Heute in den Feuilletons

Der Kunst das Maul gestopft vom Apparat

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.04.2009. In der SZ erklärt Per Olov Enquist sein Engagement gegen das illegale Herunterladen von Hörbüchern. Die FAZ besuchte die Ausgrabungen des Kölner Stadtarchivs und kommt mit deprimierenden Meldungen nach Haus. Die NZZ ist sehr erfreut über den Pritzker-Preis für Peter Zumthor. Alle haben Robert Wilsons Dramatisierung der Shakespeare-Sonette am BE gesehen, die "Shakespeares queere Seite"" zum Vorschein brachte.

NZZ, 14.04.2009

Aldo Keel berichtet, dass Norwegen im nächsten Jahr die allgemeine Wehrpflicht für Frauen einführt, auch Dänemark und Schweden denken über diesen delikaten Schritt der Gleichstellung nach: "Erfahrungen in Afrika und Afghanistan, wo die Frauen sich weigerten, mit unbekannten Männern zu kommunizieren, zeigten, wie wichtig Offizierinnen für die Nachrichtenbeschaffung und die Sicherheit der Truppe seien. Allerdings kritisiert in der Osloer Aftenposten eine Majorin a. D. das 'maskuline Klima bis hin zur Frauenfeindlichkeit', das nach wie vor gerade in Offizierskreisen herrsche. Noch immer setze man auf Kameraderie statt Professionalität."

Roman Hollenstein ist sehr einverstanden damit, dem Schweizer Architekten Peter Zumthor in diesem Jahr der Pritzkerpreis zu verleihen. Denn für Hollenstein ist eins klar: "Wenn es in Zukunft noch eine Baukunst geben wird, die mehr als schönes Fassadendesign ist, die weiterhin dem Ort seine Reverenz erweist, das Material auslotet, mit dem Licht spielt und räumliche Vielfalt generiert, so wird es eine in der Art von Zumthor sein".

Weiteres: Georges Waser war auf einem Vortrag, auf dem Richard Blair erstmals öffentlich über seinen Adoptivvater George Orwell sprach. Besprochen werden die Ausstellung "Le Siecle du Jazz" im Pariser Musee du Quai Branly, Mohammed Hanifs Roman "Eine Kiste explodierender Mangos", Kenzaburo Oes Roman "Sayonara, meine Bücher" sowie Fernando Vallejos Roman "Blaue Tage" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Welt, 14.04.2009

Poesie, Drama, Schönheit, Tragik? Nichts davon sah Reinhard Wengierek in Robert Wilsons Inszenierung der Shakespeare-Sonette fürs Berliner Ensemble: "Statt dramatisch wuchtiger Poesie - lauter slapstickhafte Possierlichkeiten. Immerzu Gehopse, Getänzel, Gekiekse, Gegirre androgyner Puppen, gewandet in geschlechtsneutrale Kostüm-Kostbarkeiten des Modemachers Jacques Reynaud. Keinerlei mächtige, das Drama verstärkende Bilder, bloß Bildgeriesel. Bloß eine pittoreske, altbackene Wilson-Show mit Wainwright-Singsang und einer Shakespeare-Deko."

Wenig erheiternd findet Manuel Brug das Gerücht, Daniel Kühnel solle als neuer Intendant zusammen mit Jossi Wieler als Chefregisseur und Donald Runnicle als Generalmusikdirektor die im Sand feststeckende Deutsche Oper freischaukeln: "Irgendwie schmecken die Planspiele mit dem grotesken Trio für die Deutsche Oper nur nach dem Endziel, an das angeblich kein Politiker denken will: nach Fusion."

Weitere Artikel: Sophia Seiderer unterhält sich mit dem Historiker Jochen Hermel, dessen Dissertationsthema mit dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs verschütt ging. Jetzt hilft er bei den Bergungsarbeiten. Rolf Giesen sah bei der Trickfilmmesse Cartoon Movie Kreatives aus aller Herren Länder und Hausbackenes aus Deutschland. Hella Boschmann gratuliert Peter Zumthor zum Pritzker-Preis. Hannes Stein schickt einen Brief aus Brooklyn.

Besprochen werden eine Ausstellung zu Schah Abbas I. im British Museum, Barbara Freys Inszenierung der "Jenufa" in München ("ein Weiberschicksal von allgemeiner Gültigkeit", verkündet Manuel Brug und lobt die Inszenierung), Ligetis Oper "La Grand Macabre" in Brüssel und eine Retrospektive des chinesischen Künstlers Cai Guo-Quiang im Guggenheim Bilbao.

TAZ, 14.04.2009

Eine kurze Meldung informiert uns, dass die Klinsmann-Kreuzigung in der Ostertaz zu Rechtsstreit und überregionaler Berichterstattung geführt hat.

Kathrin Schrader porträtiert auf den Tagesthemenseiten die Theatermacherin Nicola Nord, die als Kind von DKP-Eltern in Frankfurt am Main aufwuchs, aber auch häufig drüben war und die DDR-Idolatrie der Eltern jetzt in ihrer Kunst verarbeitet. Im Kulturteil porträtiert Thomas Winkler sehr ausführlich die politisch korrekten Skinheads von der Oi!-Punk-Band Stomper 98. Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Krieg und Medizin" in Dresden, die Shakespeare-Sonette im BE (die laut Jens Friebe "Shakespeares queere Seite" zutagefördern) und die schütteren Ostermärsche in Berlin und Brandenburg.

Auf den Medienseiten berichtet Ben Schwan über stiftungsfinanzierten Journalismus als Ausweg aus der Medienkrise in den USA.

Und Tom.

Berliner Zeitung, 14.04.2009

Dirk Pilz geht nach den Shakespeare-Sonetten mit einer Depression nach Hause: "Das will Anklage sein, ist aber eine Selbstoffenbarung: 'Und Kunst das Maul gestopft vom Apparat'. Treffender lässt sich nicht sagen, was Wilson & Wainwright veranstaltet haben - das nachhaltige Abtöten aller Poesie durch mechanisiertes Szenenverrichten. Alles wirkt, als wären die Verse in eine Zwangsvorrichtung gesperrt, die ungnädig wie ein Eierschneider operiert: Jedes Wort und jedes Gefühl wird in die immergleichen Kitsch-Scheibchen zerlegt."
Stichwörter: Poesie, Shakespeare, William

Aus den Blogs, 14.04.2009

Robin Meyer-Lucht wendet sich gegen den Vorschlag des Medienjuristen Jan Hegemann, ein Leistungsschutzrecht für die Printpresse einzuführen, um über das Eintreiben von Copyrightgebühren die Medienkrise zu bewältigen: "Der Journalismus im Netz hat derzeit vor allem ein Einnahme- und nicht vorrangig ein Urheberrechtsproblem. Es ist keinesfalls so, dass der Diebstahl journalistischer Inhalte ein Kernproblem für die Branche darstellt - anders als etwa in der Musikindustrie (der ein Leistungsschutzrecht in dieser Angelegenheit auch nicht viel weiter hilft). Das Kernproblem besteht darin, dass sich mit dem Wechsel des Medienträgers der Wettbewerb erheblich ausgeweitet hat und die Verlage nur bedingt Modelle gefunden haben, mit diesem Wettbewerb umzugehen." Mehr zum Thema auch hier.

Für die Achse des Guten hat Richard Wagner in der rumänischen Zeitung EVZ einen Artikel des Schriftstellers Mircea Cartarescus über die Unruhen in Chisinau gelesen. Cartarescu möchte eine Vereinigung Rumäniens mit Moldawien: "Wenn wir nicht jetzt, mit den Zehntausenden Jugendlichen in Chisinau rufen, dass die Moldau rumänisch ist, werden wir dieses unglückliche Land verlieren und diese jungen Menschen zur Dauer-Verzweiflung verurteilen."

FR, 14.04.2009

Schönstes Theatergift hat sich Jürgen Otten bei Frank Castorfs "Amanullah, Amanullah" im Berliner Prater verabreichen lassen: "Theater, so brüllt es uns die Schauspielerin ins kulinarische Gewissen, sei der Ort, an dem die perversen Möglichkeiten des Geistes lebten, Theater sei ein Abbild des Gemetzels. Da ist er wieder, der zornig bebende, furios flackernde Frank Castorf, der Regisseur von 'Pension Schöller: die Schlacht' (1994); nur dass Heiner Müller durch Artaud ersetzt wurde. Im Grunde aber ist der Ansatz identisch. Das Theater hält uns nur oberflächlich zum Lachen an, um uns sogleich in den Schockzustand zu versetzen. Nur hier kann noch das Extreme gedacht werden. Theater, das ist jene Sonne von seltsamer Stärke, die Artaud heraufbeschwört, der letzte Ort der Realität."

Oliver Herwig würdigt etwas verhalten den Schweizer Architekten und nunmehrigen Pritzkerpreisträger Peter Zumthor: "Zumthor hat in aller Stille Maßstäbe geschaffen. Und Paradoxa, die von Ewigkeit flüstern und ihr Publikum doch ganz im Jetzt fesseln, mit sinnlichen Details, glattem Beton und schweren Türen eine Erotik des Augenblicks pflegen, die bisweilen sehr weihevoll, sehr katholisch wirkt."

Weiteres: Hans-Jürgen Linke schreibt zum 250. Todestag von Georg Friedrich Händel. Sandra Danicke berichtet von der Bonner Videonale. In der Times mager geht Ina Hartwig auf Landpartie.

Besprochen werden die Shakespeare-Sonette, die Robert Wilson und Rufus Wainwright in Berlin auf die Bühne gebracht haben (was Jürgen Otten als "Mischung aus allem, mit Tendenz zu Letzterem" erlebt hat) und Barbara Freys Inszenierung von Leos Janaceks "Jenufa" in München.

Tagesspiegel, 14.04.2009

Bis zur Pause fand Rüdiger Schaper die Shakespeare-Sonette im BE ganz wunderbar: "Die luftigen Spielfiguren, die rothaarigen Figurinen flattern und springen, als fühlten sie sich unbeobachtet. Man schaut einer Märchentruppe zu, die sich backstage vorbereitet. Shakespeares Sonette als Privatissimum des Theaters. Sie üben Tragödie. Sie freuen sich an ihrem Überschwang. Sie spielen sich warm, sie spielen sich heiß. (...) So frei hat Wilson lange nicht assoziiert, seine Bilder spazieren geführt."
Stichwörter: Shakespeare, William

FAZ, 14.04.2009

Andreas Rossmann berichtet von einem Besuch unter beinahe konspirativen Umständen in der "Notfallambulanz" für Materialien aus dem eingestürzten Kölner Archiv: "Wann was zurückkehrt und restauriert wird, wann die Bestände wieder unter einem gemeinsamen Dach sein werden und für den Bürger zugänglich sind, weiß niemand. Der Einsturz hat die Bestände durcheinandergequirlt und jede Ordnung aufgehoben... Zwanzig, womöglich dreißig Jahre, schätzt [ein Archivar], wird es dauern, bis das Archiv, auch wenn es viele Verluste hinnehmen musste, wieder so weit wiederhergestellt ist, dass es an die Zeit vor dem Einsturz anknüpfen kann. Erst dann wird der Kopf wieder auf dem Körper sitzen."

Weiteres: In der Glosse schreibt Gina Thomas über die Rückkehr der Pfandleiher in England. Jürg Altwegg kommentiert die Peer Steinbrück verdankte "Bereinigung" der deutsch-schweizerischen Beziehungen. Dieter Bartetzko porträtiert den Architekten Peter Zumthor, den diesjährigen Pritzker-Preisträger. Camilla Blechen stellt summarisch Neuzugänge im Museum für Ostasiatische Kunst in Berlin vor. Paul Ingendaay berichtet vom Festival der religiösen Musik in Cuenca. Gerhard Rohde liefert einen Festivalreport - Osterfestspiele, Biennale für Neue Musik - aus Salzburg. "wha" hat einen knappen Nachruf auf die spanische Bestsellerautorin Corin Tellado verfasst, Jürgen Kaube schreibt zum Tod des Wissenschaftsjournalisten Sir John Maddox. Auf der Medienseite empört sich Patrick Bahners übers Niveau einer ZDF-Serie über die Windsors. Gratuliert wird in dieser Woche nur drei Männern: dem Dirigenten Marc Soustrot (60), dem Easy-Listening-Giganten James Last (80) und dem Choreografen Merce Cunningham (90)

Besprochen werden die Ausstellung "Maison Martin Margiela" im Münchner Haus der Kunst, das Album "Futuro" der norwegischen Band The Low Frequency in Stereo, und Martin Beyers Roman "Alle Wasser laufen ins Meer" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 14.04.2009

Nicht ohne Faszination, aber keineswegs nur begeistert bespricht Gustav Seibt die Dramatisierung der Shakespeare-Sonette durch den Arrangeur Robert Wilson am Berliner Ensemble, die er sich zum "Ausklang eines schwulen Wochenendes" zu Gemüte führte: "Jedes Molekül Erotik wegsterilisiert, die Sache ins klinisch Keimfreie gezogen. Mal spricht dieser, mal jener, oft wird auch nur getrippelt, gehüpft, gezuckt und gekichert, ein Hybrid von Tanztheater und Pantomime vorgehampelt."

Gunnar Hermann unterhält sich mit dem Romancier Per Olov Enquist über sein Engagement gegen das illegale Herunterladen von Hörbüchern. Download ist Diebstahl findet er: "Ich kann das nicht anders sehen. Es ist vielleicht ein kleinerer Diebstahl. Aber meine Mutter sagte immer: Es beginnt mit einer Stecknadel und endet mit einer silbernen Schüssel."

Weitere Artikel: Stefan Koldehoff berichtet über die Auflösung der einst gefeierten Public-Private-Partnership zwischen Eon und dem städtischen Kunstmuseum in Düsseldorf. Eine ganze Seite ist Georg Friedrich Händel gewidmet. Reinhard J. Brembeck konstatiert im Hauptartikel, dass Händel erst durch den Boom der letzten Jahr sein musikhistorisches Renommee gefestigt habe. Jürgen Trabant schreibt zum Tod des französischen Dichters Henri Meschonnic.

Besprochen werden Alexander Adolphs Film "So glücklich war ich noch nie", die Ausstellung über Krieg und Medizin in Dresden und Bücher, darunter die verschwörungstheoretische Geschichtsschmonzette (so sieht es jedenfalls Johannes Willms) "Die Königsfälschung. Ludwig XIV. - das Kardinalsbaby" von Max Melbo.

Auf der Medienseite wird über arge Verstimmung beim FC Bayern über eine Fotomontage der taz berichtet, die Bayern-Trainer Jürgen Klinsmann in der Samtagsausgabe als Gekreuzigten zeigte.