Heute in den Feuilletons

Proustisches Konzil von Nicäa

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.12.2008. Die Kundera-Affäre? Nichts als Lügen, behauptet Antonin Liehm in der Welt. In der taz geißelt Michael Kleeberg den Snobismus der hiesigen Proustianer. Wo gibt es keine Zeitungskrise? Wo wird die Liebe in tausend Nuancen beschrieben? In Japan, meldet die NZZ. Warum Chinatown, Little India oder Klein-Istanbul Orte der Integration sein können, erklärt Robert Kaltenbrunner in der SZ. In der FAZ dreht sich alles um Charles Darwin.

Welt, 13.12.2008

In der Literarischen Welt gratuliert Fritz J. Raddatz dem Kollegen Joachim Kaiser zum Achtzigsten: Große Bewunderung, Applaus fürs Lebenswerk und eine Kritik. Dass Kaiser sich als unpolitisch definiert, hat Raddatz nie geschmeckt. Denn: "War da nicht noch etwas? Kaiser nimmt weder das entsetzliche Schicksal der Emigranten wahr, noch den Umstand, dass keiner von ihnen von offizieller deutscher Seite je zurückgerufen wurde. ... das Leid, verjagt, verfemt, gedemütigt zu sein, das schwarze Unglück Abertausender kommt bei ihm nicht vor; so wenig, wie die unwillkommene Rückkehr ihres Werks - von Feuchtwanger bis Leonhard Frank."

Peter Stephan Jungk geht mit Lettre-Gründer Antonin Liehm ins Kino (sie sehen Ridley Scotts "Der Mann, der niemals lebte"). Beim anschließenden Gespräch geht es auch um Milan Kundera. "Wie haben Sie auf die Anschuldigungen gegen Ihren langjährigen Freund Milan Kundera reagiert?" - 'Das ist der tschechische Fortschritt vom Kommunismus in die Gegenwart: früher gab es Schauprozesse, heute gibt es den Rufmord. Früher wurden die Unschuldigen gehenkt, heute genügt den Henkern der Rufmord. Die Redaktion dieses scheußlichen Magazins Respekt hat pure Lügen in die Welt gesetzt, glauben Sie mir das. Kundera ist in diese Sache nicht verwickelt gewesen. Wo sind die Beweise? Eine Fotokopie? Lächerlich!'" Der Perlentaucher hat den abschließenden Essay des Respekt-Redakteurs Martin Simecka übersetzt.

Weiteres: Ulrich Weinzierl hat aus den "Politikerbeschimpfungen" des Wiener Journalisten Michael Fleischhacker gelernt: Auch Schimpfen will gelernt sein. Abgedruckt ist Rachel Salamanders Laudatio auf den israelischen Schriftsteller David Grossman anlässlich der Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises. Besprochen werden unter anderem Robert Olmstedts Erziehungsroman "Der Glanzrappe" und Jürgen Kestings Buch über "Die großen Sänger".

Im Feuilleton resümiert Hannes Stein die - nicht sehr positiven - amerikanischen Kritiken zur Verfilmung von Bernhard Schlinks "Der Vorleser", die gleichwohl für vier golden Globes nominiert wurde. Harald Peters bestaunt "aufblasbare Bananen, Brüsete, Herzen und Hot Dogs beim Red-Piano-Konzert von Elton John. Ulli Kulke annonciert die heutige Eröffnung des Urzeit-Erlebnisparks "Praehistorium" durch Al Gore. Uta Baier beschreibt das neue Kunstmuseum in der Moritzburg in Halle, das heute eröffnet wird. Gernot Facius schreibt zum Siebzigsten des Befreiungstheologen Leonardo Boff. Matthias Heine schreibt zum Tod von Bettie Page. Besprochen wird die Ausstellung "Man spricht Deutsch" im Bonner Haus der Geschichte, die bald durch die Goethe-Institute wandern soll.

Auf der Forumsseite porträtiert Nathan Gardels die amerikanische Journalistin Arianna Huffington und ihr megaerfolgreiches Internetblog, die Huffington-Post.

FR, 13.12.2008

Gar nicht einverstanden ist Daniel Kothenschulte mit dem nun beschlossenen EU-weiten Abschied von der Glühlampe - und er führt dazu nicht weniger als Edward Hopper, das Bauhaus und seinen eigenen Garderobenspiegel ins Feld. Die Schriftstellerin Marica Bodrozic berichtet, wie sie in Nowosibirsk die Westlerin in sich entdeckte. Harry Nutt hat das Raubkunst-Symposion "Verantwortung wahrnehmen" besucht. In einer Times Mager setzt sich Christian Schlüter mit einer aktuellen "Instruktion" der Katholischen Kirche zur Bioethik auseinander. In ihrer Kolumne schildert Marcia Pally, wie die US-Bürger der Krise mit Konsum begegnen. Auf der Medienseite beschreibt Annika Joeres die Sparkonzepte der WAZ.

Besprochen werden ein Frankfurter Konzert mit dem Cellisten Leonard Elschenbroich und der Pianistin Anna Vinnitskaya, ein Wiesbadener Konzert des Ensemble X und Bücher, darunter der Briefwechsel zwischen dem Theologen Karl Barth und seiner Geliebten Charlotte von Kirschbaum (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 13.12.2008

Der Schriftsteller und Proust-Übersetzer Michael Kleeberg nimmt die jetzt in deutscher Sprache erschienene Proust-Biografie von Jean-Yves Tadie zum Anlass, den Snobismus der Proustianer zu geißeln. Kleeberg hat da als Proustübersetzer eigene Erfahrungen gemacht. "Es muss irgendwann ein proustisches Konzil von Nicäa stattgefunden haben, bei dem postuliert wurde, dass alle deutsche Proust-Beschäftigung von Ernst-Robert Curtius ausgehe, von ihm auf Eva Rechel-Mertens gekommen sei und exklusiv vom Hause Suhrkamp und der Proust-Gesellschaft verwaltet werde. Nun verstand ich, worauf sich das Gerede von 'Wagnis' und 'Nicht einverstanden' bezog. Aufs Prinzip. Nicht wie ich gearbeitet hatte, stand infrage, sondern dass ich mich ohne die Kaution eines der deutschen Starverlage und ohne Mentor aus dem deutschen Proust-Serail (Tadie, mit dem ich mich bei der Arbeit mehrmals ausgetauscht hatte, hätte hier wenig gezählt) an einem vermeintlichen Privateigentum vergriff."

Taz-Musikredakteur Tobias Rapp findet, es ist höchste Zeit, eine Qualitätsdebatte über das öffentlich-rechtliche Radio und sein Musikverständnis zu beginnen: "Ein öffentlich-rechtliches Radio müsste ... einfach nur versuchen, Verbindungen zwischen Künstlern und Szenen, Genres und Ländern herzustellen. Auch wenn sie auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben. Nur so lässt sich so etwas wie eine 'Öffentlichkeit'konstituieren. Stattdessen ist Idee von 'Öffentlichkeit', die hinter den Programmkonzepten der öffentlich-rechtlichen Sender steckt, rein quantitativ ausgelegt. Über die Quote. Man müsste sie aber qualitativ denken."

Weiteres: Auf den vorderen Seiten gratuliert Daniel Cohn-Bendit dem taz-Redakteur Christian Semler zum Siebzigsten und stellt fest: "Christian ist das lebendige Gedächtnis der linken Revolte." In der zweiten taz gibt es die Adventsgeschichte "Das allerletzte Abendmahl" von Ulli Hannemann zu lesen. Arno Frank prangert den Missbrauch von Musik zu Folterzwecken an (und präsentiert die Hitparade von Guantanamo).

Besprochen werden Marianne Faitfulls Doppel-CD ""Easy Come, Easy Go", und Bücher, darunter Robert Pfallers Essayband "Das schmutzige Heilige und die reine Vernunft", neue Bücher zur Finanzkrise und Tilman Rammstedts Roman "Der Kaiser von China" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Im Dossier des taz mag unterhält sich Gina Bucher mit dem Philosophen Ludger Heidbrink über die Tücken des moralischen Konsumierens. Heidbrink erklärt: "Deshalb unterscheide ich zwischen dem moralischen und dem verantwortlichen Konsumenten. Denn der moralische Konsument ist noch lange kein verantwortlicher. Ersterer kauft moralisch gekennzeichnete Produkte. Der verantwortliche Konsument aber geht weiter und überlegt, ob die moralisch gelabelten Produkte diesen Ansprüchen auch tatsächlich genügen."

Und Tom.

NZZ, 13.12.2008

Urs Schoettli meldet, dass in Japan von einer Zeitungskrise keine Rede sein kann. Die immer zahlreicher werdenden Senioren erweisen sich als treueste Leser. "Hier werden täglich 624 Tageszeitungen pro 1000 Erwachsene verkauft. Dies ist zweieinhalbmal mehr als in den USA. Mit einer täglichen Auflage von zehn Millionen Exemplaren ist die Zeitung Yomiuri Shimbun der Welt auflagenstärkste Tageszeitung. Dabei handelt es sich nicht um eine Boulevardzeitung, sondern um ein Qualitätsblatt, das zur Meinungspresse gehört. Während im Verlauf der vergangenen zehn Jahre die Gesamtauflage der japanischen Presseerzeugnisse um 3,2 Prozent zurückgegangen ist, konnten alle fünf großen nationalen Qualitätszeitungen ihre Auflage halten."

Weiteres: Joachim Güntner lotet die Bedeutung des Autos aus, das nicht einfach als Mythos oder Fetisch abgehandelt werden könne: "Biologisch gesehen ist das Auto der Krebs des Planeten. Neurobiologisch aber - ein Mysterium." Besprochen werden eine Ausstellung des Pariser Maler Edouard Vuillard in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe und viele, viele Bücher, darunter Roddy Doyles Roman "Paula Spencer", Dorothea Dieckmanns Erzählung "Harzreise", Galsan Tschinags Roman "Die Rückkehr" und der Briefwechsel zwischen Karl Barth und Charlotte von Kirschbaum.

In Literatur und Kunst stellt Leopold Federmair die "Geschichte vom Prinzen Genji" vor, den ersten psychologischen Roman der japanischen Literatur. Verfasst hat ihn die Hofdame Murasaki Shikibu im Jahr 1008: "Das 'Genji Monogatari' ist kein Heldenepos wie die großen Bücher des europäischen Mittelalters, Murasakis Figuren tun sich nicht durch Kriegslust und Grausamkeit hervor, sondern durch Kunstsinn und persönliche Ausstrahlungskraft, durch Raffinement und psychologisches Geschick im Umgang mit den anderen; und die Liebe, die hier in tausend Nuancen beschrieben wird, hat nichts von der starren Rhetorik der höfischen Dichtung Europas."

Außerdem gibt Thoma Leuchtenmüller einen Überblick über afroamerikaniche Literatur. Der Theologe Othmar Keel schreibt über Gottesmodelle.

SZ, 13.12.2008

Der Stadtplaner Robert Kaltenbrunner weist in einem Essay über die Bedeutung städtischen Raums für das Soziale darauf hin, dass Homogenisierung in Stadtvierteln keineswegs immer von Übel ist: "Phänomene wie Chinatown oder Little India erbringen eine enorme Integrationsleistung für die jeweils betroffenen städtischen Gesellschaften, werden oftmals auch als Bereicherung, gar als touristische Attraktion empfunden. Einerseits Anlaufpunkt und Auffangnetz für Einwanderer, andererseits möglicherweise ein Ort, an dem die Ordnungsvorstellungen der Mehrheitsgesellschaft ein Stück außer Kraft gesetzt werden. Kaum je wird daraus aber die Folgerung gezogen, dass ethnisch segregierte Gebiete auch Orte der Integration und ein Potential für die Produktivität der Stadt seien."

Weitere Artikel: In inzwischen SZ-typischer Vorabberichterstattung schreibt Willi Winkler von seinem Besuch der Dreharbeiten zu Heinrich Breloers "Buddenbrooks"-Verfilmung. Burkhard Müller macht sich Gedanken über die Phrasen und klischierten Bilder, mit denen die Wohltätigkeitsorganisationen vor Weihnachten werben. Wie immer wieder gar nicht überraschend die deutschlandweite "Unser Dorf soll schöner werden"-Kampagne mit dem Namen "Land der Ideen" ist, wird nicht zuletzt daran deutlich, dass nun ausgerechnet - Tobias Lehmkuhl kommentiert - die "O 2"-World als einer von 364 Orten ausgewählt wurde, die zeigen, wie "vielfältig, kreativ, faszinierend, immer wieder überraschend" Deutschland ist. Über bedrohliche Mittelkürzungen beim französisch-deutschen Historikerzentrum Centre Marc Bloch berichtet Kaspar Renner. Georg Klein gratuliert dem Sänger und Playbacklippenbeweger Heino zum Siebzigsten. Hans Schifferle schreibt zum Tod von Bettie Page.

Besprochen werden der von Claus Guth inszenierte "Tristan" in Zürich, die Ausstellung "Zeit der Helden" im Karlsruher Schloss und Bücher, darunter Eckhard Henscheids "Gott trifft Hüttler in Vaduz" und Emma Braslavskys Roman "Das Blaue vom Himmel über dem Atlantik" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Im Aufmacher der SZ am Wochenende schreibt Gerhard Matzig über den Niedergang des Berufsbilds Architekt. Harald Hordych porträtiert aus nächster Nähe den Hochleistungs-Manager Eckhard Spoerr ("Freenet"). Auf der Historienseite fragt Nikolaus Piper nach "Mythos und Wirklichkeit" des New Deal. Rebecca Casati unterhält sich mit dem vor allem in den USA äußerst erfolgreichen komischen Schriftsteller David Sedaris über seinen Erfolg und über Voraussetzungen des "Humors". Eines ist schon mal klar, meint er: "Bei Komikern ist Schönheit eher hinderlich. Sie werden kaum einen Adonis unter den großen Komikern dieser Welt finden." Auf zwei Seiten gibt es außerdem die SZ-KritikerInnen-Jahresbilanz mit Empfehlungen aus dem Kulturbereich.

FAZ, 13.12.2008

In der FAZ dreht sich alles um Charles Darwin, dessen zweihundertster Geburtstag im nächsten Jahr gefährlich naherückt. Julia Voss etwa glaubt, dass Michael Ende seinen Darwin sehr genau gelesen hat. Sie beschreibt, wie nach jahrlanger Fahrt ein Schiff in das England der 1830er Jahre zurückkehrte: "An Bord befand sich ein farbiger Junge, der, wie ein Findling ohne Wurzeln und Herkunft, in einer neuen Welt die Augen aufschlägt. Sein Name: Jemmy Button. Zwei Jahre musste dieses Kind auf der Insel aushalten. Dann reiste es zurück in das Land seiner Herkunft. Einem Mitreisenden verdanken wir eine Charakteristik des Kindes: 'Jemmy Button war der Liebling aller, aber ebenfalls leidenschaftlich; sein Gesichtsausdruck zeigte sogleich sein freundliches Gemüt. Er war fröhlich, lachte oft und war bemerkenswert mitfühlend mit allen, die Schmerzen litten.' Der Mitreisende, der dies schrieb, war Charles Darwin. Das Schiff, auf dem es sich zutrug, war die HMS Beagle." Und wenn Voss dann noch sieht, welch rassistischen Hierarchien in der Drachenstadt von Kummerland herrschen, dann versteht sie endgültig, "Jim Knopf" als Gegenerzählung zum nationalsozialistisch pervertierten Darwinismus zu lesen.

In weiteren Artikeln untersucht Jürgen Dollase, ob auch darwinistische Prinzipien in der Spitzenküche wirken. Janet Browne weist darauf hin, dass Darwin nicht am Schreibtisch, sondern im Sessel arbeitete. Patrick Bahners liest Walter Bagehot als den ersten Sozialdarwinisten. Die Kunsthistorikerin Pamela Kort geht Darwins Spuren im Werk von Max Ernst nach. Und Joachim Müller-Jung korrigiert Darwins Erkenntnisse zur Vogelwelt.

Darwin auch in Bilder und Zeiten, aber etwas systematischer: Der Evolutionsbiologe Matthias Glaubrecht rekonstruiert, wie Darwin seine Theorie entwickelt hat. Der Zoologe Axel Meyer erklärt, womit sich der moderne Darwinismus heute beschäftigt. Cord Riechelmann stellt Darwin als Botaniker vor. Jürgen Kaube unterhält sich mit dem Literaturwissenschaftler Franco Moretti über literarische Ökosysteme und die Selektion in Leihbibliotheken. Kaube sieht sich auch an, wie die Evolutionstheorie an Schulen unterrichtet wird. Und Thomas Anz liest Dietmar Daths "Abschaffung der Arten".

In der Randglosse merkt Gina Thomas an, dass sich im Oxford Junior Dictionary keine Einträge mehr zu Monarch, Kirchenschiff oder Weihnachtslied mehr befinden, dafür aber zu attachement, chatroom und celebrity.

Besprochen werden Thomas Ostermeiers Inszenierung von Ibsens "Borkman" in Rennes" und auf der Plattenseite neue Brahms-Aufnahmen, Country-Sampler und Britney Spears' neues Album "Circus"