Heute in den Feuilletons

Der Kapitalismus hat so viele Gestalten

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.12.2008. Es ist Samstag. Den deutschen Feuilletons wird ganz feierlich, und sie lesen Geburtstagsmessen. John Milton wird 400. Elliott Carter wird 100. Alle gratulieren Noam Chomsky zum 80.. Und Jorge Semprun gibt zum 85. zwei Interviews in taz und Welt. Er spricht über die Krise und das Böse. In der NZZ erklärt Alexander Kluge, was ihn an Marx eigentlich interessiert.

TAZ, 06.12.2008

In Buchenwald habe er verstanden, was Freiheit ist, erklärt der Schriftsteller und Holocaust-Überlebende Jorge Semprun im Interview "Im Unterschied zum normalen Leben essen Sie im Lager weniger, schlafen weniger und sterben leichter. Aber der Hauptunterschied ist, dass Sie die freie Wahl haben. Im normalen Leben haben die Leute kaum eine Entscheidung zu treffen. Das wird von der Gesellschaft, von der Familie et cetera für sie erledigt. Aber unter den extremen Bedingungen des Konzentrationslagers, wo alles beschleunigt ist und schärfer und stärker als irgendwo sonst, ist die Wahl entscheidend. Die Wahl, Widerstand zu leisten. Die Wahl, solidarisch zu sein. Die Wahl, nicht vor einem SS-Mann zu kapitulieren, um eine zusätzliche Brotration zu bekommen." Im KZ habe man wirklich die Wahl gehabt. Auch "die Freiheit, das Böse zu tun. Das ist eine grundlegende Erfahrung für mich. Die meine Persönlichkeit bestimmt und strukturiert hat."

Andreas Fanizadeh hat zwei neue Bände mit Texten von und zu Noam Chomsky, dem Politaktivisten, gelesen, der heute seinen achtzigsten Geburtstag feiert. Freilich sieht Fanizadeh Chomsky sehr kritisch: "Man muss kein Befürworter der Bush-Doktrin sein, um zu sehen, dass die alten linken Denkweisen aus der Zeit des Kalten Kriegs die Situation in Afghanistan, Israel oder dem Irak heute kaum zu fassen kriegen."

Weitere Artikel: Wolfgang Storz, früherer Chefredakteur der Frankfurter Rundschau, schreibt über die Wiederkehr von Karl Marx und über die Chancen der Linken in der gegenwärtigen Krise des Kapitalismus. Saskia Draxler berichtet von der Art Basel Miami Beach. Ekkehard Knörer bringt ein paar Stichworte zum Thema Trauma der Teilung und Terror in Bollywood-Filmen.

Besprochen werden eine Christian-Boltanski-Installation in Berlin, Helma Sanders-Brahms' Clara Schumann-Film "Geliebte Clara" und Bücher, darunter Georg Meiers Erinnerungsroman "Alle waren in Woodstock, außer mir und den Beatles" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

In der zweiten taz erzählt Joachim Lottmann eine Weihnachtsgeschichte, wie nur Joachim Lottmann sie erzählen kann. Ralph Bollmann war dabei, als Roland Koch eine Laudatio auf Peer Steinbrück hielt. Auf 16 Extra-Seiten geht es - im ersten Teil einer Serie zu "30 Jahre taz" - um Zukunfts- als Klimafragen. Außerdem stellt Peter Unfried die neue sonntaz vor, die ab April 2009 (da wird die taz dann wirklich dreißig) immer am Samstag erscheint.

Und Tom.

Aus den Blogs, 06.12.2008

Jaja, die gute alte Öffentlichkeit und die guten alten Qualitätszeitungen, die sie angeblich vorantreiben. Robin Meyer-Lucht ist in seinem neuen blog Carta gar nicht so pessimistisch. Über den Strukturwandel der Öffentlichkeit und die Rolle des Netzes schreibt er: "Das Internet ist die über weite Teile klar überlegene Technologie zur Verbreitung journalistischer Inhalte und zur Herausbildung einer deliberativen Öffentlichkeit. Als zugangsoffener, universaler, vernetzter und kostengünstiger Medienträger vermag es Diskurse und Positionen viel besser und in höherer Komplexität abzubilden, als es das klassische Mediensystem je vermochte. Dass letzteres vor allem auch vermachtet ist, häufig mutlos, unoriginell, überheblich und absurd ineffizient, wird in der Debatte gerne verdrängt."

Wenn der Streit um das Handelsblatt-Blog Indiskretion Ehrensache überhaupt etwas positives hatte, dann nur, weil man auf den Artikel von Harald Staun in der letzten Sonntags-FAZ hingewiesen wurde. Staun macht sich Gedanken darüber, wie man mit Journalismus im Internet Geld verdienen kann: "Nicht nur das Wall Street Journal macht mit 'Premium'-Inhalten für Abonnenten auch online Umsatz, auch andere Informationsdienste sind mit Trend-, Markt- und Firmenanalysen erfolgreich. Ob das Modell auch jenseits des Finanzsektors funktioniert, will ab Januar die Global Post ausprobieren, ein Netzwerk von 70 Auslandskorrespondenten, das unter anderem auf bezahlte Inhalte setzt, etwa den Verkauf von ausführlichen Länderdossiers." (Mehr zur Global Post bei BeatBlogging)

Berliner Zeitung, 06.12.2008

Der britische Autor James Hopkin erzählt im Samstagsmagazin, wie er auf Einladung des Goethe-Instituts mit einer Künstlergruppe durch Georgien reiste, wo er auch Flüchtlinge aus Südossetien traf: "Viele haben zwar gesagt, dass Präsident Saakaschwili zu weit gegangen sei in seiner Reaktion auf die russische Provokation, aber alle waren sich einig, dass er irgendetwas habe machen müssen. Und jeder, mit dem ich sprach, war der festen Überzeugung, dass sowohl Südossetien als auch Abchasien urgeorgische Provinzen seien."
Stichwörter: Georgien, Südossetien

NZZ, 06.12.2008

Joachim Güntner unterhält sich mit Alexander Kluge über Karl Marx, dem Kluge gerade einen DVD-Essay widmete. Er meint, dass Marx über die Krise "keine über Adam Smith hinausgehenden Einsichten mitgeteilt hat... Was er aber sehr wohl beschreibt und was mich sehr bewegt: Diese Krisen kommen routinemäßig alle paar Jahre. Der Kapitalismus hat so viele Gestalten, und immer, wenn er mit einer komplexen scheitert, geht er auf die einfachere zurück. Das Kapital ist dauernd im Umbau begriffen, die neuen Anlagemöglichkeiten geben uns eine Idee davon. Die menschlichen Fertigkeiten aber brauchen, um sich herauszubilden, sehr viel länger. Die Schrift entstand vor 6000 Jahren und ist immer noch in Verwendung."

Weitere Artikel: Paul Jandl stellt Linz als Europas Kulturhauptstadt 2009 vor. Joachim Güntner hält nicht viel vom CDU-Vorschlag, Deutsch als Nationalsprache in der Verfassung zu verankern.

Besprochen werden eine Ausstellung über den Futurismus im Pariser Centre Pompidou, ein Konzert mit Maurizio Pollini in der Tonhalle Zürich und Bücher, darunter ein - bisher nur auf Englisch erschienener - Band über Elliott Carter und ein Essayband über Wolfgang Klähn und die Krise der Moderne (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In Literatur und Kunst gratuliert Anne C. Shreffler dem amerikanischen Komponisten Elliott Carter zum 100. Geburtstag. Theo Hirsbrunner schreibt zum 100. Geburtstag des französischen Komponisten Olivier Messiaen. Loel Zwecker beschreibt moderne Fälle von Kunstvandalismus. Robert Schneebeli schreibt zum 400. von John Milton. Hans Heinrich Meier, der gerade "Paradise Lost" für Reclam neu übersetzt hat, macht einige Anmerkungen zur Übersetzung von Johann Jakob Bodmer, die Milton im 18. Jahrhundert schlagartig in Deutschland berühmt machte.

FR, 06.12.2008

Sebastian Moll gratuliert dem Denker und Aktivisten, dem Linguisten und dem Amerika-Kritiker Noam Chomsky zum Achtzigsten. In einer Times Mager schreibt Harry Nutt darüber, was die Wissenschaft so alles festgestellt hat. In ihrer US-Kolumne erklärt Marcia Pally, wie es kam, dass ihre Krankenversicherung gekündigt wurde.

Besprochen werden eine Aufführung von Hans Pfitzners Oper "Die Rose vom Liebesgarten" in Chemnitz, eine Wiesbadener Aufführung von Stephan Toss' Tanzstück "Schwanensee", die Ausstellung "New Urbanity" im Deutschen Architektur-Museum in Frankfurt und - sehr kursorisch - Gerd Lüdemanns und Frank Schleritts Arno Widmann letztlich überzeugende "Arbeitsübersetzung des Neuen Testaments" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 06.12.2008

Jacques Schuster unterhält sich in der Literarischen Welt mit Jorge Semprun, der sich weiter als Linker bekennt, aber mit der linken Wunschvorstellung einer "finalen Krise" des Kapitalismus, nach der etwas ganz anderes kommt, Schluss machen will: "Es gibt kein Ende der Krisen, aber es gibt auch keine End-Krise, keinen totalen Zusammenbruch. Selbst wenn die Krise apokalyptisch ist, ist das nicht das Ende des Systems. Das gilt vor allem auch deshalb, weil es immer weniger antagonistische Kräfte in der Gesellschaft gibt, die die Krise nutzen, um ein neues System zu schaffen."

Im Feuilleton porträtiert Berthold Seewald den indischen Condottiere Shivaji, der vor 300 Jahren gegen die muslimischen Moguln kämpfte und heute zu einer Heiligenfigur der Hindunationalisten geworden ist. Hendrik Werner kommentiert noch einmal den CDU-Vorschlag, die deutsche Sprache in der Verfassung zu verankern. Wieland Freund gratuliert Noam Chomsky zum Achtzigsten. Michael Pilz meldet, dass sich die Berliner Band Knorkator auflöst.

In der Literarischen Welt erinnert Hannes Stein an John Milton, der vor 400 Jahren geboren wurde. Im Forumsessay fragt sich Tilman Krause, wie in der Gesellschaft mehr Bildung verbreitet werden kann.

Besprochen wird eine Inszenierung von Strindbergs "Traumspiel" in der Regie Barrie Kosky im Berliner Szeneclub Berghain.

FAZ, 06.12.2008

In Japan haben Verlage mit "mobile-phone-novels" 2006 zweiundachtzig Millionen Dollar umgesetzt, berichtet Hubert Spiegel. Hierzulande diskutierte man auf einem Kongress in München noch darüber, ob die eBooks in Deutschland ein Erfolg werden. "Gleich dreimal wurde den hundertfünfzig Teilnehmern aus deutschen Verlagshäusern von verschiedenen Referenten die jüngste Statistik des amerikanischen eBook-Marktes vorgelegt, denn dessen Wachstumskurve zeigt rasant nach oben: In nur drei Jahren hat sich der Umsatz nahezu vervierfacht. Das sollte gehirnstimulierend wirken. Wie ein Mantra wiederholten viele Referenten wie der bei Bertelsmann für Medientechnologie zuständige Johannes Mohn, Ralf Müller von DroemerKnaur oder Christian Guggemos von ciando ihre Aufforderung, sich der Herausforderung zu stellen und die Chancen wahrzunehmen."

Weitere Artikel: Philip Pullman verneigt sich vor John Milton, dem vor vierhundert Jahren geborenen Dichter von "Paradise Lost". Im spanischen Melilla wird ab 2010 das muslimische Große Hammelfest offizieller Feiertag, berichtet Paul Ingendaay. Deutsche Köche haben beim Gastronomie-Kongress "Lo mejor de la gastronomia" in San Sebastian einen "hervorragenden Eindruck" hinterlassen, freut sich Jürgen Dollase. Jürgen Kaube schreibt zum Achtzigsten von Noam Chomsky. Martin Wittmann rzählt die Geschichte von Henrik May, der sich mit seinen Eltern in Namibia eine neue Existenz aufgebaut hat. Im Leitartikel auf Seite 1 gratuliert Eleonore Büning dem Komponisten Elliott Carter, der somit nur wenige Tage jünger ist als Claude Levi-Strauss und genau ein Viertel so alt wie John Milton, zum Hundertsten.

Bilder und Zeiten druckt eine Geschichte von Michael Krüger: "Betrifft: Telekom". Hannes Hintermeier hat einen Ortstermin mit Gilbert Adair, dem "letzten lebenden Postmodernen des Königreichs". Die amerikanische Journalistin Pamela Druckerman, die gerade ein Buch übers Fremdgehen geschrieben hat, erklärt im Interview: "Seit ich in Frankreich lebe und mich intensiv mit dem Thema beschäftigt habe, würde ich es ganz klar vorziehen, nie von einem Seitensprung zu erfahren."

Besprochen werden eine Joan-Mitchell-Ausstellung in der Kunsthalle Emden, Dieter Dorns Inszenierung von Sean O'Caseys "Ende vom Anfang" und Bücher, darunter Jean-Yves Tadies Proust-Biografie (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Auf der Schallplatten- und Phonoseite geht's um Händelopern mit Joyce DiDonato, Paul McCartneys CD "The Fireman" und Musik von Marius Müller-Westernhagen.

In der Frankfurter Anthologie stellt Ulrich Greiner ein Gedicht von Friedrich Hölderlin vor:

"Der Sommer

Das Erntefeld erscheint, auf Höhen schimmert
Der hellen Wolke Pracht, indes am weiten Himmel
In stiller Nacht die Zahl der Sterne flimmert,
Groß ist und weit von Wolken das Gewimmel.
..."

SZ, 06.12.2008

Die Aufmacherseite ist Noam Chomsky gewidmet, der heute seinen achtzigsten Geburtstag feiert. Säuberlich auseinandergehalten werden Chomskys zwei Seiten. Thomas Steinfeld schreibt über den so einflussreichen wie in seinem Zugriff maßlosen Sprachwissenschaftler, der bis heute an der Idee einer universalen Grammatik festhält: "Sie ist eine Idee, deren Ursprung im christlichen Mittelalter liegt, im Glauben nämlich, Gott sei nicht nur Gott, sondern die Welt auch seine Verwirklichung." Andrian Kreye porträtiert, auch nicht ganz unkritisch, den Politaktivisten Chomsky: "Ohne den amerikanischen Kontext wirkt seine politische Arbeit antiquiert und dogmatisch. Und doch trifft weit über die Landesgrenzen der USA einen universellen Nerv. Dass zu seinen Verehrern auch Wirrköpfe wie Osama bin Laden und Hugo Chavez gehören, hat seinem Ruhm in der Linken bisher nicht geschadet."

Weitere Artikel: Alexander Menden schildert in einer Reportage die brutale Gewalt zwischen Jugendbanden in London. Gottfried Knapp stellt Umbaupläne für den heiligen Bezirk in Mekka vor. Jonathan Fischer hat sich mit dem HipHopper Chuck D. von Public Enemy unterhalten. YouTube & Co. wollen ab sofort etwas strenger mit pornografischen Bildern umgehen, ohne genau zu wissen, wo Grenzen zu ziehen wären, erklärt Bernd Graff. Jens Schneider informiert über heftig umstrittene Umzugs- und Neubaupläne der Hamburger Universität. Martin Z. Schröder schreibt zum Tod des Typografen Günter Gerhard Lange. Der Nachruf auf den Fluxuskünstler George Brecht ist von Catrin Lorch.

Besprochen werden Dieter Dorns Münchner Inszenierung von Sean O'Caseys "Das Ende vom Anfang", die Ausstellung "Multiple City - Stadtkonzepte 1908 bis 2008" in der Münchner Pinakothek der Moderne, der Animationsfilm "Madagascar 2" und Bücher, darunter Arnold Stadlers neuer Roman "Salvatore" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Im Aufmacher der SZ am Wochenende findet Sonja Zekri, wir sollten uns nicht von Terrorangst verrückt machen lassen und empfiehlt deshalb eine gewisse Sorglosigkeit. "Seien wir also feige, träge, unentschlossen, geben wir uns der Freude am Biedermeier, dem kleinen, ignoranten Genuss des Privaten hin."

Weiteres: Sebastian Beck hat die Zentrale der einst legendären Kamerabauer "Leica" besucht, die gerade den Aufbruch in eine bessere Zukunft versuchen. Rebecca Casati hat Keanu Reeves in einem Hotelzimmer zum Gespräch getroffen. Vorabgedruckt wird ein Ausschnitt aus Svealena Kutschkes Debütroman "Etwas Kleines gut versiegeln", der im nächsten Frühjahr erscheint. Im Interview mit Willi Winkler erklärt Woody Allen, dass die Klischees über ihn keineswegs stimmen: " Ich führe das typische Leben eines Nicht-Intellektuellen. Ich sitze bequem im Sessel, rechts habe ich ein Bier stehen, der Fernseher läuft, ich schaue mir ein Baseballspiel an und interessiere mich für nichts anderes als das Spiel."