dämlichkeit?" Im Inlandteil wird gemeldet, dass die Finanzkrise Fördertöpfe von Stiftungen auch in Deutschland austrocknet - mit fatalen Folgen für die Kulturfinanzierung.

Schließlich Tom.

Aus den Blogs, 25.11.2008

"Sam Zell ist ein bekanntes Arschloch, aber irgendwie liebenswert (wenn man nicht für ihn arbeitet), denn er spricht immer Tacheles", steht bei Gawker, wo aus einen Gespräch zwischen der Chefredakteurin Joanne Lipman von Portfolio (einem bedrohten, aber brillanten Titel des Conde Nast Verlags) und dem Zeitungstycoon Sam Zell zitiert wird. Der Besitzer der Tribune-Gruppe schildert die Lage so: "Tja, die Zeitungsindustrie und die Werbung sind von einer Klippe gefallen. Und das ist nicht erst im September oder Oktober passiert. Sie sind im Januar von der Klippe gefallen. Als wir auf die hstorischen Zahlen blickten, sahen wir einen Schwund von 3 Prozent. Als ich den Konzern kaufte, lag der Schwund bei 6 Prozent. Und als ich mir das letzte Mal die Zahlen anguckte, musste ich feststellen, dass 19 Prozent mehr sind als 6 Prozent."
Stichwörter: Conde Nast, Gawker, Tacheles

Welt, 25.11.2008

Matthias Heine schlägt angesichts der übergroßen Zahlen, mit denen wir in der Finanzkrise konfrontiert werden, den Übergang auf den von der Donald-Duck-Übersetzerin Erika Fuchs geprägten Begriff der "Fantastilliarde" vor. Hanns-Georg Rodek stellt in der Leitglosse die neue Kinojahreskarte vor, von der sich die großen Kinoketten einen erhöhten Kinobesuch vor allem des jüngeren Publikums erhoffen. Sascha Krüger unterhält sich mit dem inzwischen 78-jährigen Saxofonisten Sonny Rollins, der gerade auf Tournee ist. Hildegard Strausberg erzählt, wie die Polen Krzysztof Penderecki zum 75. gratulieren. Michael Stürmer nimmt angesichts neuer Donaubrückenpläne in Regensburg geschichtlich gewachsene Stadtansichten an und für sich in Schutz. Wieland Freund berichtet, dass immer mehr Verlage mit animierten Buchtrailern im Internet werben. Und Peter Dittmar stellt neue Theorien zur Waldseemüllerkarte vor, auf der zum ersten Mal das Wort "Amerika" verzeichnet ist.

Besprochen werden Hans Neuenfels' "Traviata"-Inszenierung an der Komischen Oper Berlin, die Manuel Brug enttäuscht hat, und ein Buch des Kabarettisten Vince Ebert.

Auf der Berlin-Seite wird gemeldet, dass die allerletzten Überreste des Palastes der Republik bis Freitag abgerissen sein werden. Im Essay auf der Forumsseite behauptet Hans Rühle, einst Leiter des Planungsstabes im Bundesverteidigungsministers, unter Bezug auf die IAEA, dass der Iran spätestens im nächsten Jahr in der Lage sei, eine Atombombe zu bauen.

SZ, 25.11.2008

Jörg Königsdorf hat in Berlin den Dirigenten Yannick Nezet-Seguin mit dem Deutschen Symphonie-Orchester gehört. Nezet-Seguin gehört zur neuen Dirigentengeneration. "Sie sind gerade mal 30 Jahre alt und schon so gut, dass alle älteren Kollegen um ihre Arbeitsplätze fürchten müssen. ... Mit Ideologien haben Taktstock-Champions wie beispielsweise der Norweger Eivind Gullberg Jensen, der Ossete Tugan Sokhiev oder auch der Venezolaner Gustavo Dudamel (um nur drei der bekanntesten Vertreter zu nennen) nichts am Hut. Denn ihr Weg zu Beethoven, Tschaikowsky und Puccini geht über die Oberfläche der Musik, über den schönsten, sattesten, oft auch lautesten Klang, und ihre Interpretationen künden nicht von Weltschmerz und Kunstgrüblertum, sondern von strahlender Selbstgewissheit der Musik - und ihrer Dirigenten, die dabei die sozusagen maximale Partitur-Rendite erzielen."

Weitere Artikel: Der Fotojournalist Guy Tillim spricht im Interview über seine Jugend im Südafrika der Apartheid und die Afrika-Klischeefalle. Henning Klüver berichtet über ein kunsthistorisches Projekt in Florenz, das europäische Plätze erforscht. Andrian Kreye singt einen Abgesang auf General Motors, das er - in einem vielleicht etwas sehr bemühten Vergleich - für "Amerikas Äquivalent zur allgegenwärtigen KPdSU" erklärt. Dubai geht's auch nicht gut, berichtet Gerhard Matzig, 50 Milliarden Dollar Schulden und leer stehende Prestigebauten. Ab 2009 ist die Stelle des Hofpoeten am englischen Hof frei, meldet Alexander Menden, das Salär beträgt 5000 Pfund - ob monatlich oder jährlich, sagt er nicht. Jens-Christian Rabe stellt die neue Zeitschrift für Kulturphilosophie vor (hieß früher Dialektik), die einen "bemerkenswerten" Aufsatz des Bremer Ideengeschichtlers Sarhan Dhouib "Zur Kritik der Kultur in der arabisch-islamischen Philosophie" enthält.

Besprochen werden John le Carres Roman "Marionetten", Bryan Bertinos Horrorfilm "The Strangers", eine Aufführung von Ödön von Horvaths "Kasimir und Karoline" am schwedischen Nationaltheater, Hans Neuenfels' Inszenierung der "Traviata" an der Komischen Oper Berlin und Bücher, darunter Nik Cohns Buch über "Triksta. Leben, Tod und Rap in New Orleans" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 25.11.2008

Frank Schirrmacher hat fleißig Blogs und Leitartikel der New York Times - namentlich von Paul Krugman und Thomas L. Friedman - gelesen und das kommt dabei raus: "Abgesehen von Kriegserwartungsepochen, wird man in der jüngeren Geschichte kaum ein Jahr finden, das ähnlich apokalpytisch aufgeladen wurde wie das Jahr '2009'. So sehr jedenfalls, dass ein Apologet der Globalisierung im November 2008 den jungen Leuten empfiehlt, nicht mehr essen zu gehen. Dass keine Zeit mehr sei, gehört als rhetorische Formel in das Inventar dämonolgischer Angstphantasien. Verbunden mit den messianologischen Erwartungen an Obama und den täglichen Katastrophenmeldungen aus der Wirtschaft, entsteht hier, im späten Herbst des Jahres 2008, ein giftiges Gebräu, dass das Jahr 2009 unterhöhlt, ehe es überhaupt begonnen hat."

Weitere Artikel: Christian Geyer denkt über die möglichen Folgen der von Google und Microsoft propagierten elektronischen Krankenakte nach. In der Glosse windet sich Andreas Kilb unterallerlei Elitismusverdachtsabwehrgesten zur Behauptung, dass die darstellerischen Qualitäten der Schauspieler der Historienserie "Die Deutschen" doch stark an die des "Gonsenheimer Geschichtsvereins" erinnern. Martin Otto hat eine Jenenser Tagung zum interessanten Thema "Wege ins Ministeramt" verfolgt. Friederike Reents war auf einer Tagung zu Heinrich von Kleist und danach bei der Verleihung des Kleist-Preises an Max Goldt. Wenig Erfolg, jedenfalls sehr viel weniger als erwartet, hat - wie Jürg Altwegg berichtet - der unterm Titel "Volksfeinde" in Frankreich mit viel Bohei veröffentlichte Briefwechsel zwischen Houellebecq & Levy. Altwegg porträtiert auch die Politikerin und Holocaust-Überlebende Simone Veil, die jetzt in die Academie Francaise (leider keine englische Website-Version) aufgenommen wurde. Paul Ingendaay schildert, wie die spanische Diskussion um die Exhumierung von Franco-Opfern zum Parteienstreit geraten ist. Auf der Medienseite fragt Michael Hanfeld interessiert und kurz bei Jürgen Doetz nach, dem Präsidenten des Privatsenderverbands VPRT, was es mit dem Scheitern der BBC-Pläne zur Eröffnung von 65 Online-Portalen wohl auf sich hat und ob Ähnliches auch in Deutschland zu erhoffen sei. Außerdem stellt Hanfeld auch die jetzt vorgelegten Pläne zur Reform des Ausslandssenders Deutsche Welle vor.

Besprochen werden Hans Neuenfels' Berliner "Traviata"-Inszenierung (Jan Brachmann bezeigt großen "Respekt" vor ihrem "puritanischen Grimm"), ein Konzert mit Randy Crawford und Joe Sample in Frankfurt, das neue Guns'n'Roses-Album "Chinese Democracy", die Hamburger Manierismus-Ausstellung "Sturz in die Welt" und Werner von Koppenfels' komparatistische Studie "Der Andere Blick oder Das Vermächtnis des Menippos" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).