Heute in den Feuilletons

Von allen am gleichsten

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.04.2009. In der NZZ erzählt die russische Lyrikerin Olga Martynova, wie der KGB die orthodoxe Kirche neu erfand. Das Blog Carta zitiert den britischen Medienwissenschaftler Richard Collins, der eine Neuverteilung öffentlich-rechtlicher Gelder vorschlägt - auch zugunsten von Zeitungen und Internetredaktionen. Im Tagesspiegel erinnert sich Elliott Carter an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Die SZ hat kein Mitleid mit der Musikindustrie.

NZZ, 20.04.2009

Die russische Lyrikerin Olga Martynova erinnert zum orthodoxen Osterfest, wie die Kirche in der Sowjetunion ihre Bedeutung wiedergewann: "Schon damals waren auch viele Mitglieder der Parteieliten dem in Mode kommenden russischen Nationalismus zugeneigt, und ihr Wohlwollen der russischen orthodoxen Kirche gegenüber war zu spüren. Als in Petersburg 1981 offiziell eine Vereinigung der inoffiziellen Literaten gegründet wurde, riefen zu Ostern die KGB-Betreuer die führenden Underground-Dichter an, um zu sagen: 'Christ ist erstanden.' Auch das lässt an die späten römischen Zeiten denken. Sehr bald nachdem Konstantin für alle Religionen Freiheit und Gleichberechtigung erklärt hatte, wurde das Christentum von allen am gleichsten."

Urs Schoettli eruiert in einem ganzseitigen Hintergrundartikel die neue weltpolitische Stärke Chinas, die seiner Meinung jedoch auf tönernen Füßen steht: "Derzeit hackt die ganze Welt auf den westlichen Finanzplätzen von New York bis Zürich herum. Das chinesische Bankensystem erscheint wie eine heile Welt. Es wäre jedoch nützlich, einmal einen Blick in die Giftschränke der volkschinesischen Banken zu werfen. Man würde dabei wahrscheinlich auf Problemkredite stoßen, welche die 'toxic papers', die von der UBS oder von Citigroup gehalten werden, als geradezu harmlos erscheinen lassen würden. Die Welt vergisst allzu leicht, dass die großen vom Staat kontrollierten Banken Chinas im Wesentlichen die Finanzierungsinstrumente der allein herrschenden Kommunistischen Partei Chinas sind."

Weiteres: Sieglinde Geisel besucht den Schriftsteller und Filmemacher Thomas Harlan in Berchtesgaden. Marc Zitzmann besichtigt das Musee de la musique in Paris.

FR, 20.04.2009

Im Interview mit Arno Widmann spricht der Schriftsteller und frühere HR-Chefredakteur Wilhelm von Sternburg über die frühe BRD, 1968 und die Frage, ob es eine deutsche Neigung zum Totalitären gebe: "Das weiß ich nicht. Aber ganz offensichtlich sind die vergangenen zweihundert Jahre deutscher Geistesgeschichte geprägt von der Sucht nach dem totalen, alles erklärenden System. Die englische und die französische Aufklärung kämpfte um Offenheit. In Deutschland war der Wunsch nach geschlossenen, das Ganze umfassenden Systemen übermächtig. Die deutsche Philosophie hatte ganz sicher einen Hang zum Totalen - Hegel, Schopenhauer, Nietzsche. Dem entsprach die Arroganz des deutschen Bildungsbürgertums."

In Times mager amüsiert sich Sylvia Staude über gekränkte Männer. Besprochen werden das auf dem gleichnamigen Film basierende Stück "Wut" am Staatstheater Stuttgart, das neue Album von Art Brut: "Art Brut vs. Satan", Lars Gustafssons Roman "Frau Sorgedahls schöne weiße Arme", Hellmut Flashars Studie "Inszenierung der Antike".

Auf der Medienseite berichtet Katharina Sperber, wie heftig France 2 auf den ARD-Film von Esther Shapira reagiert, der in Zweifel zieht, dass der berühmte Palästinenserjunge an der Netzarim-Kreuzung von israelischen Soldaten erschossen wurde: Der französische Sender droht, die Kooperation mit der deutschen Fernsehanstalt aufzukündigen.

TAZ, 20.04.2009

Im Interview mit Cigdem Akyol warnt Levi Salomon von der Jüdischen Gemeinde Berlin vor einem neuen Antisemitismus in Deutschland, "der aus einer gefährlichen Mischung besteht: Aus einer antisemitischen Tendenz in der deutschen Linken, die Israels Politik dämonisiert und behauptet, die Juden seien nun zu Tätern geworden. Und aus politischem Islamismus. Diese Kreise scheinen bei den Demos im Januar zusammengefunden zu haben."

Im Kulturteil setzt Dietmar Bartz sein Kölner Tagebuch über den Einsatz bei der "Erstversorgung" der geretteten Kölner Archivalien fort. Dirk Knipphals findet Suhrkamps geplanten Umzug nach Berlin nicht gut vorbereitet. Auf den vorderen Seiten wird der taz-Kongress vom Wochenende aufgearbeitet.

Besprochen werden eine Ausstellung der Berliner Videokünstlerin Nina Könnemann im Frankfurter Portikus und Andre Bückers Inszenierung von Dietmar Daths Roman "Waffenwetter" im Mannheimer Nationaltheater.

Schließlich Tom.

Aus den Blogs, 20.04.2009

In Carta zitiert Robin Meyer-Lucht ein offensichtlich nicht online stehendes Interview des britischen Medienwissenschaftlers Richard Collins aus epd Medien. Collins schlägt eine Neuverteilung der Gelder für die Öffentlich-rechtlichen Anstalten vor: "Wir müssen darüber nachdenken, ob es mit der wachsenden Bedeutung des Internets nicht an der Zeit ist, dem gebührenfinanzierten Rundfunk etwas Geld abzunehmen, um es denen zu geben, die andere Qualitätsinhalte liefern, die aber mindestens genauso, wenn nicht sogar deutlich stärker bedroht sind als die Sender. Und ich sehe keinen Grund, Zeitungen und Internetredaktionen von öffentlichen Geldern auszuschießen."

In Netzpolitik veröffentlicht der Aktivist Lutz Donnerhacke eine Liste der "13 Lügen" des Bundesfamilienminsteriums über Kinderpornografie im Intenet - zum Beispiel zur Behauptung von der Leyens, Kinderpornografie werde über kommerzielle Websites vertrieben. "Es gibt keinen Massenmarkt, es gibt keinen kommerziellen Vertrieb, es gibt keine Millionenumsätze. Es sind Einzeltäter und die tauschen in geschlossenen Zirkeln, vornehmlich außerhalb des Internets."

Tagesspiegel, 20.04.2009

Auf die Frage nach seiner frühesten Kindheitserinnerung antwortet der hundertjährige Komponist Elliott Carter im Interview:"Am Tag, als der Erste Weltkrieg ausbrach, ist mir ein Goldfischglas heruntergefallen und in tausend Scherben zersprungen."

Welt, 20.04.2009

Anlässlich der Verfilmung von Dan Browns "Illuminati" gibt uns Hendrik Werner einige Hintergrundinformationen über diesen Geheimbund. Suroosh Alvi erzählt im Interview über die Entstehung seines - sehr empfehlenswerten - Dokumentarfilms "Heavy Metal In Bagdad". Hannes Stein besucht für seinen Brief aus Brooklyn Boston. Johanna Schmeller beschreibt einen Masterplan für das Kunstareal in München. Eckhard Fuhr resümiert eine Berliner Diskussion über Denkmäler, zu der die Bundestagsfraktion der Linken eingeladen hat.

Besprochen werden Nuran David Calis Inszenierung von "Romeo und Julia" mit Rütli-Schülern und Rappern (Reinhard Wengierek findet sie "unvergesslich"), Marguerite Donlons Choreografie des "Schwanensees", die Erstaufführung von Hillel Mittelpunkts Stück "Der Unfall" am Theater Kiel und einige DVDs.

SZ, 20.04.2009

Jens-Christian Rabe hält fest, dass es der Musikindustrie gar nicht so schlecht geht wie sie immer jammert. Mit iTunes zum Beispiel verdient sie inzwischen Milliarden. "Dazu kommt, dass die Musikindustrie anders als andere von der Digitalisierung existenziell betroffene Wirtschaftszweige (wie etwa die Buch- oder Zeitungsbranche) mit dem Livegeschäft einen Zweig hat, der in noch nie dagewesener Weise floriert. Dass sich die derzeit am heftigsten strauchelnden vier großen Musikkonzerne EMI, Warner, Universal und Sony nicht rechtzeitig darauf eingerichtet haben, ist allein ihr Problem."

Weitere Artikel: In den Nachrichten aus dem Netz berichtet Niklas Hofmann, dass die Schlacht um die Pirate Bay noch längst nicht geschlagen ist. (Er zitiert unter anderem Farhad Manjoo in Slate, der die Handlungsunfähigket der Rechteindustrien beleuchtet) Gottfried Knapp resümiert Diskussionen um das Museumsareal in München. Stephan Speicher verfolgte ein Kolloquium der Linkspartei über Berlin und seine Denkmäler. Henning Klüver ist nach L'Aquila gereist, um die Erdbebenschäden in Augenschein zu nehmen - und sie sind sehr gravierend. Burkhard Müller fragt sich in einer Meditation über das Wesen der Folter, warum Barack Obama die Folterer der CIA strafrechtlich verschont.

Besprochen werden ein Schreker- und Schönberg-Konzert mit den Münchner Philharmonikern unter Christian Thielemann, eine Ausstellung über den Einfluss der Latinos auf den amerikanischen Pop in Miami, Andreas Kriegenburgs Inszenierung von "Kabale und Liebe" in Düsseldorf, eine Reihe neuer DVDs und Bücher, darunter Christoph Schlingensiefs Tagebuch über seine Krebserkrankung.

FAZ, 20.04.2009

Auf der Medienseite informiert Robert von Lucius über heftige Auseinandersetzungen über das "Pirate Bay"-Urteil in Schweden. Eine überraschende Folge: "Innerhalb einer Nacht gewann die 'Piratenpartei', die bei der Reichstagswahl vor drei Jahren 0,63 Prozent der Stimmen erhielt, mehr als 6.000 neue Mitglieder. Damit übertrifft die Splitterpartei mit 21.100 Mitgliedern nun zumindest kurzfristig die etablierten mittelgroßen Parteien wie Umwelt-, Volks- und die Linkspartei."

In einer Broschüre fordert das Zentralkomittee der Katholiken die eindeutige Abkehr der Kirche von der "Judenmission". Der konservative Philosoph Robert Spaemann ist empört, denn: "Universalistische Religionen sind in ihrem Wesen 'missionarisch'. Sie würden sich aufgeben, wenn sie ihre Botschaft partikularisieren und damit relativieren würden." Wolfgang Sandner schickt einen Bericht vom Musikfestival von Savannah, Georgia. In der Glosse informiert Gina Thomas über neuerliche rückwärtsgewandte Architekturinterventionen von Prinz Charles. In amerikanischen Zeitschriften liest Jordan Mejias wenig Pro und viel Contra Obama. Neueste Nachrichten aus Köln lassen, wie Andreas Rossmann berichtet, hoffen, dass sechzig bis achzig Prozent der Archivschätze gerettet werden könnten. Auf der letzten Feuilletonseite gibt es kurze Vignetten zu für den deutschen Filmpreis nominierten Schauspielern, von Johanna Wokalek bis Ulrich Tukur. Und Geburtstagswünsche: für die Schauspielerin Jessica Lange (60), den Historiker Artur E. Imhof (70) und den Literaturwissenschaftler George Steiner (80)

Besprochen werden die Mannheimer Theaterversion von Dietmar Daths Roman "Waffenwetter", ein Auftritt der schwedischen Band A Camp in Köln, die Ausstellung "Masken" in Darmstadt und Bücher, darunter Martin Kohans Roman "Zweimal Juni" und Enki Bilals neuer Comic "Animal'z" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).