Heute in den Feuilletons

Allein, ungefickt

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.04.2009. In der FR meint der Literaturwissenschaftler Uwe Jochum: Der Zwang zu Open Access verstößt gegen die Verfassung. In der Welt schreibt der Soziologe Gerhard Schulze: Gier hilft nicht weiter, auch nicht als Begriff. Die SZ staunt: Wie fragil der Begriff des Originals geworden ist! Und in Daily Beast erklärt Rupert Everett, warum der Vanity Fair- Chef so kompetent wirkt.

Welt, 07.04.2009

Der Begriff der Gier hilft uns im Verständnis der aktuellen Krise nicht weiter, meint der Soziologe Gerhard Schulze auf der Forumsseite: "Man wird damit Aggressionen los, sieht sich auf der Seite der Guten und hat das schöne Gefühl, die Welt zu verstehen. Ein ähnliches Phänomen gibt es auch in der Medizin; Ärzte sprechen in diesem Zusammenhang vom Kausalitätsbedürfnis der Laien. Patienten wollen einen Namen für ihre Symptome. Durch Etikettierung mit einem Krankheitsbegriff entsteht ein Gefühl des Begreifens, das heilend wirken kann, so falsch der Begriff vielleicht sein mag."

im Feuilleton gratuliert Hanns-Georg Rodek Francis Ford Coppola zum Siebzigsten. Uta Baier unterhält sich mit dem Spezialisten Willi Korte über Beutekunst (also von alliierten Soldaten geraubte Kunst) in den USA. Gernot Facius empfiehlt einen Zweiteiler im ZDF über den Index der vorbotenen Bücher im Vatikan.

Besprochen wird eine Ausstellung über das Verhältnis von Militär und Medizin in Dresden.

Aus den Blogs, 07.04.2009

(Via Gawker) Der britische Schauspieler Rupert Everett wundert sich im Interview mit Daily Beast selbst, das er im Impressum von Vanity Fair steht. "Wen muss man ficken, um aus diesem Impressum gelöscht zu werden? Er ist so ein merkwürdiger Charakter dieser [Vanity Fair Chefredakteur] Graydon [Carter]. Er ist ganz sicher nicht der Clown, der er zu sein scheint. Das ist die erstaunlichste Sache, die ich über ihn herausgefunden habe. Ich habe einmal im Hotel gewohnt und hatte das Zimmer direkt unter ihm. Er ist ein unglaublicher Fick. Und Sie können mich zitieren. Die Schreie, die von der Frau kamen, waren mit die reinsten Äußerungen des Vergnügens, die ich je gehört habe. Ich saß in meinem Zimmer, allein, ungefickt. Plötzlich machte alles Sinn. Dieses unordentliche Haar, von dem ich immer dachte, es sei Clownshaar, ist Clownshaar, das einen Monsterschwanz verbirgt. Am nächsten Tag ging ich runter zum Frühstück und Graydon kam rein und ich dachte mir, ok, jetzt verstehe ich, warum du immer so kompetent wirkst und aussiehst, als würdest du auf Luft gehen, obwohl du ziemlich dick bist."

Bestimmt hat schon jeder die Geschichte gehört von den Bodygards, die das Fotomodell Gisele Bündchen und ihren Ehemann bewachen? Sie haben auf das Auto von zwei Paparazzi geschossen, glatt durch die Heckscheibe. Der beste Leserkommentar dazu: "See? Now THAT'S why I always hire Costa Rican bodyguards. They always give that little bit extra."

NZZ, 07.04.2009

Eva Clausen hat in Arezzo die Schau zu Leben und Werk der florentinischen Künstlerfamilie della Robbia besucht, mit der die Terrakottakunst in hellem Glanz erstrahlte und auch wieder verblasste. "Was nicht daran lag, dass die Familie das Geheimnis der Farbglasur mit ins Grab genommen hätte. Das war schon früh und angeblich von einer Zugehfrau aus dem Haus der della Robbia zu Benedetto Buglioni getragen worden."

Weiteres: Till Brockmann schreibt zum Siebzigsten des Filmregisseurs Francis Ford Coppola. Besprochen werden außerdem Stefan Herheims Inszenierung von Richard Wagners "Lohengrin" in der Staatsoper Berlin, ein Band mit Pablo Nerudas "Liebesgedichten", Tilman Rammstedts Roman "Der Kaiser von China" und Marie NDiayes Roman "Mein Herz in der Enge" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

TAZ, 07.04.2009

Selig vor Glück hat Niklaus Hablützel Calixto Bieitos Inszenierung von Glucks "Armida" an der Komischen Oper Berlin verlassen: "Ein viel zu selten aufgeführtes, absolutes Meisterwerk, dem nur mit dem Begriff der 'musikalischen Aufklärung' gerecht zu werden ist: ein in reine, wundervoll subtile und klare Musik gegossener Diskurs über das, was die Liebe, die sexuelle ebenso wie die emotionale, für ein Subjekt bedeutet, das sich autonom versteht und daher seine Freiheit auch gegen die Fesseln der Triebe und Gefühle behaupten muss... Opernfrühling also, so radikal und hemmungslos, wie er zurzeit wohl überhaupt nur in Berlin möglich ist. Bieitos erotomanisches Sextheater wäre in jeder anderen Stadt ein Skandal, hier wird es bejubelt und verstanden."

Weiteres: Reiner Wandler erzählt, wie schwer es vielen Spaniern fiel oder gemacht wurde, nach dem Ende von Francos Herrschaft aus dem Exil zurückzukehren. Isolde Charim setzt gegen den frivolen Umgang mit den Staatsfinanzen und gegen das Konsumverbot auf die persönliche Wiederaneignung der Moral - und mit Arnold Gehlen auf die Askese.

Besprochen werden die Performance "Hadesfraktur" des dänisch-österreichischen Künstlerduo Signa in Köln und eine Ausstellung des libanesischen Künstlers Akraam Zaatari im Münchner Kunstverein.

Und Tom.

FR, 07.04.2009

Der Literaturwissenschaftler Uwe Jochum protestiert gegen die von der "Allianz der Wissenschaftsorganisationen" geforderte "für den Leser entgeltfreie Publikation (Open Access) ausschließlich von Forschungsergebnissen, die durch den Einsatz öffentlicher Mittel und damit zum Nutzen der Forschung und Gesellschaft insgesamt erarbeitet wurden". Das sei nicht mit der Verfassung vereinbar, findet Jochum. Auf der Medienseite erzählt Rene Martens, warum in den USA immer mehr Zeitungen ihren Vertrag mit der Nachrichtenagentur AP kündigen.

Besprochen werden Glucks Oper "Armida" in der Berliner Inszenierung von Calixto Bieito, die Mond-Ausstellung im Wallraf-Richartz-Museum in Köln, Marc Minkowskis Inszenierung der erste Wagner-Oper, "Die Feen", im Pariser Theatre du Chatelet, Andreas Kriegenburgs Inszenierung von Molieres "Menschenfeind" am Hamburger Thalia Theater, ein Konzert der Jungen Deutschen Philharmonie in Frankfurt sowie Bücher, darunter Ayaan Hirsi Alis Erzählung "Adam und Eva" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 07.04.2009

Wolfgang Schneider durfte erleben, wie Dichterinnen und Dichter anderen Dichterinnen und Dichtern beim Berliner Dichtertreffen "Tunnel über der Spree" einerseits zuhörten und andererseits Verbesserungsvorschläge machten. Wiebke Hüster erklärt, wie der Choreograf William Forsythe per interaktiver Website "Synchronous Objects" seine Tanzstücke allgemeinverständlicher machen will. In der Glosse weiß Dirk Schümer an Silvio Berlusconi das "tragikomisch Menschliche unter lauter Politmarionetten" irgendwie sogar zu schätzen. Jürgen Kaube staunt - und staunt auch wieder nicht - darüber, dass Obamas Ausblick auf eine atomwaffenfreie Zukunft kaum mehr als freundliches Wohlwollen auslöst. Jochen Buchsteiner informiert über die Entdeckung einer Kopie von Oskar Schindlers berühmter "Liste". Miguel Cervantes de Saavedra unterbreitet einen etwas donquijotesken Vorschlag zur zukünftigen Beseitigung gewaltiger Schulden. Hendrik Jackson schreibt einen kurzen Nachruf auf den russischen Lyriker Alexej Parschtschikow. Den Nachruf auf den Historiker John Hope Franklin hat Hartmut Lehmann verfasst.

Besprochen werden die Ausstellung "Baroque 1620-1800" im Londoner Victoria & Albert Museum, Calixto Bieitos Inszenierung von Chistoph Willibald Glucks "Armida" (Jan Brachmann ist geradezu empört, dass die Oper hier "auf die Resterampe eines Sex-Discounts geworfen" wird), Anna Viebrocks Baseler Inszenierung "Die Bügelfalte des Himmels hält für immer", Ragna Schirmers Einspielung der Klaviersuiten Georg Friedrich Händels, und eine Neuübersetzung der Erinnerungen "Schütze im Steigflug" des Bomberpiloten Cecil Lewis (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 07.04.2009

Burkhard Müller staunt und theoretisiert über den Erfolg einer Tutanchamun-Ausstellung, die einzig und allein aus Repliken besteht: "wie fragil der Begriff des Originals geworden ist. Die Nachbildungen werden immer besser. Sie werden so gut, dass man ihnen getrost alle Pflichten populärer Wirkungsmacht aufladen kann; und die lichtempfindlichen, bröckelnden oder sonstwie gebrechlichen Urbilder dürfen, ohne dass die Menschheit sich betrogen fühlen müsste, in den Ruhestand treten."

Weitere Artikel: Im Aufmacher klagt Thomas Steinfeld, dass der überall sonst obsolete Glaube an den freien Markt in der Bildungspolitik überlebt habe. Holger Liebs unterhält sich mit Martin Roth, Direktor der Dresdner Staatlichen Kunstsammlungen, über die Museen in der Krise, die er in seiner Festangestelltheit aber "noch nicht wirklich" erblickt hat. Slavenka Drakulic erzählt, dass Richard Dawkins' atheistische Werbekampagne mit dem Slogan "There's probably no God - Now stop worrying and enjoy your life" bei der Zabreber Straßenbahngesellschaft zensiert wurde. Tobias Kniebe gratuliert Francis Ford Coppola zum Siebzigsten. Adrienne Braun beschreibt das neue Projekt der Theatergruppe Rimini-Protokoll, die Eins-zu-Eins-Anchstellung einer Hauptversammlung bei Daimler.

Besprochen werden eine Ausstellung über den Einfluss Delaunays auf die Expressionisten Marc und Macke in Hannover, die Uraufführung von Rene Polleschs "Ein Chor irrt sich gewaltig" im Prater der Berliner Volksbühne und Glucks "Armide" in Berlin in Calixto Bieitos nicht ganz jugendfreier Regie an der Komischen Oper Berlin

Auf der Medienseite empfiehlt Marc Felix Serrao die vom Murdoch-Konzern betriebene Videoplattform Hulu.com, die in Deutschland aber nur eingeschränkt nutzbar ist und das einschlägige Blog NewTeeVee, eine Art Video-Perlentaucher. Auf Seite 3 porträtiert Henrik Bork den blinden Sänger Zhou Yunpeng aus einem "China westlich der Bahngleise", der einst auf der Straße sang und heute zum Idol vieler Chinesen geworden ist.