Heute in den Feuilletons

Gottverlassene sandige Fläche

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.03.2009. In der Welt schreibt Karl Schlögel über die polnischen "Ameisenhändler", die vor zwanzig Jahren die Welt veränderten. In der FAZ ruft Thomas Hettche: Noch ist Frankfurt nicht verloren. In Slate polemisiert Christopher Hitchens gegen Fareed Zakarias Traum von den "moderaten Taliban". Die SZ erzählt von der polnischen Empörung über den amerikanischen Film "Defiance". In der taz geißelt Necla Kelek die Identifikation der Begriffe Rassismus und Islamfeindlichkeit durch Muslimverbände.

TAZ, 17.03.2009

Alan Moores und Eddie Campbells blutige Graphic Novel "From Hell", gerade in Deutschland neu herausgegeben, ist nicht nur ein großartiges Buch, es ist auch "das richtige Werk zur Zeit. Denn London 1880 ist verflixt nahe dran am Krisenkapitalismus des Jahres 2009", meint Georg Seeßlen. "Der zentrale Gedanke in 'From Hell' liegt vermutlich in Alan Moores Vorstellung, dass die 1880er-Jahre in London die 'Essenz des 20. Jahrhunderts' verkörpern und dass, damit verbunden, die Whitechappel-Morde die Essenz der 1880er-Jahre sind. Dazu gehört das Ineinander rationaler und irrationaler Kräfte ebenso wie das Ineinander verschiedener Bildebenen, das Empire und sein Verfall, die Freimaurer und der Antisemitismus, die Industrialisierung und das soziale Elend. Dazu gehört auch die 'Erfindung' des Revolverjournalismus, den Alan Moore ganz explizit in Beziehung zu den publizistischen Ungeheuerlichkeiten des Mr Murdoch und der Sun von heute setzt: Jack the Ripper ist eine Erfindung eines Journalisten mit dem schönen Namen Best."

Außerdem: In der Warenkunde widmet sich Wolfgang Ullrich dem Müllproblem. Christian Werthschulte hat sich nur so halb amüsiert bei der Lit.Cologne. Robert Schröpfer hat Verständnis dafür, dass Kulturstaatsminister Neumann Berufung gegen ein Urteil des Berliner Landgerichts eingelegt hat, wonach das Deutsche Historische Museum Berlin zur Herausgabe eines Plakats aus der Sammlung Hans Sachs verpflichtet wird.

Auf der Meinungsseite beklagt der amerikanische Soziologe Norman Birnbaum die "Vulgarisierung" des öffentlichen politischen Diskurses in den USA: "Selbst die New York Times fragte Obama zu dessen offensichtlichen Erstaunen, ob sein Programm 'sozialistisch' sei."

Diesen Artikel von Necla Kelek haben wir gestern (oder am Samstag?) übersehen. Die Autorin wendet sich gegen die Identifikation der Begriffe "Rassismus" und "Islamfeindlichkeit" in einem Papier des Koordinierungsrats der Muslime: "Das Kopftuchverbot für Lehrerinnen zum Beispiel wird in diesem Sinne als Diskriminierung gewertet und ist somit rassistisch. Der Versuch, den Diskurs über Wesen und Alltag des Islam, seiner Sitten und Auswüchse zu verhindern, indem man Kritik oder Ablehnung als 'rassistisch' diskriminiert, zeigt wie weit die Islamverbände und die sogenannten Antirassisten ideologisch argumentieren. Das Schreckenswort 'Rassismus' wird zum Knüppel gegen Kritik."

Und Tom.

Welt, 17.03.2009

In einem aus dem Heft Osteuropa übernommenen Beitrag erinnert der Historiker Karl Schlögel an die Ameisenhändler vom Bahnhof Zoo, die um 1989 herum den Eisernen Vorhang zu unterhöhlen begannen: "Es handelte sich nicht nur um Meisterleistungen der Logistik. Es bildeten sich neue Routinen aus. Neue Mental Maps - Kantstraße, West-Berlin als neue Adresse - bei den Bewohnern des Ostblocks, aber auch eine Gewöhnung der West-Berliner Insulaner, dass es noch eine Welt außerhalb Westdeutschlands und Mallorcas gab. Das Ende West-Berlins als eine Insel war am sinnfälligsten gekommen, als Tausende von Polen die gottverlassene sandige Fläche des Potsdamer Platzes in einen gigantischen Marktplatz verwandelten. In jenen Tagen begann die Neubildung der Stadt. All das war Einübung in eine neue Mobilität, in die Veralltäglichung der massenhaften Grenzüberschreitung, die bis dahin ein Abenteuer weniger gewesen war. Die andere Zeit kam nicht auf Tigerpranken, nicht einmal auf Katzenpfoten, sondern fast unmerklich auf den Rollkoffern der Ameisenhändler."

Weiteres: Uwe Schmitt empört sich in der Randspalte über Barack Obama, der sich vor seinen Auftritten die Gebete (oder Predigten?) angeheuerter Pastoren vorlegen lasse. Hans Stimmann schreibt zur nicht endenden Schlossdebatte. Hannes Stein besucht die Art Capital Group, bei der Annie Leibovitz die Rechte an ihren Fotografien verpfändet hat.

Besprochen werden Pete Dohertys neues Album "Grace/Wastelands" (mit dem Michael Pilz schon Dohertys Spätwerk eingeläutet sieht, kann man hier überprüfen), eine Ausstellung zur Fabelwelt "Tierisch moralisch" im Landesmuseum Oldenburg und die Uraufführung von Pavel Haas' Oper "Scharlatan" in Gera.

Tagesspiegel, 17.03.2009

Der Dramatiker Moritz Rinke möchte die Krise als Farce inszenieren: "Volksvertreter treten auch auf, man spricht Knittelverse: Der eine hat den Auftrag, dass unsere Jugend trotz neuer Medien moralisch aufwächst, guckt aber ständig selbst Kinderpornos; der nächste kommt durch die gegenüberliegende Tür, er ist Landesgeschäftsführer der CDU-Mittelstandsvereinigung und in den Drogenhandel eingestiegen; als der nächste hereinkommt, sieht man einen Volksvertreter mit Skistöcken, der gerade aus unerklärten Gründen eine Frau zu Tode gefahren hat, aber weiterregieren will. The show must go on."

Aus den Blogs, 17.03.2009

Robin Meyer-Lucht liest für Carta eine niederschmetternde Studie des amerikanischen "Project for Excellence in Journalism" über die Lage des Zeitungsjournlismus in den USA. Wie ist die Krise zu bewältigen? "Die Debatte um Online-Bezahlinhalte finden die Autoren der Studie fehlgeleitet. Einzelbezahlmodelle, wie von Walter Isaacson vorgeschlagen, seien schon häufig genug gescheitert. Stattdessen sollte man über Bündelabonnements nachdenken (ähnlich Kabel-TV, gekoppelt an die DSL-Gebühr) und über spezifische Informationsprodukte für elitäre Zielgruppen."

Nach den Rocky Mountain News in Denver schließt nun auch der Seattle Post-Intelligencer, berichtet Ole Reißmann in Medienlese: "In Denver geht's unterdes online weiter: "Ehemalige Mitarbeiter der kürzlich eingestellten Rocky Mountain News gaben am Montag eine Pressekonferenz und stellten ihre Idee vor: Sie wollen im Netz weitermachen, wenn sich 50.000 Menschen finden, die im Monat 4,99 Dollar bezahlen."

Sehr kritisch setzt sich Christopher Hitchens in Slate mit der Idee des Dialogs mit "moderaten Taliban" ein, die nicht nur von Obama, sondern auch von Fareed Zakaria in einem umstrittenen Essay verfochten wurde: "A state or region taken over by jihadists will not last long before declining into extreme poverty and backwardness and savagery. There are no exceptions to this rule. We do not need to demonstrate again what happens to countries where vicious fantasists try to govern illiterates with the help of only one book. And who will be blamed for the failure?"

NZZ, 17.03.2009

Anlässlich der neu entfachten Debatte über die Restaurierung der Dessauer Meisterhäuser erhebt Jürgen Tietz schwere Vorwürfe gegen den International Council on Monuments and Sites (Icomos), der die Unesco in Welterbe-Fragen offiziell berät und meist die "visuelle Integrität" eines Bauwerks über dessen materielle Integrität stelle: "Wie sehr Icomos einseitig die Bildwirkung der Welterbestätten betont, zeigte sich auch auf der Berliner Museumsinsel. Denn während bei der Renovierung des Bode-Museums massiv in die historische Substanz eingegriffen wurde, um die Anforderungen des Museums zu verwirklichen, richtet Icomos sein Augenmerk lediglich darauf, dass sich das neue Eingangsgebäude für die Museumsinseln in das Ensemble einpasst. Nach Protesten von Icomos präsentierte der britische Architekt David Chipperfield, der zugleich das Neue Museum restauriert, daraufhin einen veränderten Entwurf. Das Ergebnis einer solchen Einflussnahme sind Denkmalpflege und Stadtgestaltung von Icomos' Gnaden."

Besprochen werden die Darwin-Ausstellung "Kunst und die Suche nach den Ursprüngen" in der Frankfurter Schirn, Philipp Löhles Stück "Genannt Gospodin" am Theater Biel Solothurn, die neue Volksbühnen-Produktion "Hans im Glück", Herfried Münklers Untersuchung "Die Deutschen und ihre Mythen", Pierre Bayards Essay über Sherlock Holmes "Freispruch für den Hund der Baskervilles" und Bora Cosics Erzählung "Die Bügelmaus" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FR, 17.03.2009

Im Interview mit Arno Widmann erzählt der Sinologe Wolfgang Kubin von seiner Zeit als Student und Fabrikarbeiter in China, seine falsche Einschätzung der Kulturrevolution und den Wandel des Literaturbetriebs im Land der Mitte - und sehnt sich nach den guten alten Zeiten zurück: "In meinen Augen waren die 80er Jahre - als Geld verdienen unwichtig und Diskutieren das Wichtigste war - politisch, intellektuell, kulturpolitisch, literarisch die fruchtbarsten Jahre überhaupt. Ich bin also wieder Nostalgiker. Ich sehne mich nach den 80er Jahren zurück. Das Schicksalsjahr 1989 oder genauer 1992 hat die gesamte literarische Szene in China völlig verändert und selbstkritisch muss ich sagen, dass ich damals vielen auf den Leim gekrochen bin, die sich dann später als Eintagsfliegen erwiesen haben, die nämlich nur den Mantel nach dem Wind gehängt haben und als sie dann merkten, dass sie kein Geld verdienten, die Literatur einfach aufgegeben haben."

In einem weiteren Artikel schreibt Sebastian Moll über das ehemalige Amüsierstrandparadies Coney Island, das zum Spielball städtebaulicher Konkurrenzkämpfe wird, in denen es vor allem um eines geht: den Verkauf teurer Eigentumswohnungen.

Auf der Medienseite fühlt sich Daniel Bouhs durch das Verhalten der Bundeswehr-PR-Stelle an die chinesische Medienpolitik bei den Olympischen Spielen erinnert: Der Filmemacher Piet Eekman, berichtet Bouhs, wollte für Arte einen Film über posttraumatische Belastungsstörungen drehen. Das kam bei der Bundeswehr nicht gut an, die Dreharbeiten wurden behindert, Soldaten mussten unter anderem in Interviews vor Beantwortung von Fragen auf ein zustimmendes Nicken des Presseoffiziers warten. Auch sonst zeigte man sich wenig entgegenkommend: "'Auf die Frage, wie ich denn in die Bundeswehr-Lager in Afghanistan kommen sollte, hieß es flapsig: Nehmen Sie doch ein Taxi', sagte Eekman."

Besprochen werden Barry Koskys Inszenierung der Oper "Aus einem Totenhaus" von Leos Janacek im Niedersächsischen Staatstheater Hannover, Camus' Stück "Die Gerechten" in Zürich, ein "Dorian Gray" als Ballett im Mainfrankentheater Würzburg, Reinhard Jirgls Familienroman "Die Stille" und Oliver Bottinis Krimi "Jäger in der Nacht" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 17.03.2009

Der Autor Thomas Hettche macht der Stadt Frankfurt Mut. Trotz des Wegzugs von Suhrkamp bleibe sie Sitz bedeutender literarischer Institutionen - von der Deutschen Bibliothek bis zur Buchmesse. Und er schlägt vor, dass Frankfurt sich zu einem Laboratorium wandelt, um den "Strukturwandel des Literarischen" durch die Digitalisierung zu gestalten. Ausgerechnet der Börsenverein erscheint ihm da als als wichtiger Partner, "der in Fragen des Urheberrechts, der Digitalisierung von Büchern und in der entsprechenden Auseinandersetzung die Zukunft des Buchmarktes zu gestalten versucht. Diesen Prozess gilt es zu begleiten; das jetzige Domizil des Börsenvereins, das der Kulturdezernent der Stadt nach dem Umzug gern weiter für die Literatur nutzen möchte, wäre ein möglicher Rahmen für Tagungen und Vorträge, für Einladungen an Medienwissenschaftler, Verlagsmenschen und Publizisten, für Stipendien an Autoren, die literarische Formen jenseits des Buches erproben, kurz gesagt: die ideale Basis eines think tanks künftiger Literatur."

Weitere Artikel: Dirk Schümer glossiert bizarre Auswüchse des Romeo-und-Julia-Tourismus in Verona, wo Shakespeare wohl nie gewesen ist. Oliver Jungen hörte zu, wie Nicholson Baker sein umstrittenes Buch "Menschenrauch" in Köln gegen Herfried Münkler verteidigte. Mechthild Küppper verfolgte ein medizinethisches Kolloquium über "Todeswünsche im Alltag von Medizin und Pflege" in Berlin. Timo John resümiert ein Kolloquium über die geplanten gigantischen Neubaupläne in der Stuttgarter Innenstadt. Joseph Croitoru liest einen Band des deutsch-polnischen Jahrbuchs Inter Finitimos über polnische Einwanderung nach Deutschland. Auf der Medienseite unterhält sich Hanna Huhtasari mit dem israelischen Regisseur Yariv Mozer über seinen Film "My First War" zum Libanonkrieg vor drei Jahren, der heute Abend in Arte läuft.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Werken des Informel in Stuttgart, Janaceks Oper "Aus einem Totenhaus" in Hannover, eine CD-Edition des Rhythm and Blues-Sängers Hank Ballard, ein Ballettabend in Dortmund, unter anderem mit einer Forsythe-Choreografie und eine Dramatisierung von Amos Oz' Roman "Black Box" in Düsseldorf.

Und jetzt online: das Gespräch mit dem wunderbaren Duftkritiker Luca Turin aus der Sonntags-FAZ.

SZ, 17.03.2009

In Polen gibt es viel Empörung über den Film "Defiance" in dem Daniel Craig einen polnisch-jüdischen Partisanen im Zweiten Weltkrieg spielt, berichtet Thomas Urban, der den Polen zumindest zum Teil auch Recht gibt: "In dem Film, der mit dem eingeblendeten Satz 'Dies ist eine wahre Geschichte' beginnt, fehlt der polnische Aspekt völlig. Die Handlung ist eindimensional erzählt, die Charaktere sind schwarzweiß und auch die politische Landschaft ist klar und überschaubar: hier die brutalen und hinterlistigen deutschen Besatzer, dort die heldenhaft um ihr Leben und ihre Freiheit kämpfenden Partisanen. In Wirklichkeit waren die Verhältnisse in der Region überaus verworren: Es gab nämlich nicht nur jüdische Partisanen, sondern auch polnische und sowjetische, die sich zuerst mit größtem Misstrauen begegneten, später sogar gegeneinander kämpften." (Mehr hier)

Stephan Speicher macht durchaus kritische Anmerkungen zur behutsamen Restauration des Neuen Museums durch David Chipperfield: "Der Erfolg des Neuen Museums beruht auch darauf, dass man bei der Betrachtung der 'Wunden' nicht an die Qualen der Millionen Kriegsopfer denkt, sondern an die Patina von Antiquitäten."

Weitere Artikel: Gerhard Matzig notiert, dass in Japan ein Roboter mit putziger Manga-Mimik als Supermodel auf den Laufsteg geschickt wurde. Susan Vahabzadeh schreibt zum Tod des Schauspielers Ron Silver. Sonja Zekri berichtet von der Eröffnung eines neuen Goethe-Instituts in Novosibirsk.

Besprochen werden Haydns Oper "La fedelta premiata" in Zürich, zwei Ausstellungen der Malerin Maria Lassnig, die in diesem Jahr 90 Jahre alt wird, in Köln und Wien, Janaceks Oper "Aus einem Totenhaus" in Hannover und Bücher, darunter ein Text von Claude Simon über Poussin.