Heute in den Feuilletons

Stormy Weather

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.04.2009. Heute ist der Tag des Buchs. Ein Tag, an dem viele Dichter starben, so der Dichter Ian McMillan im Guardian. Ein Tag, an dem das Buch stirbt, so der Darwin-Biograf Jürgen Neffe in der Zeit, der aber froh ist, denn das Internet ist das Himmelreich des Buchs, das sich aus seinem Körper befreit hat. Auch die FAZ ist froh: Christoph Schlingensief glaubt. Nur die taz sucht das Heil jenseits des Jenseits.

Weitere Medien, 23.04.2009

Der Dichter Ian McMillan fühlt sich elend, denn heute ist der 23. April, ein sehr, sehr schlechter Tag für Dichter, erklärt er im Guardian. "Es ist der grausamste Tag im grausamsten Monat, wie TS Eliot fast gesagt hat. Viele Menschen wissen, dass es der Tag ist, an dem William Shakespeare, der größte aller Dichter, 1564 geboren wurde und dass es der Tag ist, an dem er 1616 starb. Ich will nicht wie ein lokaler Radio-DJ klingen, der ein wenig amüsantes Feature über dunkle Zeiten macht, aber für Dichter im besonderen und kreative literarische Menschen im allgemeinen ist dieser Tag wirklich schwer zu ignorieren: William Wordsworth ging seinen letzten einsamen Gang an diesem Tag, ebenso wie der große spanische Autor Cervantes. Henry Vaughan, der walisische metaphysische Dichter, atmete an diesem Tag das letzte Mal die wunderbare walisische Luft ein. Rupert Brooke starb heute vor 94 Jahren und Harold Arlen - dessen Songs 'Stormy Weather' und 'Let's Fall in Love' (er hat übrigens nicht die Lyrics geschrieben) den Status von Dichtung erreichen - ging am 23. April 1986 zur anderen Seite des Regenbogens."

Für alle Dichter: Ella Fitzgeralds Version von "Stormy Weather":


Berliner Zeitung, 23.04.2009

Lutz Happel stellt die Netzaktivisten-Seite Wikileaks vor, wo zensierte Dokumente publiziert werden. Der Staatsanwlt wurde hier bereits einmal tätig, weil die Seite eine Liste mit Websites publizierte, die in Australien wegen angeblicher Kinderpornografie gesperrt worden waren: "Mit den Sperrlisten, so erklärten dagegen Wikileaks-Aktivisten, habe man zeigen wollen, dass nicht nur kriminelle Inhalte betroffen sind. Der Fall wurde in den einschlägigen Blogs ausgiebig und kontrovers diskutiert, die Mehrheit stand klar zu Wikileaks und sah in der Durchsuchung einen gezielten Angriff der Behörden auf eine unliebsame Seite."

Welt, 23.04.2009

Im Gespräch mit Eckhard Fuhr sieht Außenminister Steinmeier den Sinn auswärtiger Kulturpolitik - vor allem im Blick auf die islamischen Länder - auch in der Vermittlung westlicher Werte: "Es verlangt verstärkte Anstrengungen - kulturell, politisch, auch finanziell, um zu zeigen, dass europäische Werte, das Erbe der Aufklärung allen nützen."

Weitere Artikel: In der Leitglosse freut sich Hendrik Werner zum Tag des Buchs nochmal über die "verdiente Verurteilung" der Betreiber der Pirate Bay. Stefan Keim resümiert neueste Verwerfungen der Essener Kulturpolitik, wo man Christian Tombeil zum Chef des Grillo-Theaters ernannte. Besprochen werden eine Ausstellung mit frühen Magnum-Fotografien in München. Filme, darunter Edward Zwicks "Defiance" über jüdische Partisanen im Zweiten Weltkrieg.

Auf der Magzinseite erzählt Else Miersch, Mutter des Journalisten Michael Miersch, wie sie einst ihren Mann Ekkehard Miersch auf abenteuerliche Weise aus einem DDR-Lager befreite, wohin er nach dem Krieg von der Stasi verschleppt worden war. Auf der Forumsseite erinnert der polnische Journalist Jan Skorczynski an den Runden Tisch in Warschau, der den Fall des Kommunismus im Jahr 1989 einleitete.

TAZ, 23.04.2009

Jörg Sundermeier kommentiert das Engagement von Promis wie Günter Jauch oder Tita von Hardenberg für die Berliner Initiative Pro Reli, die per Volksabstimmung am 26. April Religion als Schulfach gegenüber dem Fach Ethik stärken und wieder verbindlich machen will. Der Kampagnen-Slogan "In Berlin geht?s um die Freiheit" sei allerdings zwiespältig. "Es geht nämlich um nichts weniger als Hegemonie über die Moralvorstellungen. Und es ist dem deutschen Christen lieber, wenn der Imam oder der Rabbi seine Schäfchen das Seine lehrt, als dass auch nur ein Christenkind durch die säkulare Ethik von der eigenen Heilslehre abgebracht wird. Denn ein Kind ist in seiner Konfession und der daraus abzuleitenden, also 'seiner Kultur' für immer und ewig gefangen zu halten. Das nennen sie Freiheit."

Sonja Vogel wirft einen Blick in die Zeitschriften Wespennest und Osteuropa, die sich mit der literarischen Ost-West-Vermittlung beschäftigen. Besprochen werden Felix Moellers Dokumentation "Harlan - Im Schatten von Jud Süß", die untersucht, was der antisemitische Hetzfilm für die Familie Harlan bedeutet hat, der Dokumentarfilm "Ein Traum in Erdbeerfolie - Comrade Couture" von Marco Wilms über die Herausforderung und Umgehung der visuellen Linientreue in der DDR und die DVD von Brian de Palmas Irakkriegsfilm "Redacted". Und in tazzwei schreibt Jan Kage einen Insidernachruf auf das einst aggressive, nun "weich gekochte" Berliner Hiphop-Label Aggro.

Hier Tom.

Zeit, 23.04.2009

"Mag das Buch aus Sicht der Vergangenheit seine Seele verlieren - mit Blick nach ist sie dabei, sich aus ihrem Körper zu befreien", begrüßt der Autor und Darwin-Biograf Jürgen Neffe das Ende des gedruckten Buches und seine multimediale Zukunft: "Wir sehen Venedig im 17. Jahrhundert, lassen uns durch Vatikan oder Pentagon führen, verfolgen den briefroman mit der täglichen Mail oder erfahren den biografischen Hintergrund einer Schlüsselszene bei Robert Walser. Wir erleben Autoren im Ringen um ihr Lebenswerk, das sie immer weiter verfolgen und verändern. Andere schreiben runde Bücher mit unendlichen geschichten ohne Anfang und Ende. Zettels Albtraum als Erfüllung der Träume von Walker Percy und David Foster Wallace mit seinen unsterblichen Fußnoten. Und nur ein Augenzwinkern entfernt, sämtliche Sekundärliteratur - goldene Zeiten für Kundschafter auf den Spuren des K., die mehr verstehen wollen, als sie allein begreifen können."

(Auf der erste Seite sind Susanne Gaschke die digitalen Möglichkeiten des Internets eher der blanke Horror, weswegen sie vorbehaltlos dem Heidelberger Appell zustimmt, um die Rechte der Autoren zu stärken.)

Christian Kortmann stellt den neuesten Hype des Internets vor: Mash-ups, also Videos, die aus verschiedensten Stücken zusammengesetzt werden: "Mit dem Remix-Künstler Kutiman erreicht die Mash-up-Technik jetzt neue Höhen. Der 27-jährige Israeli mischt seine Songs aus den Amateur-Musikaufnahmen zusammen, die er bei YouTube findet. Einzelne Soundschnipsel vom Nachwuchsschlagzeuger oder vom Gitarrenvirtuosen auf der Bettkante verwandelte er in Funkrock, harte Tanzmusik oder Elektro-Elegien."




Weiteres: Der Literaturkritiker Gerhard Pretting versucht, der Finanzkrise literaturwissenschaftlich beizukommen: Die Auflösung realer Märkte in Zeichen des Geldes ist reinste Postmoderne: "Alles wird zum Zeichen, und hinter jedem Zeichen lauern bloß weitere Zeichen und hinter all diesen Zeichen und und Codes und Simulakren: das große weite Nichts." Ursula März freut sich in der Randspalte, dass Christoph Schlingensief den "Mechanismus öffentlicher Aufmerksamkeit" doch gelegentlich unterbrechen kann. Evelyn Finger porträtiert die Bangarra Dance Company, die die Tänze der Aborigines und modernes Körpertheater verbindet und beim Festival Movimentos in Wolfsburg zu sehen ist. Der Organisationssoziologe Stefan Kühl schreibt anlässlich des Auslieferungsgezerres um den mutmaßlichen KZ-Wachmann John Demjanjuk über die Beteiligung von Nichtdeutschen an den NS-Verbrechen.

Besprochen werden Bob Dylans neues Multimedia-Album "Together Through Life", Elfriede Jelineks Krisentheater "Die Kontrakte des Kaufmanns", Lars Jessens Verfilmung von Rocko Schamonis "Dorfpunks" und die Van-Gogh-Ausstellung "Zwischen Erde und Himmel" in Basel.

FR, 23.04.2009

Der Architekturhistoriker Wolfgang Pehnt denkt über die Zukunft der Städte nach, die in den vergangenen Jahren zwar aufregender geworden sind, aber nicht wohnlicher: "Ob Postmoderne oder Minimalismus, es herrschen nach wie vor: unvernünftiger Flächenverschleiß, erhöhtes Anspruchsdenken (mehr als 40 qm Wohnfläche pro bundesdeutscher Person, 1950 waren es noch 15 qm!), zunehmender Verlust des öffentlichen Raums, Perforierung der Randzonen, vermehrter Bedarf an individuellem Verkehr sprich Auto, den auch die vorübergehende Reduzierung der Pendlerpauschale nicht stoppen konnte."

Für ein Meisterwerk hält Heike Kühn Edward Zwicks Film über den Widerstand der Brüder Bielski, die zusammen mit 1200 anderen Juden in den Wäldern Ostpolens gegen die NS-Besatzer gekämpft haben: "Alles ist diesem aufrüttelnden Film gelungen, von der Besetzung kleinster und großer Rollen, bis zur unsentimental trauernden Filmmusik, die mit der Violine die Kultur des osteuropäischen Judentums hochleben lässt."

Weiteres: Arno Widmann gratuliert George Steiner zum Achtzigsten.
Peter Michalzik gibt einen Ausblick auf Oliver Reeses ersten Spielplan für das Schauspiel Frankfurt. In der Times mager weiß Ina Hartwig schon jetzt, dass Judith Hermanns neues Buch "Alice" ein "Fall für die Metaebene" wird.

Besprochen werden Lars Jessens Rocko-Schamoni-Verfilmung "Dorfpunks", Aribert Reimanns "Lear" auf CD, "Christoph Schlingensiefs Tagebuch "So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!", Walter Moßmanns Erinnerungen an '68 "realistisch sein: das unmögliche verlangen".

FAZ, 23.04.2009

Mit Begeisterung hat Christian Geyer das nunmehr veröffentlichte Krebstagebuch des Christof Schlingensief gelesen, das er durchaus katholisch findet, wenngleich nicht nach Theologenart: "Durch alle Blitze hindurch, die Schlingensief gegen Himmel und Hölle schleudert, wird doch klar: Dieser Mann steht nicht mit dem Rücken zur Wand, dieser Mann hat den Rücken frei. Er glaubt - und weiß selbstverständlich nicht, warum. Niemand kann so ehrfürchtig mit Gott Humbug treiben wie Schlingensief - auf der Bühne wie im Krankenhaus."

Weitere Artikel: Jochen Hieber hat sich das Konzept für ein deutsches Fußballmuseum angesehen: Er freut sich, dass es überhaupt eines geben soll, nur ist er mit den derzeitigen Ideen nicht recht glücklich. Mit nicht allzu leisem Spott bedenkt Gerhard Stadelmaier die nun verkündeten Pläne des neuen Frankfurter Schauspielchefs Oliver Reese. In der Glosse schildert Jürg Altwegg die Verlegenheiten, in die Andre Glucksmann die Verleihung der Würde des Ritters der Ehrenlegion durch seinen Freund Nicolas Sarkozy stürzt. Thomas Thiel macht auf die Eröffnung der Unesco-Online-Bibliothek "World Digital Library (WDL)" aufmerksam. Oliver Jungen hat in Köln den Auftakt der auf drei Jahre angelegten Mammut-Lesung von Uwe Johnsons "Jahrestagen" erlebt. Andreas Kilb sieht es kommen, dass die "Pro Reli"-Initiative, über die in Berlin am Sonntag abgestimmt wird, am Desinteresse der "Lauen" scheitern wird.

Auf der Kinoseite unterhält sich Michael Althen mit dem Schauspieler Vincent Cassel, gerade im Film "Public Enemy No. 1" in deutschen Kinos zu sehen. Joseph Hanimann hat die Ausstellung "Jacques Tati - Deux temps, trois mouvements" in der Pariser Cinematheque Francaise besucht. Auf der Medienseite denkt Michael Hanfeld darüber nach, was die Rückkehr von Johannes B. Kerner vom ZDF zu Sat.1 für den privaten und was sie für den öffentlich-rechtlichen Sender bedeutet.

Besprochen werden die Ausstellung "Oublier Rodin?" in Paris, ein Lloyd-Cole-Konzert in Köln, Inszenierungen von Schillers "Kabale und Liebe" und Kathrin Rögglas "Beteiligte" in Düsseldorf, Edward Zwicks Widerstands-Film "Unbeugsam" und Bücher, darunter William T. Vollmans Reisetexte "Hobo Blues" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 23.04.2009

Joachim Güntner entwirrt die Fäden, die sich im Kulturkampf um das Schulfach Religion und den entsprechenden Volksentscheidin Berlin ineinander verknotet haben. Paul Jandl bereitet uns auf die erste Saison des neuen und ehrgeizigen Burgtheater-Intendanten Matthias Hartmann vor.

Besprochen werden eine Schau der Bestände des Kunstmuseums im Schaulager Basel, Ulrich Schreiterers Untersuchung zur Attraktivität amerikanischer Universitäten "Traumfabrik Harvard" und Eleonore Freys Erzählung "Muster aus Hans" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Die Filmseite beschäftigt sich mit Stephan Elliotts Gesellschaftssatire "Easy Virtue" und John Hamburgs Männerkomödie "I Love You, Man".

SZ, 23.04.2009

Jubilatorisch ist Thomas Steinfeld zum achtzigsten Geburtstag des Literaturwissenschaftlers George Steiner zumute: "ein Weiser, in dem der Fundus der abendländischen Bildungstradition gespeichert und verlebendigt erscheint." Jens Bisky zieht eine positive Bilanz der auswärtigen Kulturpolitik unter Frank-Walter Steinmeier. Christine Dössel stellt Christian Tombeil vor, den neuen Intendanten des Essener Grillo-Theaters - der allerdings ein gänzlich unbeschriebenes Blatt ist. Stefan Koldehoff weiß zu berichten, dass US-Museen der Krise durchs lukrative Abstoßen von Werken zu begegnen suchen. Helmut Schödel spricht mit Matthias Hartmann über dessen Pläne am Wiener Burgtheater. Über neuerlichen Streit zwischen Ukrainern und Russen um Nikolai Gogol informiert Thomas Urban. Marc Beise gratuliert dem Politikberater Meinhard Miegel zum Siebzigsten. Christopher Keil weiß auf der Medienseite, dass es um das Verhältnis von ZDF und Johannes B. Kerner, der jetzt seine Rückkehr zu SAT.1 bekanntgab, schon länger nicht mehr zum besten stand.

Auf der Kinoseite unterhält sich Fritz Göttler mit dem französischen Regisseur Bertrand Tavernier über dessen Film "In the Electric Mist", der in den USA nur auf DVD herauskommt und in Deutschland noch gar keinen Start hat. Außerdem gibt es von Göttler einen knappen Vorbericht zum Münchner Architekturfilmfestival.

Besprochen werden die Uraufführung von Enric Palomars Oper "Der Kopf des Täufers" in Barcelona, die "Honore Daumier"-Ausstellung in der Münchner Villa Stuck, neue Filme, darunter Edward Zwicks "Unbeugsam" und Philipp Bloms Buch "Der taumelnde Kontinent" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).