Heute in den Feuilletons

Alle Lustigkeit vermeidend

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.12.2008. Die NZZ stellt den koreanischen Blogger Minerva vor, der die Krise voraussagte und nun die koreanischen Börsianer in Angst und Schrecken versetzt. In der Welt sieht der Politologe Walter Russell Mead Barack Obama als den am wenigsten europäischen US-Präsidenten aller Zeiten. In der Wirtschaftswoche will der Soziologe Gerhard Schulze nicht in die Abgesänge auf den Kapitalismus einstimmen. Die FAZ betrachtet das Projekt eines "Hauses der Europäischen Geschichte" mit Skepsis.

NZZ, 15.12.2008

Ho Nam Seelman erzählt die Geschichte des neuen koreanischen Star-Bloggers Minerva, der den Untergang von Lehman Brothers und den tiefen Fall der Währung Won vorausgesagt hatte. Dabei versichert Seelmann schreibe Minerva, über dessen oder deren Identität das ganze Land rätselt, scharfsinnig und unterhaltsam: "Minerva umweht ein Hauch von 'Internet-Robin-Hood'. Seine Aussage, dass der Kospi, der koreanische Börsenindex, der, dramatisch abgestürzt, gegenwärtig um 1000 herum laviert, bis auf 500 fallen könnte, löste bei Bürgern, Unternehmern und Politikern große Unruhe aus. Dabei hatte der neue Präsident, Lee Myong-Bak, bei seinem Amtsantritt versprochen, den Index auf 3000 zu heben. Die Regierung, die ohnehin unter einem ungewöhnlich tiefen Popularitätswert leidet, reagierte zunehmend genervt auf die Kritik aus dem Dunkel der virtuellen Welt und drohte, Minerva ausfindig zu machen und wegen seines angeblich staatsschädigenden Verhaltens zu verklagen."

Der Historiker Michael Kempe erklärt in einem weiteren spannenden Artikel, warum die somalischen Piraten mit ihren historischen Vorläufern Henry Every, William Kidd und Blackbeard nicht wirklich zu vergleichen sind: "Am Zugang zum Roten Meer lauerten Everys Raubschiffe der indischen Pilger- und Handelsflotte auf dem Weg nach Surat auf. In die Hände fiel ihnen im September 1695 die 'Gang-i-Sawai', ein reich beladenes Schiff des indischen Großmoguls Awrangzeb mit einer atemberaubenden Beute: über fünfhunderttausend Gold- und Silbermünzen, zahlreiche Truhen mit Edelsteinen sowie ein mit Rubinen besetztes und mit Gold verziertes Sattel- und Zaumzeug, eigentlich gedacht als Geschenk für den Großmogul. Der Gesamtwert des Erbeuteten kann sich durchaus messen lassen mit den zwei Millionen Barrel Rohöl im Wert von achtzig Millionen Euro, die sich auf der neulich gekaperten 'Sirius Star' befinden. Während jedoch die Motorbootpiraten die Besatzungsmitglieder des saudischen Supertankers am Leben ließen und als Geisel nahmen, wüteten Everys Männer mehrere Tage. Sie richteten ein Blutbad an."

Weiteres: Piero Salabe befragt noch einmal den "Gomorrha"-Autor Roberto Saviano zu seiner Mafia-Recherche und den Anfeindungen, die es ihm eingebracht hat. Dirk Pilz erkennt in der laufenden Saison einen Trend im deutschen Theater: "Wir erleben die Apotheose des Authentischen." Sabine Riedel begibt sich ins thüringische Großburschla, das zu DDR-Zeiten nach drei Seiten hin von Minenfeldern umgeben war.

Welt, 15.12.2008

Hannes Stein unterhält sich mit dem amerikanischen Politologen Walter Russell Mead ("God and Gold"), der offensichtlich eine ziemlich euphorische Vision von der Mission Amerikas hat und uns über den President elect Folgendes zu bedenken gibt: "Barack Obama ist der am wenigsten europäische Präsident, den wir je hatten. Er stammt aus Kenia, verbrachte seine Kindheit in Indonesien und wurde auf Hawaii geboren, dem am weitesten von Europa entfernten aller amerikanischen Bundesstaaten. Die Wahl Obamas bedeutet, dass Amerika sich von der Vergangenheit ab- und der Zukunft zuwendet - und Europa ist für die meisten Amerikaner ein Teil der Vergangenheit. Wir schauen von nun an in Richtung Westen, in Richtung Pazifik."

Weiter Artikel: In der Leitglosse empfiehlt Michael Pilz das Abspielen möglichst lautstarker Popmusik, um Kinder zum Einschlafen zu bringen. Besprochen werden Theresia Walsers neues Stück "Monsun im April" in Mannheim, Richard Strauss' "Intermezzo" in Wien und einige DVDs, darunter eine Edition mit Jacques-Cousteau-Filmen.

TAZ, 15.12.2008

Wenig ergiebig war eine Tagung über die Rückgabe von NS-Raubkunst aus Deutschland, berichtet Robert Schröpfer: Einige Museen hatten offenbar nicht mal einen Vertreter geschickt, so wenig interessiert sie die Sache. Und die Limbach-Kommission, die in Restititutionsfällen berät, ist in sieben Jahren gerade drei Mal tätig geworden. "In Frankreich, wo eine Streitpartei ausreicht, entschied eine ähnliche Kommission über mehr als 25.000 Anträge. Während Kritiker wie Georg Heuberger von der Jewish Claims Conference in diesem Zusammenhang von einem 'Herr im Haus'-Standpunkt sprechen, dem gemäß Museumsdirektoren und deren Träger in Deutschland häufig ohne unabhängigen Schiedsspruch entschieden, vertrat Limbach die Auffassung, der französische Ansatz sei nicht übertragbar. Ihre lapidare Begründung: Aus der Arbeit am Bundesverfassungsgericht wisse sie, dass eine Vielzahl unberechtigter Forderungen auf die dann personell überforderte Kommission zukäme."

Auf den vorderen Seiten berichtet Rolf Lautenschläger über die Schau "Verloren geglaubte Dessauer Kunstwerke kehren zurück" über die Rückgabe der Beutekunst aus der Sowjetunion im Jahre 1958.

Weiteres: Thomas Winkler feiert die Vitalität der Ska-Musik. Der Schriftsteller Hallgrimur Helgason hofft im Interview, dass sich die finanzkrisengeschüttelten Isländer jetzt zurück zu ihren Wurzeln begeben: "Nie mehr Sushi und Champagner. Nun gibt's wieder 'abgehangenes Fleisch' und 'saure Milch'."

Und Tom.

Weitere Medien, 15.12.2008

(Via Achse des Guten). Der Soziologe Gerhard Schulze will bei den Abgesängen auf den Kapitalismus nicht mitmachen, wie er in eine Interview mit der Wirtschaftswoche bekundet: "Der Lebensstandard von vielen Milliarden Menschen, die ohne die Errungenschaften der Moderne sehr viel mehr Hunger leiden müssten, konnte nur deshalb verbessert werden, weil etwas riskiert wurde. Entsprechend gilt: Wegen der Finanzkrise das ganze Projekt der Moderne infrage zu stellen und den Kapitalismus gleich dazu, das hat etwas Lächerliches."

Tagesspiegel, 15.12.2008

Das "Altpapier" der Netzeitung, eine der besten Medienkolumnen des Internets, wird eingestellt, meldet der Tagesspiegel. Die zum Montgomery-Konzern gehörige Netzeitung muss entlassen: "Ein weiteres Opfer der Medienkrise also, die übrigens auch im 'Altpapier' immer wieder zäh verhandelt wurde, mit erstaunlich wenig Rücksicht auf Verluste. Wie man hört, werde darüber nachgedacht, die launige Rezensenten-Rezension außerhalb der Netzeitung fortzuführen."
Stichwörter: Altpapier, Medienkrise

FR, 15.12.2008

Hans-Jürgen Linke versucht sich In Times mager vorzustellen, wieviel Arbeitstage oder Lottogewinne jene 50 Milliarden brächten, die der Finanzjongleur Bernard Madoff in seinem Schneeball-System verpulvert hat. Im Aufmacher preist Arno Widmann die neue Ausgabe des Großen Conrady: "Man lacht mit ihm und man weint mit ihm. Man schreit und brüllt und man zittert und zagt mit ihm."

Besprochen werden außerdem Theresia Walsers in Mannhein uraufgeführtes (laut Peter Michalzik "alle Lustigkeit vermeidendes") Stück "Monsun in April", Pierre-Laurent Aimards Messiaen-Konzert in Dortmund sowie einige neuere Aufnahmen des Komponisten, ein Konzert des chinesischen Komponisten Dan Tun in Frankfurt, die Ausstellung "Experimenta Folklore" im Frankfurter Kunstverein und auf der Medienseite Douglas Gordon und Philippe Parrenos gefeiertes Zidane-Porträt, das Arte heute abend zeigt.

SZ, 15.12.2008

Richard Swartz besucht die letzte geteilte Stadt Europas, die von strikt getrennten Serben und Albanern bevölkerte Stadt Kosovska Mitrovica: "Die serbische Seite hat ihre eigene Ikonografie. Ihre Schutzheiligen sind Vladimir Putin im Kreml und Vojislav Seselj in seiner Gefängniszelle in Den Haag. Von Hausmauern, aus Schaufenstern blicken sie streng auf die Vorübergehenden herab. Auf der albanischen Seite ist die Ikonografie martialischer. Sie huldigt denen, die im Kampf für die Befreiung des Kosovo gefallen sind, den Märtyrern, deren Denkmäler den Partisanen-Monumenten der Kommunisten zum Verwechseln ähnlich sehen."

Weitere Artikel: In den Nachrichten aus dem Netz stellt Holger Liebs einige Kunstblogs aus den USA und Deutschland vor. Stephan Speicher verfolgte eine Berliner Tagung über Raub- und Beutekunst zehn Jahre nach der Washingtoner Erklärung. In der neunten Folge seines Kaiser-Geburtstags erinnert sich Joachim Kaiser an eine epochale Wiener Aufführung des "Fidelio" unter Leonard Bernstein im Jahr 1970. Alexander Kissler verfolgte ein Münchner Gespräch zwischen Jürgen Habermas und Axel Honneth über das Thema Freiheit und Verteilung. Harald Eggebrecht empfiehlt einige DVDs mit klassischen Musikern, darunter dem unvergessenen Emil Gilels. Eggebrecht gratuliert auch der Geigerin Ida Haendel zum Achtzigsten.

Besprochen werden außerdem die Uraufführung von Theresia Walsers Stück "Monsun im April in Mannheim und Bücher, darunter einige Bände der Edition Unseld.

FAZ, 15.12.2008

Matthias Hannemann staunt über das Tempo, mit dem das Konzept für ein "Haus der Europäischen Geschichte" erarbeitet worden ist - leise Bedenken hat er jedoch, was das Konzept inhaltlich betrifft: "Überkorrekt lenkt das Konsenskonzept den Blick auf die 'Heterogenität' und 'Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen' in Europa. Um jeden Preis möchte man den Eindruck vermeiden, nach den EU-Normen für Gurken und Glühbirnen auch noch eine EU-Norm für Geschichte entwickeln zu wollen. Zu den vier vorgeschlagenen Themenkomplexen - den Ursprüngen Europas, dem Europa der Weltkriege, der Zeit nach 1945 - soll etwa auch ein kritischer, die gegenwärtige Entwicklung gemeinsam mit den Besuchern in Frage stellender Abschnitt zählen." Karol Sauerland schildert polnische Einwände gegen das Konzeptpapier - einer davon: "So gut wie ganz werde der positive Einfluss des Christentums auf die Herausbildung von Europa übersehen." (Mehr dazu in der Welt)

Weitere Artikel: Regina Mönch hat eine Berliner "Raubkunst"-Konferenz besucht. Andreas Rossmann kommentiert die Veranstaltung zur Verleihung des Heine-Preises an Amos Oz. In einer Reportage beschreibt Jürgen Dollase, wie Rene Koster an der Universität Wageningen "Essverhaltensforschung" lehrt. Beim Blick in französische Zeitschriften stößt Jürg Altwegg auf grundverschiedene Reaktionen auf den Nobelpreis für Jean-Marie Le Clezio. Alexander Cammann war bei einer Veranstaltung, mit der der Start einer neuen Wieland-Ausgabe begangen wurde. Jordan Mejias stellt eine - mit der Finanzkrise vermutlich schon veraltete - neue Studie zu steigendem Wohlstand in New York vor. Felicitas von Lovenberg porträtiert Michael A. Gotthelf, der erst den Ludwig-Börne- und jetzt den Walther-Rathenau-Preis gegründet hat. Tilmann Lahme meldet den Fund unbekannter Teile von Heinrich Manns Nachlass in Prag. Werner Paravicini schreibt zum Tod des Historikers Karl Ferdinand Werner. Auf der Medienseite verabschiedet Jürgen Kaube den in den Ruhestand gehenden Fußball-Radioreporter Manni Breuckmann. Außerdem wird sehr knapp gemeldet, dass die Werbefreiheit des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in Frankreich nun beschlossene Sache ist.

Besprochen werden die Mannheimer Uraufführung von Theresia Walsers Stück "Monsun im April", eine von Kirill Petrenko dirigierte Aufführung von Richard Strauss' "Intermezzo" im Theater an der Wien, das Remake des Komödien-Klassikers "The Women" und Bücher, darunter Hansjörg Schertenleibs Roman "Das Regenorchester" und Wolfgang Wills Caesar-Studie "Veni, vidi, vici" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).