Heute in den Feuilletons

Bruchstücke des Paradieses

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.12.2008. Die New York Review of Books publiziert die "Charta 2008", die von 300 chinesischen Intellektuellen unterzeichnet wurde. Die chinesische Polizei ist auch schon fleißig am Verhaften. Die Zeit redet mal Tacheles: Kino ohne Fernsehen ist hierzulande ein aufgeplusterter Subventionsbetrieb. Die NZZ kam in Thailand zu einer Entscheidung. Die SZ mahnt: Der Westen soll die Religionen einbinden. Sonst brechen sie aus.

Weitere Medien, 11.12.2008

Die New York Review of Books publiziert die "Charta 2008", die von über 300 chinesischen Intellektuellen, darunter auch Beamten der Regierung unterzeichnet wurde. Sie versteht sich auch als Hommage an die "Charta 77" und wurde mit Bedacht am 10. Dezember, dem Tag der Menschenrechte lanciert. Liu Xiabo, einer ihrer Initiatoren, und andere Unterzeichner wurden bereits am Montag verhaftet. Die Autoren stellen einen ganzen Katalog an Forderungen zur Demokratisierung Chinas auf. "Auch In China ist die Zeit der Kaiser und Fürsten abgelaufen. Es ist Zeit, dass sich die Bürger zu Herren des Staates erheben. Für China führt der Weg aus der jetzigen misslichen Lage über die Befreiung vom autoritären Begriff der 'aufgeklärten Oberherren' und 'ehrlichen Funktionäre'. Statt dessen muss es sich einem System der Freiheiten, der Demokratie und Gesetzesgeltung und eines modernen Bürgersinns zuwenden, der Rechte als grundlegend und Teilhabe als Pflicht ansieht."
Stichwörter: China, Menschenrechte, New York

Perlentaucher, 11.12.2008

Die Kundera-Generation hat sich zwar mit den Verbrechen des Kommunismus auseinandergesetzt, aber nur in fiktionalisierter Weise, meint Martin Simecka in einem abschließenden Text zur Kundera-Debatte. Leider steckt in dieser Ästhetisierung immer noch Verweigerung von Wirklichkeit: "Was, wenn es außer dem intellektuellen noch eine andere Art von Versagen gibt? Konnte ein junger Kommunist unter dem Regime in den frühen Fünfzigern mitmachen, ohne das Leben anderer Menschen zu beeinflussen, einfach durch sein Dabeisein, das Dinge einschloss wie die Hand bei Parteitreffen zu heben?"

Welt, 11.12.2008

Uwe Wittstock erzählt, das griechische Beispiel im Blick und inspiriert von Jon Savages Buch "Teenage", eine kleine Kulturgeschichte der Jugendrevolte: Freud habe dabei das "Bild der Urhorde" im Blick, "in der das stärkste Männchen unumschränkt herrscht und alle Weibchen für sich beansprucht - bis es Schwächen zeigt und seine bislang gedemütigten Söhne über ihn herfallen und ihn verspeisen. Vielleicht verbirgt sich hier ein Erklärungsmuster dafür, weshalb moderne Jugendrevolten gerade dann so oft eskalieren, wenn die staatliche (psychologisch gesprochen: die väterliche) Autorität einen der Aufbegehrenden tötet."

Weitere Artikel: In der Leitglosse erzählt Alan Posener aus der traurigen Existenz des Landedelmanns Eric Clapton, der sich angewöhnt hat, Fasane zu jagen und sich dafür eine riesige Jagdgewehrsammlung zugelegt hat. Michael Pilz unterhält sich mit Nana Mouskouri über Leben und Werk. Nach der Sperrung der Wikipedia-Seite mit dem Bild des Scorpions-Albums "Virgin Killers" kramt Matthias Heine auf der Suche nach weiteren zensierten Coves in seiner Plattensammlung. Hendrik Werner gratuliert dem Wort "Gammelfleischparty" (für Feiern mit älterem Publikum) zur Wahl des Jugendwort des Jahres. Hanns-Georg Rodek gratuliert Manoel de Oliveira zum Hundertsten. Ulrich Weinzierl meldet, dass selbst Salzburg zu Tsunamis fähig ist: Sie entstehen, wenn der Intendant der Festspiele Jürgen Flimm seinen Schauspielchef Thomas Oberender schasst.

Auf der Filmseite unterhält sich Peter Zander mit Cornelia Funke über die Verfilmung ihrer Fantasy-Romans. Besprochen wird außerdem das Remake des Komödien-Klassikers "The Women" (mehr hier).

NZZ, 11.12.2008

Samuel Herzog gehört zu denen, die in Thailand festsaßen, und hat in diesen Tagen eine entscheidende Erkenntnis gewonnen: "Je länger man seine Füße im Hotelpool kühlte und darüber nachdachte, welcher Weg denn wohl nun für einen selbst der richtige sei, desto deutlicher wurde eins: Es ging hier nicht nur um die Lösung eines Problems, es ging um eine Entscheidung, die für das eigene künftige Leben durchaus konstitutiv sein konnte - wie auch immer sie ausfallen würde. Wichtig schien es allerdings schon, überhaupt zu einer Entscheidung zu kommen - und nicht die Zeit für einen entscheiden zu lassen." Herzog hat sich über Kambodscha und Vietnam nach Singapur durchgeschlagen.

Besprochen werden William Forsythes Performance-Installation "You made me a monster" im Schiffbau Zürich und Bücher, darunter Rolf Schieders Studie "Sind Religionen gefährlich?" und Erwin Kochs Roman "Nur Gutes".

Auf der Filmseite bespricht Thomas Binotte Iain Softleys Funke-Verfilmung "Tintenherz", Josef Nagel gratuliert dem portugiesischen Regisseur Manoel de Oliveira zum Hundertsten.

FR, 11.12.2008

Arno Widmann hat sich drei große Ausstellung zu "Gandhara", "Rom und die Barbaren" sowie "Die Langobarden" angesehen und kommt in seiner assoziationsreichen Besprechung zu dem Schluss: "Vor allem aber haben wir entdeckt, dass Multikulti glücken und dass es scheitern kann. Die Barbaren, die Rom nahmen, zerstörten die alten Götter, zerschlugen die Kultur, von der sie doch auch ein Teil waren, und es dauerte Jahrhunderte bis wieder zum Beispiel Menschenwürde gezeigt, von Menschenrechten gesprochen wurde. In Gandhara klappte ein paar Jahrhunderte lang die Verbindung. In Trier dauerte es Jahrhunderte bis wieder eine zustande kam."

Weiteres: Als großen Wurf preist Johannes Wendland den Erweiterungsbau für die Moritzburg in Halle. In Times mager deutet Harry Nutt in Didi Hallervordens Übernahme des Schlossparktheaters als weiteren Hinweis darauf, wie abgeschrieben der Berliner Westen ist. Hans-Jürgen Linke schreibt zum Hundertsten des Komponisten Elliott Carter.

Besprochen werden Scott Derricksons "stilloses" Remake von "Der Tag, an dem die Erde stillstand" mit Keanu Reeves, das ebenfalls als "fade" geschmähte Remake von George Cukors "The Women", Iain Softleys Funke-Verfilmung "Tintenherz" und Norbert Niemanns Roman "Willkommen neue Träume".

nachtkritik, 11.12.2008

Elisabeth Wellershaus wirft einen Blick auf Londons afro-karibische Theaterszene in London, deren Aufbruch offenbar ein wenig skeptisch betrachtet wird: "Vor allem Geschichten über die Missstände innerhalb der schwarzen Communities stehen hoch im Kurs, da sie mittlerweile einen beachtlichen Teil der Gesamtbevölkerung ausmachen. So entstehen immer mehr Stücke über die Gewalt in den Vororten, über die prekären ökonomischen Verhältnisse von afro-karibischen Einwandererfamilien oder über den ganz alltäglichen Rassismus. Der Dramatiker Kwame Kwei-Armah, der sich in den 90er Jahren noch als Soap Opera Star verdingte, ist innerhalb weniger Jahre zum schwarzen Liebling einer weißen Kulturszene mutiert. Seither muss er sich der Frage stellen, ob er sich dem Geschmack der vorrangig weißen Intendanten angepasst hat. Oder ob er mit Stücken wie 'Statement of Regret' und 'Elminas Kitchen' zum Sprachrohr der schwarzen Communitys geworden ist."

Zeit, 11.12.2008

"Kino ohne Fernsehen ist hierzulande: nichts. Es ist keine eigenständige Industrie, sondern ein aufgeplusterter Subventionsbetrieb", ärgert sich Katja Nicodemus über die kartellartigen Zustände in der Kinoförderung, bei der die Fernsehsender immer rigoroser ihre Interessen durchsetzen. "Vielleicht liegt im schizophrenen Verhältnis der Sender zum Kino auch der Grund für einen unhaltbaren Umstand, einen echten Skandal: Die Gebührenzahler subventionieren das Kino dieses Landes zwar mit Millionenbeträgen. Auf dem Bildschirm ist es aber so gut wie unsichtbar. Bis auf wenige Ausnahmen wird es in der Nacht versteckt, von festen Programmplätzen ist gar nicht zu reden. Es ist schlichtweg absurd, dass zum beispiel fatih Akins Berlinale-Siegerfilm und internationaler Kinoerfolg 'Gegen die Wand' seine Erstausstrahlung in der ARD an einem Donnerstag um 22.45 Uhr erlebte."

Weiteres: Peter Kümmel unterhält sich mit dem Erfolgsschauspieler Joachim Meyerhoff. "Feliz aniversario" ruft Wim Wenders seinem portugiesischen Regiekollegen Manoel de Oliveira (mehr hier) zum Hundersten zu. Besprochen werden die Schau Alter Meister im Städel Museum in Frankfurt, Claus Peymanns Wedekind-Inszenierung "Frühlings Erwachen" am Berliner Ensemble sowie die Funke-Verfilmung "Tintenherz".

Auf der Meinungsseite sieht der niederländische Publizist Paul Scheffers in Barack Obama vor allem einen "Sieg über das Schubladendenken" und einen Kronzeugen für die These, dass der Groll gegenüber Einwanderern auch begründet sein kann: "Es sind nicht nur die Migranten, die unter der Unsicherheit leiden; es leiden auch diejenigen, die schon in dem aufnehmenden Land lebten, das schließlich kein unbeschriebenes Blatt war."

Im Literaturteil bespricht Eva Geulen den Briefwechsel zwischen Theodor W. Adorno und Siegfried Kracauer. Im Reiseteil erzählt Ilija Trojanow von einer Kreuzfahrt in Antarktis.

TAZ, 11.12.2008

In einem Gespräch erklärt der inzwischen 85jährige Filmregisseur, Schriftsteller und Kurator Jonas Mekas, der als Pate des amerikanischen Avantgardekinos gilt, den Unterschied zwischen Filmemacher und Filmer, was er an YouTube schätzt und warum er nicht auch die negativen Seiten des Lebens filmt: "Ich überlasse es anderen, das zu zeigen. Ich möchte Situationen fördern, in denen Menschen am Leben und der Welt um sie herum Spaß haben. Das hat etwas mit meiner Kindheit in Litauen zu tun, wo die Menschen in allen vier Jahreszeiten das Leben gefeiert haben. Ich filme, was mich glücklich macht. Ich nenne das immer 'Bruchstücke des Paradieses'. Das sind die Dinge, die niemandem schaden und unser aller Leben humaner und schöner machen. Das ist meine Politik." Eine Ausstellung über Mekas mit begleitendem Filmprogramm zeigt derzeit das Museum Ludwig in Köln.

Als ältesten aktiven Filmemacher der Welt überhaupt würdigt Claudia Lenssen den heute hundert Jahre alt werdenden portugiesischen Regisseur Manoel de Oliveira, der sich dem zwanghaften Unterhaltungskino des Salazar-Regimes nicht unterwerfen wollte und dessen Karriere erst nach Ende der fast fünf Jahrzehnte dauernden Diktatur Fahrt aufnahm. Barbara Schweizerhof resümiert das Kinojahr 2008 und stellt fest: Es war schwer "testosteronlastig".

Besprochen werden das "nicht fies genug" geratene Remake von George Cukors Klassiker "The Women" von Diane English mit Meg Ryan, Annette Bening und Eva Mendes, der Thriller "Der Tag, an dem die Erde stillstand" von Scott Derrickson und das Buch "Triksta" des Briten Nik Cohn, worin er erzählt, wie er versuchte, das ultimative Southern-Hiphop-Album zu produzieren. (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

Hier Tom.

FAZ, 11.12.2008

Die geburtstagsseligen deutschen Feuilletons kriegen immer mehr Arbeit. Inzwischen gibt es schon zwei Mal täglich einen Hundertjährigen: Quietschfidel ist Elliott Carter, dem Julia Spinola zum glücklichen Ereignis gratuliert. Der ebensoalte Manoel de Oliveira macht sogar noch Filme, wie Walter Haubrich auf der Kinoseite versichert. Oliver Jungen mahnt in der Leitglosse: Vorsicht mit chinesischen Schriftzeichen, mit denen man etwa ein T-Shirt oder auch ein Magazin des Max-Planck-Instituts (mehr hier) schmücken will - sie könnten eine Bedeutung haben. Gemeldet wird, dass Karl Schlögel im nächsten Jahr für sein Buch "Terror und Traum" den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2009 erhält. Literaturchefin Felicitas von Lovenberg annonciert den nächsten Feuilletonroman der FAZ, Walter Kappachers "Fliegenpalast". Hansgeorg Hermann fürchtet in einem anlasslosen Artikel, dass begabte Schriftsteller aus kleinen Ländern mangels Übersetzungen kein internationales Gehör finden. Wolfgang Sandner gratuliert dem Jazzpianisten McCoy Tyner zum Siebzigsten. Gina Thomas berichtet über die Schließung von Schulbibliotheken in England.

Klemens Ludwig porträtiert die tibetische Sängerin und buddhistische Nonne Ani Choying, die im nepalesischen Exil die Arya-Tara-Nonnenschule eröffnete und sich somit um die Ausbildung der auch im Buddhismus benachteiligten Mädchen verdient macht. Hier kann man sie singen hören:



Für die Kinoseite besucht Marco Schmidt das Filmfestival von Marrakesch und erzählt, dass sich das Land anschickt, Holly- und Bollywood Konkurrenz zu machen. Auf der Medienseite unterhält sich Jan Wiele mit dem abgesetzten Radioveteran Volker Rebell über das Aussterben von Popsendungen: "Die kreative Auseinandersetzung mit der Musik geht verloren. Popmusik sollte als Kunstform ernster genommen werden - mich fasziniert besonders der erzählende Charakter von Liedern. Nehmen Sie etwa Dylan oder Cohen. Mir ging es immer darum, die Faszination der Texte und der Musik zu verstehen und das im Radio zu vermitteln." Gemeldet wird, dass der Playboy-Konzern in wirtschaftliche Schwierigkeiten gerät.

Für die Medienseite besucht der ehemalige Literaturchef Hubert Spiegel das von Mirko Schädel, dem Verleger der Achilla Presse, eingerichtete Krimimuseum in Stollhamm, das zur Gemeinde Butjadingen gehört, am Jadebusen. Gina thomas meldet, dass der "Blaue Wittelsbacher" in London für 14,6 Millionen Pfund versteigert wurde. Mark Siemons schreibt ein Profil des Philosophen, Literaturwissenschaftlers und chinesischen PEN-Vorsitzenden Liu Xiaobo, der am Montag von der chinesischen Polizei festgenommen wurde - er hat vor kurzem zusammen mit anderen westlich orientierten chinesischen Intellektuellen die"Charta 2008" verfasst.

Besprochen werden die Ausstellung "Stadt Land Pop - Popmusik zwischen westfälischer Provinz und Hamburger Schule" auf dem Kulturgut Haus Nottbeck in Oelde-Stromberg und zwei Ausstellungen über holländische Landschaftsmalerei und -fotografie in München.

SZ, 11.12.2008

Schade. Die Print-SZ hat ihre Artikel wieder eingepackt. Keine Links mehr.

Gustav Seibt plädiert für Einbindung der Religionen, etwa durch Religionsunterricht, und gegen einen bloßen Säkularismus, besonders auch im Fall des Islams: "Solange der muslimische Teil der Gesellschaft im Durchschnitt frömmer lebt und denkt als der nominell noch christliche, kann auch staatlicher Säkularismus wie ein Oktroi wirken. Im Großen erleben wir das bei jenen Streitigkeiten über Karikaturen oder Rushdie-Lesungen in Moscheen, wo glaubenslose postchristliche Zeitgenossen die Meinungsfreiheit und Toleranz von Muslimen provokativ testen und den Voltaire auf fremdem Terrain geben." (In Kirchen ist es ja ohnehin risikoloser!)

Weitere Artikel: Petra Steinberger betrachtet Alex MacLeans Panoramafotos zerstörter amerikanischer Landschaften, die jetzt in einem Bildband bei Schirmer/Mosel veröffentlicht wurden. Christine Dössel und Wolfgang Schreiber berichten über Personalquerelen in der Leitung der Salzburger Festspiele. In den Meldungen wird über einen Offenen Brief von Ex-DDR-(und anderen)-Filmschaffenden an Volker Schlöndorff berichtet, der sich abfällig über die Filme der Defa geäußert hatte. Auf der Filmseite wirft Susan Vahabzadeh einen Blick auf die Geschichte von Fitzgerald-Verfilmungen - der gerade in den USA angelaufene Film "Der seltsame Fall des Benjamin Button" mit Brad Pitt ist nur das jüngste Beispiel. Rainer Gansera gratuliert Manoel de Oliveira zum Hundertsten. Norbert Dömling gratuliert dem Jazz-Pianisten McCoy Tyner zum Siebzigsten. Auf der Literaturseite stellt Alex Rühle das Internetprojekt "Zehnseiten" vor, auf dem Autoren zehn Seiten aus ihren jüngsten Werken lesen.

Auf der Medienseite erklärt Ralf Wiegand, warum es der Zeit wirtschaftlich so gut geht. Helmut Schmidt wird 90, und sämtliche Unternehmen der Republik dürfen "in gleich zwei Sonderpublikationen der Wochenzeitung Die Zeit (Herausgeber: Schmidt) Anzeigen platzieren". Hoffen wir, dass sich auch die Tabakindustrie dankbar erweist!

Besprochen wird neben neuen Filmen Richard Wagners "Götterdämmerung" unter Sven-Eric Bechtolf und Franz Welser-Möst in Wien.