Heute in den Feuilletons

Ein Theater, das kleckert

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.04.2009. In der FAZ sieht Adriaan van Dis Südafrika am Abgrund und hofft doch auch auf die Zivilgesellschaft. In der Welt sieht es Hans Kollhoff als kapitalistischen Zyklus an, dass die Werke der Konkurrenten demnächst der Spitzhacke zum Opfer fallen. Die SZ lässt das Hamburger Schauspielhaus im Regen stehen. Hannes Stein erklärt in Achgut, warum er anders als die von Robert Spaemann bemühte Edith Stein den Holocaust nicht als Strafe für den Unglauben des jüdischen Volkes ansieht.

NZZ, 22.04.2009

Einen recht ernüchternden Einblick in die Feuilletonszene der arabischen Welt gibt Mona Naggar: "Die Armut des kulturellen Lebens im arabischen Raum ist lediglich ein Faktor, der sich in den Feuilletons niederschlägt. Angesichts der Dauerkrisen, welche die arabischen Gesellschaften durchleben, angefangen beim Bildungsnotstand bis hin zur Frage der Gewalt, verwundert aber die weitgehende Abwesenheit von ernsthaften Debatten. Zwar legen die Exponenten des arabischen Geisteslebens Wert darauf, regelmäßig in den Feuilletons zu schreiben - der syrische Dichter Adonis und der ägyptische Literaturwissenschafter und Kulturfunktionär Jabir Asfur etwa haben feste Kolumnen in der überregionalen Tageszeitung Al-Hayat. Aber viel haben sie nicht zu sagen." (Eine von uns sehr geschätzte Ausnahme ist die Theaterkritikerin von Al Ahram, Nehad Selaiha, die in ihrem jüngsten Artikel über das 10. Golf Theaterfestival in Kuweit beispielsweise die Folgen der Zensur in den arabischen Ländern beschreibt.)

Weiteres: Uwe Justus Wenzel greift Kritik am European Reference Index for the Humanities auf, der Philosophie-Zeitschriften in einem Ranking erfasst und dabei offenbar Englischsprachigkeit als oberstes Kriterium gesetzt hat. Besprochen werden Peter Steins Inszenierung von Alban Bergs "Lulu" (die Peter Hagmann in helle Begeisterung versetzt: "Laura Aikin ist eine unglaublich verführerische Lulu"), Helene Berrs Pariser Tagebuch 1942-1944, Hugo Hamiltons Roman "Legenden", Angelika Reitzers Prosaband "Frauen in Vasen" und ein Katalog zum Werk des Malers Jean-Etienne Liotard.

Aus den Blogs, 22.04.2009

Cory Doctorow weist in BoingBoing auf eine Studie der BI Norwegian School of Management hin, die das Download- und Kaufverhalten von Musikfans untersucht. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass die selben Leute, die illegal downloaden, gleichzeitig überdurchschnittlich viel Geld für Musik ausgeben: für legale Downloads oder Konzerttickets. Und warum sinken dann die Einnahmen der Musikindustrie? Nicht wegen der illegalen Downloads, meint Jacqui Cheng bei ars technica, sondern weil sich das Kaufverhalten im Internet geändert hat: Statt einer ganzen CD kaufen viele nur einen Song. Und das ist eben nur online möglich.

Daniel Leisegang wendet sich in Carta gegen Ursula von der Leyens mit dem Kampf gegen Kinderpornografie begründetes Vorhaben einer umfassenden, vom BKA betriebenen Internetzensur: "Die Internetblockaden schränken die in Art. 5 GG gesicherte Informations- und Rezipientenfreiheit massiv ein und berühren zudem das Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG). Eine Sperrung von Webseiten ist rechtlich allein als Ultima Ratio vorgesehen und daher nur in wenigen begründeten Ausnahmefällen gestattet. Die Bundesregierung aber plant in Zusammenarbeit mit dem BKA, mehrere tausend Webadressen zu zensieren."

In der Achse des Guten denkt Hannes Stein über Robert Spaemanns FAZ-Artikel von vorgestern nach. Der Philosoph verteidigte dort den universalen Anspruch der katholischen Kirche und also auch die Judenmission, und er zitierte Edith Stein, die den Holocaust als "Sühne für den Unglauben des jüdischen Volkes? bezeichnet hatte: "Hitler war nicht Gottes Werkzeug. Er war Gottes Feind. Jene Christen, die Beihilfe zum Völkermord leisteten, waren nicht Gottes Werkzeuge. Sie waren Gottes Feinde."

Ebenfalls in der Achse des Guten resümiert Henryk Broder nochmal die Ereignisse von Genf: "Wie früher bei den den Konferenzen des ZK der KPdSU war es die Aufgabe der Delegierten, einen Saal zu füllen, damit Knallchargen wie der iranische Präsident ein Publikum hatten, zu dem sie sprechen konnten. In bester Agitprop-Tradition wurde eine Abschlusserklärung per Akklamation einstimmig angenommen. So betrachtet, war die Konferenz ein voller Erfolg. Jetzt muss nur noch geklärt werden, was der iranische Präsident wirklich gesagt hat."

TAZ, 22.04.2009

Hans Nieswandt erzählt von einer Reise nach Nowosibirsk - mit zwei deutschen und drei russischen DJs - um dem dortigen Goethe-Institut eine Boombox zu überreichen. Dort angekommen erwies sich das Stadtbild als "cooler Stilmix aus viel Stalinismus, etwas Dubai, ein paar Hutzliputzli-Holzhäuschen aus der Gründungszeit und, eher am Rande des Zentrums, jede Menge abgerockte Sechzigerjahre-Platte. Eine dieser Wohnungen konnten wir auch besichtigen - ein lokaler Künstler hatte uns an unserem einzigen freien Abend zu einer Plow-Party eingeladen (Plow ist eine Art russische Paella), bei der wir in der Tat schön einen wegplafften, unter anderem mit zwei supernetten Hooligans vom FC Sibir Nowosibirsk."

Jörg Sundermeier war dabei als die amerikanische Reporterin Adrian Nicole LeBlanc an der American Academy ihr Buch "Zufallsfamilie" vorstellte, eine Reportage über Familien in der Bronx, für die sie 13 Jahre recherchiert hat. Zur Zeit arbeitet sie an einem Buch über die amerikanische Comedy-Szene, für das sie auch schon sechs Jahre recherchiert. "Warum sie nicht einfach ein paar Shows besuche und einige Interviews mache, wurde sie gefragt. Ihre Antwort zeigte, was den großstädtischen amerikanischen Journalismus dem deutschen so haushoch überlegen macht: 'Ich will mir ganz sicher sein. Es kann sein, dass ich für meine Bücher zu viel recherchiere. Doch ich will, dass, wenn es erscheint, die Porträtierten sagen können: Fair enough. Man mag es anders werten, aber meine Version ist eben auch wahr.'"

Weitere Artikel: Sabine Leucht berichtet vom "Radikal Jung"-Festival am Münchner Volkstheater. Für taz zwei hat Daniela Zinser zugehört, wie in Berlin die Mittelschicht ein Buch über die Unterschicht, "Deutschland dritter Klasse", diskutierte. Dirik von Oettingen, Betreiber des "weltweit einzigen Orangenpapiermuseums im Internet", beschreibt im Interview die Motive auf dem Papier, in das man früher Orangen eingewickelt hat.

Und Tom.

Welt, 22.04.2009

Der Architekt Hans Kollhoff, der Berlin gern mit Dreißiger-Jahre-Attrappen vollstellt, gibt im Londoner Architekturstreit Prince Charles recht. Seinen architektonischen Konservatismus verkauft Kollhoff konjunkturgemäß als Kapitalismuskritik: "Die Moderne arbeitet mit ungedeckten Schecks. Sie stellt Hypothesen auf, die sich kraft ihrer Andersartigkeit nicht beweisen müssen und die, kommt ihre Untauglichkeit zum Vorschein, wenn der mediale Kick erlahmt, der Verdrängung anheim fallen und nach 20 oder 30 Jahren der Spitzhacke. Das deckt sich denn auch auf wunderbare Weise mit unseren Abschreibungs-Zeiträumen."

Weitere Artikel: Berthold Seewald prüft die Ankündigung des ägyptischen Denkmalchefs Zahi Hawass, er habe die Grabstätte Kleopatras und des Antonius an den historischen Quellen gefunden und findet wenig Übereinstimmung. Manuel Brug unterhält sich mit dem ehemaligen Berliner Dirigenten Kent Nagano über sein neues Leben in München und Montreal. Hannes Stein wendet sich gegen einen Blogbeitrag des britischen Journalisten Johann Hari, der die somalischen Piraten gegen die die Strafverfolgung in Schutz nimmt. Uta Baier schildert einen Restitutionsfall von Raubkunst in den USA.

Besprochen wird der Film "Public Enemy No. 1" über den legendären franzöischen Gangster Jacques Mesrine.

FR, 22.04.2009

Arno Widmann hat in London die Saatchi-Ausstellung "Unveiled: New art from the Middle East" gesehen und ist einfach umgehauen: Zum Beispiel von Kader Attias hohler Beterversammlung oder den scheinbar dekorativen Mustern Tala Madanis: "Erst wenn man näher hinsieht, entdeckt man, dass etwas abgebildet ist. Keine schöne Tischdecke, kein Detail aus der blühenden Natur, sondern Szenen der Gewalt, der Unterwerfung. Mal lecken auf den Knien liegende Gestalten einander die Ärsche, mal stecken sie einander die Köpfe hinein. Die Bilder leben von dem Überfall, vom Schock der Erkenntnis, dass hinter zarten Farben, abstrakten Mustern menschliche Körper versteckt sind, die einander erniedrigen. Man kann diese Erfahrung sicher auch auf Kunsthochschulen machen, auch denen wird nichts Menschliches fremd sein, aber auch hier wird eine Betstellung zitiert, und sie wird auch hier zur Metapher der Unterwerfung der Menschen unter den Menschen."

Der Kurator der Frankfurter Michelangelo-Ausstellung Martin Sonnabend antwortet auf die Vorwürfe des britischen Kunsthistorikers, das Städel würde die Schau nutzen, um ungesicherte Zuschreibungen zu etablieren: "Das Städel hat es nicht nötig, sich eine Michelangelo-Zeichnung herbeizuschwindeln. Aber, auch wenn viele Fragen offen sind: Die hohe Qualität der 'Grotesken Köpfe' überzeugt mich von Tag zu Tag mehr davon, dass wir es hier mit einem Werk Michelangelos zu tun haben."

Weiteres: Jürgen Otten befasst sich mit den heftigen Verhandlungen, die die beiden Berliner Dirigenten Ingo Metzmacher und Lothar Zagrosek gerade mit der Kulturpolitik führen. Und der Germanist Jürgen Wertheimer fragt, ob der Kitsch der Oberammergauer Festspiele nicht vielleicht den Tatbestand der Blasphemie erfüllt. In Times mager denkt Harry Nutt über Wertevermittlung auf internationaler Ebene und den Sport nach. Besprochen wird Ralf Rothmanns neuer Roman "Feuer brennt nicht"

SZ, 22.04.2009

Till Briegleb hat am Hamburger Schauspielhaus Daniel Wahls Dramatisierung des Fallada-Romans "Wer einmal aus dem Blechnapf frisst" gesehen. Da tropfte es aus einem Tank, der unter der Decke angebracht war und das Bühnenbild am Ende fluten sollte. Dieser Regen war keine Absicht. Aber Symbol, meint der entkräftete Kritiker: "für ein Theater, das kleckert, selbst wenn es klotzt, das nicht aufhören will, obwohl nicht zu erkennen ist, wozu es eigentlich da ist, für eine leckgeschlagene, träge Kulturmasse, die an ihrem Ort verharrt, obwohl immer mehr von ihrer flüchtigen Substanz sinnlos verschwindet."

Weitere Artikel: Jens Bisky berichtet, dass der Regierende Bürgermeister von Berlin die zur Unkenntlichkeit entstellte Keimzelle der Stadt Berlin nahe dem zugigen Alexanderplatz künftig wieder ein ganz klein bisschen kenntlicher machen will ("Das urbane Gedächtnis ist zwischen Spree und Fernsehturm, zwischen Rathaus und Karl-Liebknecht-Straße nahezu vollständig ausgelöscht"). Stefan Koldehoff berichtet über die Restitution unter den Nazis zwangsversteigerter Kunstwerke in den USA. Alexander Menden zitiert aus einem offenen Brief Londoner Architekten gegen Prince Charles, der vor kurzem wieder gegen neue Bauten wetterte und versuchte, Projekte zu verhindern. Johan Schloemann hält die Behauptung ägyptischer Denkmalbehörden, "kurz vor der Entdeckung der Grabstätte von Antonius und Kleopatra zu stehen" für pure Spekulation. Petra Steinberger fordert zum heutigen 22. April, dem Earth Day, dass endlich Schluss ist mit der Vergötterung der Natur. Und Alexander Menden flaniert über die Londoner Buchmesse.

Alexandra Berzon, eine 29-Jährige Reporterin der Las Vegas Sun hat für ihre Berichterstattung über die mangelhafte Sicherheit auf Baustellen in Las Vegas überraschend einen Pulitzerpreis gewonnen, berichtet chk. auf der Medienseite. Interessant auch, was er über den Eigentümer und Chefredakteur Brian Greenspun erzählt, der das Blatt aus einem Auflagentief geholt hat: "Gleichzeitig ließ Greenspun den Internetauftritt der Sun neu strukturieren [mehr hier und hier]. Alle klassischen aktuellen Themen, die bisher vom Blatt abgedeckt wurden - also die Breaking News wie Autounfälle, Kriminalität, Häuserbrände -, kamen nun online zum Leser. Das Printprodukt wurde auf zwei Schwerpunkte ausgerichtet: Unternehmensberichterstattung und investigative Recherche. Damit, meint Brian Greenspun, 'sind wir vielleicht näher an dem Model, für das Zeitungen in ein paar Jahren vielleicht stehen'."

Besprochen werden der französische Gangsterfilm "Public Enemy No. 1", eine Ausstellung über das künstlerisch-musikalische Erbe der stets noch aktiven Avantgardeband Sonic Youth in Düsseldorf und Bücher, darunter Jochen Schmidts zuerst im Internet dargebrachte Hommage auf Proust, bewundernd besprochen von Michael Maar.

FAZ, 22.04.2009

Der niederländische Schriftsteller Adriaan van Dis, gerade zur Recherche für einen Roman in Südafrika unterwegs, sieht das von Korruption und Gewalt gezeichnete Land knapp vor dem Abgrund: "Niemand weiß, in welche Richtung sich Südafrika entwickeln wird. Bergab ist eine reale Möglichkeit." Dennoch sieht Dis auch Hoffnung - in den Medien, die kritisch berichten, und bei Intellektuellen und Organisationen, die die Missstände benennen.

Weitere Artikel: Jürg Altwegg stellt die bisher noch nicht übersetzten Memoiren von Claude Lanzmann vor. Thomas Thiel referiert einen Blogeintrag der US-Rechtsprofessorin Pamela Samuelson, die das geplante "Google Book Settlement" als Monopolbildung kritisiert. Joseph Croitoru berichtet, dass der wachsende Einfluss des Militärrabbiners Avichai Rontzk, der als Vorkämpfer der Siedlerwegung auftritt, bei säkularen Israelis zunehmend Besorgnis erregt. In der Glosse freut sich Dirk Schümer über die wundersame Stiftung einer neuen Orgel für die Kirche San Salvador in Venedig. Gina Thomas besucht die Londoner Whitechapel Gallery nach ihrem Umbau. In Stuttgart hat sich Timo John das neue Haus der Katholischen Kirche angesehen.

Besprochen werden Peter Steins Inszenierung von Alban Bergs Oper "Lulu" in Lyon, ein Berliner Konzert bei dem Daniel Barenboim und Pierre Boulez Musik von Elliott Carter und Gustav Mahler (Boulez) dirigierten, ein Konzert von Jackson Browne in Stuttgart, der erste Teil von Jean-Francois Richets Gangster-Legende "Public Enemy No. 1", die Ausstellung zu "Raub und Restitution" im Jüdischen Museum in Frankfurt, und Bücher, darunter Paul Veynes neue Studie "Als unsere Welt christlich wurde (312-394)" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).