Heute in den Feuilletons

Krimsekt und Tee

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.01.2009. In der NZZ klagt der palästinensische Lyriker Salman Masalha: "Ein grundlegendes Problem arabisch-islamischer Gesellschaften ist die fehlende Tradition der Gewissensprüfung." Die Welt online bringt Durs Grünbeins spöttisches Abschiedslied auf den Palast der Republik. Die FAZ liest die Erinnerungen Dominique Fernandez' an seinen Vater, den Kollaborateur Ramon. Alle Zeitungen (inklusive der Berliner) begrüßen die Übernahme des Berliner Verlags durch DuMont Schauberg.

NZZ, 14.01.2009

In einem sehr lesenswerten Text beklagt der palästinensische Lyriker Salman Masalha die aufgeblasene Rhetorik der Palästinenser und die Unehrlichkeit gegenüber sich selbst: "Ein grundlegendes Problem arabisch-islamischer Gesellschaften ist die fehlende Tradition der Gewissensprüfung. In anderen Gesellschaften ist dieser Prozess solide in der Denkkultur verankert und ermöglicht ständige Selbstkorrektur, aber die arabischen Gesellschaften kennen diesen Mechanismus nicht. Weder schreibt ihn die Religion vor, noch ist es im Interesse der korrupten Regime, ihn zu propagieren; auch die arabischen Intellektuellen - von wenigen Ausnahmen abgesehen - führen diesen Artikel nicht im Sortiment."

Jörg Plath gibt eine Vermisstenanzeige auf: Gesucht wird Russlands jüngere Autorengeneration auf dem deutschen Buchmarkt: "Das Imperium ist offenbar verschlossen. Man finde keine Kooperationspartner, klagen in fast identischen Formulierungen Andreas Tretner, Berliner Übersetzer von Pelewin und Sorokin, Oliver Zille, Direktor der in Osteuropa stark engagierten Leipziger Buchmesse, und Thomas Wiedling von der Literaturagentur Nibbe & Wiedling bei München. 'Das Land ist reich, aber misstrauisch', sagt Tretner. Messedirektor Oliver Zille ist 'zehn Jahre lang erfolglos gegen die Festung angerannt', um junge Autoren zu präsentieren, die eine differenzierte Sicht auf das Land böten. Doch die Russen seien beratungsresistent, sie fürchteten ein 'einseitiges Bild': Als der Moskauer Philosoph Michail Ryklin vor zwei Jahren den Leipziger Buchpreis für europäische Verständigung erhielt, wurde beleidigt reagiert. "

Besprochen werden eine Ausstellung zu Europas neuer Urbanität im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt, Monografien zu Wilhelm II., der Briefwechsel zwischen Theodor W. Adorno und Siegfried Kracauer sowie neue Gedichte von Richard Dove, Steffen Popp und Rutger Kopland (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Welt, 14.01.2009

Das haben wir gestern übersehen, darf Ihnen aber nicht vorenthalten bleiben: Durs Grünbein sang auf Welt online ein Abschiedslied für den Palast der Republik. Hier der Anfang:

"Es gab mal ein Haus in Berlin,
Dort ging man zum Stasi-Ball hin.
Da traf sich zu Krimsekt und Tee
Die SED-Hautevolee.
..."

Heute im Feuilleton: Manuel Brug amüsiert sich wunderbar in David Aldens Amsterdamer Inszenierung von Francesco Cavallis Barockoper "Der verliebte Herkules" - Balletteinlagen von Lully und einem mit Muskelprothesen aufgebretzeltem Ludwig XIV.: "Zum Schluss wird es dann lupenrein französisch, Lully trägt mit seinen letzten, kaum enden wollenden Tanz-Entrees den stilistischen Sieg davon. Und Alden trägt dem Rechnung: Vor einer surrealen Säulenarchitektur in Gold und Blau geht es jetzt weniger um Typenkomödie, nur noch um zeremonielle Repräsentation. Der tote, dennoch unsterblich gewordene Herkules alias Ludwig, jetzt mit der personifizierten Schönheit verbunden, zeigt was er hat - und tut was er will. Von seinen Plastikmuckis mag er nicht lassen. Und von der am nächsten stehenden Chordame auch nicht." (Foto: Ruth Walz; und hier ein Ausschnitt im Video).

Außerdem: Abraham Lincoln kam es im Bürgerkrieg nicht auf die Befreiung der Sklaven, sondern auf die Rettung der Nation an, schreibt Berthold Seewald. Uta Baier stellt das Nachlassarchiv für Künstler vor, dass gerade in der Abtei Brauweiler bei Köln gegründet wird. Elmar Krekeler freut sich, dass die Vorlage für viele, in der letzten Zeit ausgezeichnete Filme von Schriftstellern stammt. Perus Antiken sind durch Grabräuber und Schmuggler gefährdet, berichtet Alexander Kluy, und deshalb hat die ICOM für das Land eine Rote Liste gefährdeter Antiken erstellt. Jörn Lauterbach annonciert Tina Turners heute beginnende Deutschland-Tournee. BZ und Bild-Zeitung wurde per Einstweiliger Verfügung untersagt, aktuelle Fotos von Christian Klar zu veröffentlichen, damit seine Resozialisierung nicht gefährdet wird, berichtet Sven Felix Kellerhoff.

Drei Artikel sind dem hysterisch erfolgreichen Teenie-Vampirfilm "Twilight" gewidmet. Eberhard von Elterlein schickt die Filmkritik. Wieland Freund stellt die "Twilight"-Autorin Stephenie Meyer vor. Und Rüdiger Sturm porträtiert den Hauptdarsteller des Films "Twilight", Robert Pattinson, als Instant-Star.

Und im Magazin beschreibt Folkert Lenz die Aufzucht von Hummern in Helgoland.

TAZ, 14.01.2009

So richtig was anfangen kann Diedrich Diederichsen mit Lars von Triers neuem Film "The Boss of It All", der in der Tristesse heutigen Bürolebens spielt, wohl nicht. Und doch: "Nur die Strategiebesprechungen zwischen Ravn und Kristoffer spielen an ausgesuchten Schauplätzen der Kopenhagener Realität. Da wird bei einem Treffpunkt im Zoo von jemandem geredet, der ein unglaubliches Gedächtnis hätte, während man dazu missraten kadrierte Bilder von einem Elefanten sieht. Ravn ringt nach Worten und sagt tatsächlich: 'Äh, äh, wie ein Elefant.' Das ist natürlich groß."

Weitere Artikel: Arno Münster erinnert an den utopischen Sozialisten Pierre-Joseph Proudhon, dem wir den Spruch "Eigentum ist Diebstahl" verdanken und der vor 200 Jahren geboren wurde. Lukas Sander verfolgte in Bergen-Belsen eine Tagung von Aufarbeitern über die Zukunft des Erinnerns. Für tazzwei schreibt Barbara Nakaseke eine Reportage über Simbabwe in Zeiten der Cholera.

Und Tom.

Berliner Zeitung, 14.01.2009

Hier der mit BLZ gezeichnete Artikel der Berliner Zeitung über den Kauf des Berliner Verlags durch Alfred Neven DuMont. Zitiert wird auch die Betriebsratsvorsitzende Renate Gensch: "Für die Titel lägen große Chancen in 'einem langfristigen Interesse eines Verlegers in Qualitätsprodukte', sagte sie. Aber es gebe auch Risiken. Denn DuMont Schauberg 'wird uns in seine Strukturen einbinden'."

FR, 14.01.2009

Im Interview mit Stefan Schickhaus spricht der Pianist Martin Stadtfeld über Bachs Spiritualität und seine Enspielung des "Wohltemperierten Klaviers": "Eine ganze Welt, hoch verdichtet in einer kleinen Form. Was für die Sternenphysiker ein schwarzes Loch ist, ist für die Musiker ein solches Präludium. Das D-Dur-Präludium ist dabei ein sehr jubelndes, diesseitiges, ja ein vergleichsweise profanes Stück. Das andere Extrem wäre die fis-Moll-Fuge, die die alte, spätmittelalterliche Welt widerspiegelt, wo eine Kerze in einem gotischen Dom flackert."

Weiteres: Nach dem zweiten Konjunkturpaket setzt Harry Nutt auf die "politische Gestaltungsfähigkeit der Gesellschaft". Judith von Sternburg fällt in Times mager wieder ein, dass der Mensch an sich nicht gut ist. Daniel Kothenschulte schreibt zum Tod des französischen Filmproduzenten Claude Berri.

Die Medienseite meldet den Kauf des Berliner Verlags durch Neven Dumont, zu dessen Verlagsimperium auch die FR gehört, und frohlockt: "Finanzinvestoren ziehen sich aus Deutschland zurück".

Besprochen werden Filme zu Charles Dawrin, die Uraufführung von A.L. Kennedys "Altweibersommer" in Oberhausen und Denis Johnsons Vietnam-Roman "Ein gerader Rauch".

Aus den Blogs, 14.01.2009

Islamische Internetforen rufen zum Boykott von Aldi und Lidl auf, meldete am 10. Januar ufuq.de. "Seit Tagen kursiert in islamischen Internetforen ein Aufruf, die Supermarktketten Aldi und Lidl am 9. und 10. Januar 2009 zu boykottieren. Anlass des Aufrufs ist das Gerücht, die Einnahmen dieser Supermärkte würden an diesen Tagen nach Israel gespendet. In einem dieser Aufrufe heißt es dazu: 'Daher bitte ich euch, vermeidet es Freitags und Samstags dort einzukaufen. Jeder, der dort einkauft, spendet somit automatisch für das israelische Besatzungsregime und ihre Massaker an die Palästinenser. Ich bitte Sie, die Nachricht ernst zu nehmen, sie ist sicherlich kein altbekannter Internet - Hoax.'" Im Blog Muslime wird der Aufruf inzwischen sehr selbstkritisch diskutiert.

Via Jezebel. Die britische Presse hat Kate Winslet für ihren Auftritt bei den Golden Globes geschlachtet: "Bei dieser Rede hätte sich sogar ein Kadaver vor Peinlichkeit gekrümmt". Die englische Schauspielerin war mit zwei Globes ausgezeichnet worden und geriet darüber in, ähm, Erregung (Videos bei Youtube). Der Guardian war angeekelt, die Times hielt sie für beschwipst, und der Independent forderte eine Entschuldigung von Winslet.

Die Sachsen wollen den russischen Ministerpräsidenten Putin mit dem "Sächsischen Dankesorden" auszeichnen. Der Preis ist dem "Kampf für das Gute" gewidmet. Richard Wagner fragt in der Achse des Guten: "Putin und der Kampf für das Gute? Sollte man das nicht auch als einen besonders geschmackloser Kommentar zur Erinnerung an die ermordete Journalistin Anna Politkowskaja verstehen? Nein, ganz und gar nicht, schallt es einem aus der Oper entgegen. Putins Verdienste um den deutsch-russischen Kulturaustausch wolle man würdigen. So der Jurysprecher Hans-Joachim Frey. Ob damit die Beutekunst gemeint ist, die Russland nicht herausgibt?"

Weitere Medien, 14.01.2009

In London macht eine atheistische Werbekampagne von sich reden. Auf Bussen steht der Spruch: "Es gibt wahrscheinlich keinen Gott. Also machen Sie sich keine Sorgen und leben Sie wohl." Cicero online unterhält sich mit einem der Initiatoren, Jon Worth. Auf die Frage, warum da "wahrscheinlich" steht, antwortet er: "Wir Initiatoren müssen dieselben Regeln wie Firmen akzeptieren, deshalb gelten für uns die strengen Werberegeln Großbritanniens: Wenn ich schreibe, ein Bier ist das Beste der Welt, kann das sehr teuer werden, wenn ich das nicht belegen kann. Wenn ich schreibe, es ist wahrscheinlich das Beste, ist man auf der sicheren Seite."
Stichwörter: Cicero, London

SZ, 14.01.2009

Sebastian Schoepp schickt eine Reportage aus Bolivien, wo durch eine Verfassungsänderung unter dem linken Präsidenten Evo Morales die Bevölkerungsmehrheit der Indios besser gestellt wird: "Den reichen Nachfahren europäischer Einwanderer zu vermitteln, dass nun jeder Staatsangestellte neben Spanisch eine der mehr als 30 indigenen Sprachen Boliviens beherrschen muss, wird allerdings schwierig."

Weitere Artikel: Johan Schloemann resümiert schwedische Enthüllungen über den Dokumentarroman "Mia" von Liza Marklund, der nicht ganz so präzise auf Fakten zu beruhen scheint, wie er es glauben macht, so dass die mit diesem Roman extrem erfolgreiche Autorin nun in Bedrängnis gerät. Harald Eggebrecht berichtet von einer Pressekonferenz des Internationalen Museumsrats (Icom) im Münchner Völkerkundemuseum, wo eine "Rote Liste der gefährdeten Antiken Perus" vorgestellt wurde. Lothar Müller zeichnet eine kleine Debatte (mehr hier) um eine "Letter of Last Resort" des britischen Premierministers nach, der im Safe eines britischen U-Boots lagert und nur dann geöffnet werden darf, wenn das Land quasi untergegangen ist. Susanne Weinhart berichtet über ein gemeinsames Projekt von Google Earth und dem Prado - Google präsentiert einige Werke des Museums in extrem präziser Auflösung. Stephan Schlak gratuliert dem Literaturwissenschaftler Helmut Lethen zum Siebzigsten.

Besprochen werden der jüngst ausgezeichnete Film "Zeiten des Aufruhrs" nach Richard Yates, Cavallis Oper "Ercole amante" in Amsterdam, die Ausstellung "Political / Minimal" in den Berliner Kunstwerken und Bücher, darunter der zweite Band von Schalamows "Erzählungen aus Kolyma" (mehr hier).

Auf der Medienseite porträtiert Kurt Röttgen den Verleger Alfred Neven DuMont ("Die publizistische Qualität war ihm immer genauso wichtig wie der Profit"), der nun im Alter von 82 Jahren den Berliner Verlag den Klauen ausländischer Heuschrecken entriss.

FAZ, 14.01.2009

Jürg Altwegg hat "Ramon" gelesen, das Buch des französischen Schriftstellers Dominique Fernandez über seinen Vater, der einer der eifrigsten intellektuellen Kollaborateure mit den Nazis war: "Mit vierunddreißig Jahren war Ramon Fernandez Sozialist, Schriftsteller und Mitarbeiter einer linken Zeitschrift - der begabteste und gebildetste Rezensent seiner Generation... Mit dreiundvierzig wurde er Faschist und drei Jahre später eine Schlüsselfigur der Kollaboration... Man traf sich auch in der Wohnung von Ramon Fernandez: [Gerhard] Heller, Ernst Jünger. Im Stockwerk darüber wohnten Marguerite Duras und, bis zu seiner Deportation, Robert Antelme. Hier war der Widerstand aktiv. Die Duras hatte Fernandez persönlich informiert und ihm mitgeteilt, dass man sich fortan auf der Straße besser nicht mehr grüße. Im Treppenhaus blieb man freundlich und vertraut."

Weitere Artikel: Seine Schilderung einer abgewiesenen Beleidigungsklage in Karlsruhe schließt der Juraprofessor Christoph Möllers aphoristisch: "Die politische Philosophie mag uns lehren, was richtig ist, aber es mag nicht immer richtig sein, aus dem Richtigen Recht zu machen." In der Glosse erklärt Richard Kämmerlings, was Barack Obama mit der Gartenbaukunst zu tun hat. Sandra Kegel stellt Johanna Adorjans (mehr) autobiografischen Debütroman "Eine exklusive Liebe" vor, den die FAZ ab heute vorabdruckt. Vom Jazzfestival in Münster berichtet Ulrich Olshausen. Wiebke Hüster porträtiert Manuel Legris, der im Herbst Direktor des Balletts der Wiener Staatsoper wird. Über massive Sparmaßnahmen bei Sotheby's und Christie's informiert Gina Thomas. Gerhard Stadelmaier vermeldet: Thomas Oberender tritt vom Rücktritt zurück und bleibt erst einmal noch Schauspielchef in Salzburg. Auf der Medienseite verabschiedet Michal Hanfeld freudig die Heuschrecke David Montgomery vom deutschen Zeitungsmarkt .

Besprochen werden eine Aufführung von Francesco Cavallis "Ercole amante" in Amsterdam, ein Konzert der Band Little Joy in Köln, die Ausstellung "Interieur/Exterieur" im Kunstmuseum Wolfsburg, Sam Mendes' Film "Zeiten des Aufruhrs", und Bücher, darunter Rutger Koplands Gedichte "Dank sei den Dingen" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).