Heute in den Feuilletons

Die innere Schönheit: nichts zu wollen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.01.2009. In der SZ beklagt Diedrich Diederichsen den Strukturwandel der Gegenöffentlichkeit durch das Internet. In der FR erklären ein palästinensischer und ein israelischer Autor, warum der jüngste Krieg im Gaza-Streifen gerecht beziehungsweise ungerecht ist. Die Welt macht sich Sorgen: 2009 scheint die annoncierte Krise nicht recht eintreten zu wollen, aber das historische Jahr 1989 sah ja auch keiner kommen.

FR, 02.01.2009

Im Feuilleton der FR geht der Krieg in Gaza weiter: Der Palästinenser und Leiter eines Kulturzentrums in Ramallah, Mohamed Abu-Zaid, fordert eine "menschliche Lösung" für das elende Leben der Palästinenser in Gaza. "Hamas ist keine militärische Macht, die Israels Existenz bedrohen kann. Sie kann stören, um auf sich aufmerksam zu machen. Gegen eine der am besten bewaffneten Armeen der Welt hat sie keine Chance. Die israelische Luftwaffe hat mehrmals bewiesen, dass sie zu allem fähig ist, ohne Rücksicht auf Menschen oder ihr Eigentum."

Der Israeli und Ha'aretz-Kolumnist Ari Shavit dagegen meint: "Die Operation 'Vergossenes Blei' ist eine gerechte" und eine "tragische Kampagne. Aber die Tragödie ist unvermeidbar. Sie folgt direkt aus der Tatsache, dass die Palästinenser die historische Gelegenheit von 2005 nicht richtig genutzt haben. Sie folgt aus der Tatsache, dass die Palästinenser, als sie das erste Mal in ihrer Geschichte selbst eine Regierung stellten, sie missbrauchten. Sie folgt aus der Tatsache, dass das palästinensische Verlangen, Israel zu zerstören, noch immer stärker ist als das, Palästina aufzubauen."

Weitere Artikel: Monika Griefahn erklärt im Interview, wie die Bundesregierung mit einer halben Million Euro Jazzmusik fördern will. In Times Mager watscht Daland Segler in einem Rundumschlag Stromkonzerne, Telekom und Bundesregierung ab. Jamal Tuschik verbringt eine deprimierende Silvesternacht in der Pariser Naxoshalle. Joachim Lange war beim Wagner-Konzert mit dem Orchester der Bayreuther Festspiele in Abu Dhabi.

Besprochen werden das Musical "La Belle Bizarre du Moulin Rouge" in der Jahrhunderthalle Frankfurt, die Operette "Wiener Blut" im Staatstheater Darmstadt und Kathrin Passigs und Sascha Lobos Buch "Dinge geregelt kriegen ohne einen Funken Selbstdisziplin" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 02.01.2009

2009 scheint keiner so recht an die annoncierte Krise glauben zu wollen, schreibt Eckhard Fuhr in einem Artikel zu den historischen Jahren der Deutschen, aber 1989 hat auch keiner kommen sehen: Es "herrschte - im Westen - jene Gemütsverfassung, die Botho Strauß in seinem im Februar 1989 in West-Berlin uraufgeführten Stück 'Die Zeit und das Zimmer' dargestellt hat. 'Wir wollen nichts', sagt Julius, einer der beiden Protagonisten, 'wir haben nichts vor. Wir sind zwei sich liebende Skeptiker. Wie lange haben wir nicht mehr gesagt: Man könnte, man sollte, man müsste. Wir genießen die gemeinsame Seelenruhe, die innere Schönheit: nichts zu wollen'. Die Seelenruhe des westdeutschen Bürgers wurde durch die damals immer wieder beschworene atomare Apokalypse nicht gestört. Im Gegenteil: Das Schreckensbild war doch die ultimative Rechtfertigung dafür, die politischen Verhältnisse bloß nicht anzutasten: Nur Stabilität garantiert den Frieden, punctum."

Weitere Artikel: Im Interview mit Hildegard Strausberg artikuliert der Historiker Karl Dietrich Bracher seine Enttäuschung über die Ökonomen: "Da entwickeln sie komplizierte Theorien und schreiben endlose Gutachten, aber schaffen es nicht, vor den realen Gefahren zu warnen, die wir jetzt erleben." Wolf Lepenies erzählt in der Leitglosse, dass er den Slogan "Be Berlin" schon beim schottischen Philosophen James Boswell fand. Manuel Brug porträtiert die Händel-Sängerin Joyce DiDonato. Dankwart Guratzsch berichtet von einer Tagung aus Hannover, wo man sich Sorgen um das städtebauliche Erbe der Nachkriegszeit macht. Hendrik Werner legt einen enthusiastischen Essay über Günter Grass' Erinnerungsmetaphorik im "Zwiebeln der Häute" und der "Box" vor, die ihm die Frage von Grass' Ehrlichkeit bezüglich der frühen SS-Mitgliedschaft sekundär erscheinen lässt. Schließlich unterhält sich Uwe Wittstock mit dem Präsidenten der Senckenberg-Gesellschaft Wolfgang Strutz über die Beziehung von Wirtschaft und Wissenschaft.

TAZ, 02.01.2009

Die taz war heute morgen noch nicht im Netz, darum alles unverlinkt. Tilman Baumgärtel schickt eine Post aus Manila. Auf der Medienseite berichtet Bernhard Clasen aus Baku, dass in Aserbeidschan die Programme unabhängiger Auslands-Radios wie BBC-Worldservice nicht mehr auf UKW und Mittelwelle laufen dürfen.


Besprochen werden die Ausstellung "Bonaparte et l'Egypte" im Pariser Institut du Monde Arabe, Kenneth Bis Film "Die Reise des chinesischen Trommlers, Jon Avnets Film "Kurzer Prozess" mit Robert de Niro und die CD-Box "The Complete Motown No. 1".

NZZ, 02.01.2009

"Der Berchtoldstag (Bechtelstag, Bechtle, Bechtelistag, Berchtelistag, Bächtelistag, Bärzelistag) ist ein Feiertag in Gegenden mit alemannischer Bevölkerung", behauptet Wikipedia, und darum erscheint heute auch die NZZ nicht.
Stichwörter: Wikipedia

SZ, 02.01.2009

Die Vertreibung kritischer Popmusik-Kultur - exemplarisch: von Klaus Walters Sendung "Der Ball ist rund" - aus den öffentlich-rechtlichen Radios nimmt Diedrich Diederichsen zum Anlass für eine Grundsatzerklärung übers Verhältnis von Pop, Kritik, bürgerlicher Kultur, Öffentlichkeit und Internet. In einem letzten Schlenker geht es darum, warum die Ver-Nischung des Popdiskurses im Netz so problematisch ist: "Die Debatte um Walters Sendung ist Symptom eines restaurativen Projekts, das Pop-Musik auf ihre musikalische Seite reduzieren will... Immer mehr ambitionierte Moderatoren sind neuerdings auch im Internetradio aktiv, das sie natürlich weder bezahlen noch in irgendeiner Weise bei Recherchen und anderen nötigen Arbeiten unterstützen kann. Trotz oft brillanter, weit über übliche Musiksendungen hinausgehender Radio-Essayistik, bleibt die Wirkung klein. Die Pop-Kritik muss mit anderen Nischenbewohnern konkurrieren. So wird dann Pop-Musik als edles, unbezahltes Hobby verwaltet. Ihr genreüberschreitendes Wissen, ihre Kritik versickert. Der Strukturwandel der Gegenöffentlichkeit ist beim Kleingartenverein angekommen."

Weitere Artikel: Fritz Göttler schreibt eine Art Nachruf auf die VHS-Kassette, deren Ende unwiderruflich gekommen scheint. Roman Deininger berichtet über den Komiker Dieudonne, der einen Holocaustleugner auf offener Bühne ausgezeichnet hat. Merten Worthmann informiert über Streit in Barcelona bezüglich des Weiterbaus von Antonio Gaudis Kirche "Sagrada Familia". Der Arzt Albrecht Ohly fasst noch einmal zusammen, was er für die zentralen Punkte bei der Debatte um die Patientenverfügung hält. Die ganz untraditionell zu ihrer Musik tanzende Fado-Sängerin Mariza wird von Antje Luz porträtiert. Eva-Elisabeth Fischer gratuliert der Tänzerin und Pädagogin Konstanze Vernon zum Siebzigsten.

Besprochen werden eine große Ausstellung zu Erasmus von Rotterdam in der Heimatstadt des Gelehrten, die "Wikinger"-Ausstellung in Speyer, ein Konzert der Münchner Philharmoniker, bei dem Christian Thielemann Beethovens "Neunte" dirigierte, John Avnets "Star-Vehikel" mit Al Pacino und Robert De Niro "Kurzer Prozess - Righteous Kill" und Bücher, darunter Christoph Türckes anthropologischer Entwurf "Philosophie des Traums" und Rebecca Millers Roman "Pippa Lee" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 02.01.2009

Jürgen Kaube erklärt im ganzseitigen Aufmacher, warum weder Reformgerede noch Effizienzbehauptungen in der Bildungsdebatte weiterhelfen, sondern nur Erziehung zur Selbständigkeit. Im Gespräch mit Jan Brachmann erklärt der Münchner Generalmusikdirektor Kent Nagano unter anderem, warum die Position des Dirigenten von gesellschaftlich großer Bedeutung ist: "Historisch betrachtet und aus meiner eigenen Erfahrung ist das eine existenzielle Frage: Sie sind als Dirigent dazu da, die Gesellschaft zu repräsentieren." Eduard Beaucamp findet in seiner Kunstkolumne, dass die Finanzkrise bei der nötigen "Revision der eindimensional gewordenen Moderne" behilflich sein könnte. Sehr gefällt Niklas Maak das Hamburger Experimental-Haus Wachsmuth (Bilder), in dem sich ganz anders als gewohnt mit einander leben lässt. In der Glosse erinnert sich Lorenz Jäger, wie er vor langer Zeit einmal nichts mit der Frage nach Kant anzufangen wusste. Hans-Christoph Dittscheid warnt vor einem Dresden-ähnlichen Brücken-Desaster in Regensburg. Vom Berliner Traditionstheater "Tribüne" verabschiedet sich, ohne Verständnis für sein Ende, Dieter Bartetzko. Andreas Platthaus schreibt zum Tod des Historikers Henry A. Turner.

Besprochen werden die Stephan-Balkenhol-Schau in den Hamburger Deichtorhallen, Diane Kurys' Francoise-Sagan-Biopic "Bonjour, Sagan" und Bücher, darunter die Wiederauflage von Inge Merkels Roman "Das große Spektakel" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).