Heute in den Feuilletons

Was für Augen, was für Hände!

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.02.2009. In der Medienlese lässt ein anonymer Journalist seinem Zorn über die Festangestellten freien Lauf. Die NZZ begutachtet das Potenzial der Star lit. In der Welt lehnt Dieter Kosslick jegliche Besitzstandswahrung auf der Berlinale ab.

NZZ, 02.02.2009

Der britische Historiker Ian Kershaw zeichnet erfreulich nüchtern Stauffenbergs gescheitertes Attentat auf Hitler nach und erinnert auch an den Attentatsversuch Georg Elsers: Ihm "gelang es, ganz auf eigene Faust eine Bombe im Münchener Bürgerbräukeller zu legen, wo Hitler zur Erinnerung an den 1923 gescheiterten Putsch der Nationalsozialisten alljährlich eine Rede hielt. 1939 aber war Deutschland gerade in den Krieg eingetreten, und Hitler fasste seine Ansprache unerwartet kurz, um noch am selben Abend nach Berlin zurückzukehren. Nachdem er das Lokal verlassen hatte, ging die Bombe hoch; hätte Hitler so lange gesprochen wie sonst, wäre er in tausend Stücke zerrissen worden."

Chic lit ist passe, weiß Georges Waser aus London zu melden, das neue Zugpferd der britischen Buchbranche ist die star lit - Romane von Stars aus dem Showbiz: "Welches Bestseller-Potenzial Romane von Celebrities haben, wenn deren 'Autobiografie' erst einmal gut verkauft wurde, beweist das Beispiel des bereits erwähnten Fotomodells Jordan, deren Bücher unter ihrem bürgerlichen Namen Katie Price veröffentlicht werden. Kaum hatten ihre Memoiren eingeschlagen, erschien von Price der Roman 'Crystal' - von dem sich 2007 dann mehr Exemplare verkauften sollten als im selben Jahr von sämtlichen für den Booker Prize vorgeschlagenen Titeln." Wobei Price freimütig zugebe, einen Ghostwriter zu beschäftigen.

Jürgen Tietz sieht in Dominique Perraults Erweiterungsbau für den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg den "architektonischen Goldbarren unter den neuen Preziosen des Kirchberg-Plateaus". Konrad Tobler besucht die Ausstellung zum hundertsten Geburtstag von Hans Erni in der Fondation Gianadda in Martigny.

Aus den Blogs, 02.02.2009

Medienlese veröffentlicht den Brief eines anonymen freien Journalisten an die WAZ. Der Autor bekennt darin seinen Neid auf das abgesicherte Leben der Festangestellten und geißelt ihre mangelnde Solidarität mit den Freien: "Ich darf mir das aber auf keinen Fall anmerken lassen, meinen Neid nicht und meinen Zorn nicht über euer Unverständnis und die Art, wie ihr es als selbstverständlich hinnehmt, dass euer Arbeitgeber mir für einen Artikel, in den ich eine Woche harte Arbeit gesteckt habe, gerade mal 88 Euro zahlt, um ihn dann zusätzlich online zu veröffentlichen oder für ein Mehrfaches an ein Werbeblatt eines namhaften Unternehmens zu verkaufen - ohne dass ich auch nur einen Cent davon sehe."

Holger Schmidt informiert in seinem FAZ-Blog Netzökonom über eine Initiative britischer Medien, die Geld von Google wollen, das von ihren Inhalten lebe: "Google aggregiert sehr viele Online-Nachrichtenquellen in seinen Google-News und inzwischen auch in der normalen Suche. Viele Medien bekommen etwa ein Drittel der Besucher auf ihren Internetseiten von Google. Allerdings sind die Erlöse dieser Zusammenarbeit ungleich verteilt. Google erzielt in Deutschland fünf Mal mehr Umsatz mit Online-Werbung als alle Verlage zusammen."

Daniel Mendelsohn spürt in seinem großen Essay "The Lost" (NY Times-Kritik) dem Schicksal von Verwandten nach, die in der Ukraine von Nazis (und ukrainischen Helfern) ermordet wurden, und reflektiert mehr noch über die Schuldgefühle, die seine New Yorker Familie bis heute prägen - in Deutschland scheint das Buch immer noch keinen Verleger gefunden zu haben. In Frankreich war es so erfolgreich, dass schon die älteren Bücher des Kritikers und Essayisten übersetzt werden. Pierre Assouline hält in seinem Blog auf Le Monde ein dringendes Plädoyer "L'etreinte fugitive", die Übersetzung von "The elusive embrace". Aktualisierung von 15 Uhr: Der Verlag Kiepenheuer und Witsch teilt mit, dass er Mendelsohns "Lost" im nächsten Frühjahr herausbringt. Gut!

Welt, 02.02.2009

Berlinale-Chef Dieter Kosslick erklärt im Interview, warum die Berlinale jetzt noch mehr Filme an noch mehr Orten zeigt. Auch verkündet er, dass sein Vertrag bis 2013 verlängert wurde. Von Besitzstandswahrung will er aber nix wissen: "Natürlich gibt es auch jedes Jahr die Verstimmung, dass bestimmte Länder nicht vertreten sind. Italien etwa bestreitet 80 Prozent des Kulinarischen Kinos, das ist ja auch ihre Domäne, aber wir haben halt nicht ein zweites 'Gomorrha'. Viele vermissen auch das klassische französische Kino; dort gibt es eben auch, wie bei uns, oft Koproduktionen. Man muss aber auch mal sagen, dass es immer mehr Filmländer gibt, und die müssen, bei aller traditionellen Filmländerbestückung, auch berücksichtigt werden. Das ist auch dieses Jahr so. Auch das kann im Rahmen der Besitzstandswahrung zu Kritik führen."

Weitere Artikel: Hannes Stein liegt in New York der Schauspielerin Maggie Gyllenhaal zu Füßen: "Was für ein Gesicht! Was für eine Anmut! Was für Augen, was für Hände!" Rüdiger Suchsland resümiert das Ophüls-Filmfestival in Saarbrücken: "Der Trend ging zu privaten Themen, zu Familie und Erwachsenwerden. Als Seismograf für Gesellschaftliches taugen deutschsprachige Nachwuchsfilme offenkundig weniger denn je - da ist auch der Einfluss der mächtigen, geldgebenden Redakteure des Fernsehens spürbar, das Konflikten aus dem Weg geht, Gefühle forciert und sich nicht immer geschmackssicher zeigt." Das größte Entsetzen löste Darwin mit seiner Behauptung aus, der nächste Verwandte des Menschen sei der Affe, informiert uns Michael Miersch. Gernot Facius liefert eine Kulturgeschichte von "Maria Lichtmess". Manuel Brug schreibt zum neunzigsten Geburtstag der "geborenen Sopranadeligen" Lisa della Casa.

Besprochen werden Werner Schroeters Inszenierung des "Don Giovanni" in Berlin, Thomas Bernhards "Minetti" in Paris mit Michel Piccoli und das Debütalbum der schottischen Band Glasvegas.

TAZ, 02.02.2009

Elisabeth Rather verfolgte ein Berliner Kolloquium über die Lage der Frau. Stefan Reinecke hat in Freiburg einer Tagung über das Verhältnis von Stalinismus und Moderne zugehört. Besprochen wird ein Album der Band The Juan MacLean. Auf den Tagesthemenseiten fragt sich Philipp Gessler nochmal, was in den Papst gefahren ist, als er die Exkommunikation von Lefebvre-Bischöfen aufhob.

Tom.
Stichwörter: Stalinismus

FR, 02.02.2009

Christian Thomas war auf einem Symposion der Bundesstiftung Baukultur zum Klimawandel und lernte, dass "die Gebäude noch vor dem Verkehr und nach der Energiewirtschaft der zweitgrößte Kohlenstoffdioxid-Verbreiter" sind. Robin Celikates würdigt den Ideenhistoriker Quentin Skinner, der den Bielefelder Wissenschaftspreis erhält. In Times mager erinnert Sylvia Staude an den in diesen Tagen gestorbenen William Zantzinger, den Bob Dylan in der Ballade "The Lonesome Death of Hattie Carroll" verewigt hat: Zantzinger hatte 1963 sturzbetrunken eben diese Hattie Carroll, Mutter von elf Kinder, so verprügelt, dass sie an einem Schlaganfall starb, und wurde dafür zu einem halben Jahr Gefängnis verurteilt.

Besprochen werden das Stück "Die Glocken von Innsbruck läuten den Sonntag ein" von Ruedi Häusermann und Händl Klaus im Wiener Burgtheater, PeterLichts Poptheater "Räume räumen" in München, Annett Louisans Tourneeauftakt in Frankfurt und das Afghanistan-Kriegsheimkehrerdrama der ARD "Willkommen zuhause".

FAZ, 02.02.2009

Tilmann Spreckelsen weiß vom diesjährigen Max-Ophüls-Festival fast nur Gutes zu berichten. Von einem Aachener Beutekunst-Symposion berichtet Andreas Rossmann. Wieviel das mazedonische Museum für Mutter Theresa mit Nationenbildungsprozessen und nicht zuletzt deshalb konfligierenden Ansprüchen auf eine Heilige in spe zu tun hat, schildert Michael Martens. Klaus Englert unternimmt einen ersten Rundgang durchs neue andalusische Kulturzentrum Madinat al-Zahra in Cordoba. Andreas Kilb hat die Antrittsvorlesung der nach Berlin zurückgekehrten Historikerin Ute Frevert gehört. Ingeborg Harms liest in deutschen Zeitschriften, unter anderem dem sagenhaft erfolgreichen Blatt Landlust. Zum montäglichen Geburtstagsparcours treten an: der Historiker Eberhard Schmitt (70), der Fernsehfahnder Eduard Zimmermann (80), der Deutschen Lieblingsindiander Pierre Brice (80) und die Sopranistin Lisa della Casa (90). Der Nachruf auf den Schriftsteller, Anglisten und "Materialisten ganz eigenen Schlags" Christian Enzensberger stammt von Lorenz Jäger. Reinhard Müller schreibt zum Tod des im Alter von 100 Jahren verstorbenen Juristen Werner Flume. Auf der Medienseite kann Michael Hanfeld den Afghanistan-Krieg-Heimkehrerfilm "Willkommen zuhause" nur empfehlen.

Besprochen werden ein Kölner Konzert der Band The Rasmus, und Bücher, darunter Quentin Skinners Adorno-Vorlesungen "Freiheit und Pflicht" und Gianrico Carofiglios neuer Kriminalroman "Die Vergangenheit ist ein gefährliches Land" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 02.02.2009

Überall die gleichen Architekten, die unsere Städte austauschbar machen, stöhnt Gerhard Matzig: "Die in aller Welt herumgereichten Promi-Architekten garantieren nicht immer großartige Architekturleistungen: Die Schuhkollektion (Bilder), die Zaha Hadid gerade für Lacoste entwirft, muss man erst mal abwarten. Ihre Möbel sind schon überflüssig genug, in Berlin aber steht seit langem ein Hadid-Wohnblock, der zu den hässlichsten und dysfunktionalsten Architekturen der Stadt gehört."

Weitere Artikel: Willi Winkler erzählt, "wie der New Deal die Künste im Kampf gegen die Wirtschaftskrise mobilisierte". Sonja Zekri schreibt in den "Nachrichten aus dem Netz" über die russischen Skinheadszene, die nun auch das Genre der islamistischen Snuff Movies für sich entdeckt hat und einem ihrer Opfer vor laufender Kamera den Kopf abschnitt. Imke Donner erinnert an Sid Vicious, der vor dreißig Jahre zusammen mit Punk gestorben ist. Christiane Schlötzer berichtet, dass die New York Life Insurance Company nach Nachfahren von aus der Türkei vertriebenen Griechen sucht, um ihnen ausstehende Lebensversicherungen auszubezahlen. Jens Malte Fischer gratuliert der Sopranistin Lisa della Casa zum 90. Geburtstag. Martina Knoben resümiert das Fimfestival von Saarbrücken. Auf der Literaturseite berichtet Ilja Braun auf neueste Versuche der deutschen Buchbranche ein Verhältnis zur Google Buchsuche zu finden - zumal sich die vom Börsenverein initiierte Alternative Libreka nicht duchzustzen scheint.

Besprochen werden die deutsche Erstaufführung von Peter Eötvös' Oper "Love and other Demons" nach Gabriel Garcia Marquez in Chemnitz, Peter Lichts "Festival vom unsichtbaren Menschen" in den Münchner Kammerspielen, einige DVDs und Bücher, darunter Thor Kunkels Roman "Kuhls Kosmos".