29.04.2009. Jetzt auch mit NZZ: Darin schildert der pakistanische Autor Mohammed Hanif, wie das Leben unter der Scharia im Swat Tal aussieht. In der FR erinnert sich der Kabarettist Johnny Klinke: Eine Stelle bei Opel kann einem ein ganzes Lehrerstudium ersparen. Und Umberto Eco erklärt, warum das Buch unverzichtbar ist. Die FAZ plädiert gegen Open Access. Die SZ warnt vor "Les Untergunther".
FR, 29.04.2009
In einem vom HR übernommenen Interview mit Esther Schapira
erzählt der Kabarettist
Johnny Klinke, wie er in den Siebzigern
bei Opel am Fließband malochte: "Ich glaube, wenn der Opel verschwindet - egal, wie man zu dem Auto steht - fällt eine
soziale Atombombe auf Rüsselsheim... Wenn ich an die 70er Jahre zurückdenke, das war eine große und lebendige Zeit. Wir waren Undercover bei Opel an den Fließbändern und haben dort fürs ganze Leben gelernt. Ich möchte die Zeit nicht missen, hat mir vielleicht ein Lehrerstudium erspart. Wenn man acht Stunden bei 40 Grad Hitze
Punktschweißen macht,
rechts ein Türke, links eine Jugoslawe, ein Italiener, ein Grieche, dann lernt man Sprachen. Zweitens lernt man sich zu wehren.Das war direkt nach dem Abitur, ich hatte Latein, Griechisch, Hebräisch. Paar Wochen später stand ich am Fließband. "
Umberto Eco, der
bekanntlich die größten Werke der Weltliteratur auf einer
250-Gigabyte-Festplatte mit sich herumträgt,
erklärt, warum Bücher unverzichtbar sind. Vor allem
bei Gewitter: "Es scheint, dass die modernen Speichermedien mehr zur Verbreitung von Informationen taugen als zu deren Erhaltung. Bücher dienen seit langer Zeit sowohl der Verbreitung als auch der Erhaltung unseres Wissens. Vielleicht wird man in einigen Hundert Jahren, wenn alle elektronischen Speichermedien
entmagnetisiert sind, auf einen schönen Wiegendruck angewiesen sein, um auf altes Wissen zurückzugreifen. Und von unseren modernen Büchern werden nur jene überleben, die auf qualitativ hochwertigem Papier gedruckt sind oder auf dem
säurefreien Papier, das viele Verlage inzwischen benutzen."
Weiteres: In Times mager
denkt Harry Nutt über neue Konzepte nach,
ethnografische Raubkunst angemessen auszustellen. In einem zweiten Text
meldet Nutt, dass die Allianz "Schriftliches Kulturgut erhalten" eine neue Denkschrift vorgelegt hat. Franz-Anton Cramer
berichtet von der
Arabischen Tanzplattform in Beirut. Arno Widmann
schreibt zum 50-jährigen Bestehen der
Zeitschrift Argument.
Besprochen werden eine
Aufführung von
Brittens Sommernachtstraum in Bern, ein
Konzert des kanadischen Musikers
Mocky,
Till Brieglebs Essay "Die diskrete Scham" und
Steffen Popps Gedichte "Kolonie zur Sonne" (mehr ab 14 Uhr in unserer
Bücherschau des Tages).
Aus den Blogs, 29.04.2009
Robin Meyer-Lucht
berichtet auf
Carta über den Besuch des
Guardian- Chefredakteurs
Alan Rusbridger in Berlin und fasst dessen Kernaussagen zur Zukunft des Journalismus zusammen. Eine lautet: "Wenn wir beim Online-Geschäftsmodell nicht weiterkommen, dann müssen wir als Journalisten vor allem darüber nachdenken, wie sich
Journalismus verändern muss, um weiter wichtig und relevant zu bleiben." Ein Video ist dazu gestellt.
Ah, endlich, eine Gelegenheit auf die
Ukulele-Reihe bei
BoingBoing hinzuweisen! Diesmal
spielt Sarahsukulele. Unter dem Video gibt's viele weitere Ukulele-Links. Wir empfehlen ganz besonders
Sophie Madeleines "Beard Song".
SZ, 29.04.2009
Alex Rühle
stellt die französische Gruppe
"Les Untergunther" vor, die heimlich nachts kaputtes Kulturgut reparieren - zum Beispiel die
Uhr des Pantheons, wie sie im nachhinein dem Verwaltungsdirektor Bernard Jeannot mitteilten. "Um Bernard Jeannot aus seinem konsternierten Schweigen herauszuhelfen, boten ihm die jungen Leute eine Führung durch das unter seiner Obhut stehende Gebäude zum Zwecke der Uhrwerkpräsentation an. Der ohnehin schon
seelisch derangierte Direktor musste mitansehen, wie die vier Besucher mit Generalschlüsseln diverse Türen öffneten und mit größter Selbstverständlichkeit durch verborgene Gänge des Gebäudes liefen, von denen er selbst nicht einmal wusste, dass sie existieren." Nachlesen kann man das in
Lazar Kunstmanns "höchst unterhaltsamen" Buch
"La Culture en clandestin - L'UX" (Editions Hazan)
Wenig Risikobereitschaft
sieht Till Briegleb dagegen in den Theaterplänen der
neuen deutschen Intendanten, "von denen vor allem die jüngeren Jahrgänge
kaum noch Haare auf dem Kopf haben". Einzige Ausnahme scheint ihm
Lars-Ole Walburg zu sein, der "verspricht, dass er in Hannover 'auf keiner Bühne Experimente scheuen' werde, und seine Pläne sind auch die einzigen, die das Prädikat 'mutig' verdienen. Wenig bekannte Autoren, kaum Klassiker, zahlreiche Projekte innerhalb und außerhalb des Theaters, dazu ein komplett neues und sehr junges Ensemble, keine Regiestars (außer dem Intendanten selbst) und eine auffällig breite Beschäftigung mit Gegenwartsphänomenen und revolutionären Umbrüchen in der Geschichte erwecken den Eindruck, Walburg wolle von Hannover aus
die Idee des Risikos zurück ins deutsche Theater bringen."
Weitere Artikel: Eva-Elisabeth Fischer
porträtiert Münchens
Kulturreferenten Hans-Georg Küppers als besonnenen Pragmatiker, der "schafft, was oft mehr bewirkt als Geld: funktionierende Strukturen". Catrin Lorch wundert sich über die
Ausstellungsmacher der Schau "60 Jahre. 60 Werke. Kunst aus der Bundesrepublik Deutschland von "49 bis "09" Berliner
Martin-Gropius-Bau: Sie haben
Klaus Staeck zwar gebeten, Plakate beizusteuern, "allein: Der Präsident der Akademie der Künste und bedeutendste Plakatkünstler der Bundesrepublik taucht
weder auf der Künstlerliste des Kataloges noch auf der
Einladungskarte auf". Hartmut Dorgerloh von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und der Historiker Jürgen Luh erklären im
Interview ihre Pläne für die Veranstaltungen zum 300. Geburtstag
Friedrichs des Großen 2012. Holger Liebs schreibt zum Siebzigsten des Körperkünstlers
Klaus Rinke. Wolfgang Schreiber
berichtet über den Streit um einen neuen
Konzertsaal in Dresden. Eine Meldung informiert uns, dass der Wettbewerb für ein
Einheitsdenkmal in Berlin gescheitert ist: von 563 eingereichten Entwürfen hat keiner die Jury überzeugt (
mehr dazu hier).
Besprochen werden
Tony Gilroys Thriller
"Duplicity" mit Julia Roberts und Clive Owen,
Volker Löschs Inszenierung von Züli Aladags Film "Wut" über die gescheiterte Integration der Einwanderer in Deutschland am Schauspiel Stuttgart, die
Ausstellung "
Doppelleben. Literarische Szenen aus Nachkriegsdeutschland" im Literaturhaus Berlin, einige CDs und Bücher, darunter
Walter Kempowskis letzte Gedichte (mehr in unserer
Bücherschau heute ab 14 Uhr).
Welt, 29.04.2009
Ilja Braun
schreibt für die
Welt über die Problematik des
Google Book Settlement und zitiert ein Argument des New Yorker
Urheberrechtlers James Grimmelmann: Das Settlement gilt nur für Google: "Jeder
andere Anbieter digitaler Buchangebote müsste, wollte er verwaiste Werke in seine Datenbank aufnehmen, nach wie vor mit unzähligen Klagen rechnen, deren Ausgang ungewiss wäre."
Weitere Artikel: Hanns-Georg Rodek
empfiehlt den Film "Duplicity", in dem
Julia Roberts und
Clive Owen als Industriespione offensichtlich fulminant agieren ("Seit Katharine Hepburn und Cary Grant hat sich vielleicht niemand so stilvoll duelliert wie Roberts und Owen"). Cosima Lutz
macht sich Gedanken zum anstehenden
Tag des Lachens. Uwe Wittstock
kommentiert den Abgang der Chefin des Frankfurter Literaturhauses,
Maria Gazzetti. Thomas Hahn
sieht die Regisseurin
Irina Brook als würdige Nachfolgerin ihres berühmten Vaters
Peter Brook. Uta Baier
porträtiert eine Reihe ambitionierter Museumschefinnen in Deutschland. Sophie Mühlmann
besucht eine Ausstellung über den Qing-Herrscher
Kangxi (1654-1722) in
Singapur. Und Manuel Brug
hat in Los Angeles den Dirigenten und Komponisten
Esa-Pekka Salonen getroffen, der Abschied nimmt vom
Los Angeles Philharmonic.
TAZ, 29.04.2009
Karim El-Gawhary
besucht für tazzwei das erste Karikaturenmuseum Ägyptens nahe Kairo: "Auch der
Nahostkonflikt ist immer wieder Thema: 'Habt noch etwas Geduld, wir lösen euer Problem genauso, wie wir es mit ihm gelöst haben', sagt Uncle Sam zu dem Palästinenser und deutet auf einen Indianer hinter ihm."
Besprochen werden eine
Ausstellung jugoslawischen Urbanisten und Denkmalarchitekten
Bogdan Bogdanovic in
Wien, die
Ausstellung "Hannes Kilian - Fotografien" in
Berlin und ein
Konzert des Transgender Popstars
Antony Hegarty in Frankfurt. Auf der Medienseite
meldet Steffen Grimberg, dass der jetztige
FR-Chefredakteur Uwe Vorkötter zur
Berliner Zeitung wechseln soll - beide Zeitungen gehören bekanntlich zum Dumont-Konzern.
Tom.
NZZ, 29.04.2009
Jetzt steht die
NZZ im Netz, und zwar mit einem sehr eindrücklichen Text des pakistanischen
Schriftstellers Mohammed Hanif, der
schildert, welch hohen Preis die Regierung zahlte, als sie um des Friedens mit den Taliban willen die
Scharia im Swat-Tal erlaubte: "Mingora ist
nicht finsterste Provinz, kein Teil jenes pakistanischen Wilden Westens, den westliche Medien bei der Berichterstattung über die Taliban so gern beschwören. Es ist eine Stadt, die vor Energie und Ambition aus den Nähten platzt; es gibt Hochschulen für Rechtswissenschaft und Medizin, eine Fachschule für Pflegepersonal, Privatschulen, die auf Englisch unterrichten; es gibt sogar ein Museum für Regionalkultur. Aber am Tag, an dem der Frieden kam,
verschwanden die Frauen. Von den Straßen, aus den Büros, sogar aus dem großen Basar, wo nur Familien zugelassen sind und nichts Schlimmeres verkauft wird als bunte Stoffe, Taschen, Schuhe und Accessoires. Auch
die Musik verstummte. Alle vierhundert Musikhandlungen blieben geschlossen."
Besprochen werden
Gavin Hoods "X-Men"-
Prequel "Wolverine", eine "La Boheme" in der
Version Leoncavallos im Theater Luzern und Bücher, darunter
Helmuth James von Moltkes Tagebuch und Briefe aus der Haft",
Daniel Goetschs Roman "Herz aus Sand" und
Peter Esterhazys Hommage an seine Mutter "Keine Kunst".
FAZ, 29.04.2009
Mark Siemons hat den im Westen wie in China selbst sehr präsenten Künstler
Ai Weiwei getroffen, der auf vielen Foren und in ungezählten Aktionen Kritik übt, zwischen Ost und West agiert und Fragen stellt: "'Ich gebrauche mich selbst als
Readymade', sagt er, 'um meine Untersuchungen anzustellen. Es wird zu einem Lebenszweck, sich selbst als Beispiel zu nehmen.' ... Dieser Mann, dessen Bauch und Bart heute jeder kennt, wird mit seinen Fragen, die die vorhandenen Differenzen sowohl akzeptieren wie überschreiten, auch im Westen etwas verändern. 'Darum dreht sich doch die
Freiheit', sagt er in aller Unschuld: 'alles in Frage zu stellen.'"
Weitere Artikel: Hannes Hintermeier
fasst - mit gewohnter Tendenz - den gegenwärtigen Stand der Dinge zu Googles "
Book Settlement" zusammen - und sieht gute Aussichten, dass die Entscheidung darüber noch einmal verschoben wird. In der Glosse
widmet sich Edo Reents in einem atemlosen Satz dem einen oder anderen Fehler des
FC Bayern. Als zukunftsängstlich und konservativ begreift Lena Bopp den sich in Frankreich derzeit in
Demonstrationen äußernden Protest gegen Nicolas Sarkozys Politik. Andreas Kilb beschreibt, wie
Friedrich der Große von der Potsdamer Schlösserstiftung ein neues Image als "gewohnheitsmäßiger Hasardeur" und "PR-Genie" verpasst bekommen soll. In deutschen Zeitschriften stößt Ingeborg Harms auf manch originelle These zur
Finanzkrise. Günter Kowa stellt den
Network Campus der Berliner Galerie Aedes vor.
Auf der Seite Forschung und Lehre springt der Jurist
Volker Riebke Roland Reuß und dessen "Heidelberger Appell" zur Seite, auch in der Frage von
Open Access. Denn auch wenn ein Wissenschaftler als Angestellter vom Staat bezahlt werde, dürfe er veröffentlichen, wo er will: "Der einzelne Wissenschaftler darf nicht einmal 'sanft' an der freien Wahl des Veröffentlichungsmediums für seine Erkenntnisse gehindert werden. Universitäten und Großforschungseinrichtungen haben keine wissenschaftspublizistische Funktion. Wissenschafts- und Pressefreiheit setzen auf freie Autoren und freie Verleger. Das Kosten- und das Sparinteresse des Wissenschaftsverbrauchers rechtfertigt keine Freiheitsbeschränkung."
Auf der DVD-Seite begeistert sich Michael Althen für eine Box mit Filmen von
Jacques Rivette, schwärmt Dominik Graf von der "radikal erfrischenden Uneinheitlichkeit" von
Lucio Fulcis Schmugglerfilm "Contrabandiere", amüsiert sich Jörg Thomann mit den "frühen Jahren" von späteren
Monty-Python-Mitgliedern und empfiehlt Ivo Ritzer
Agusti Villarongas Horrorfilm "Tras el cristal" zur Ansicht.
Besprochen werden der Superheldenfilm
"X-Men Origins: Wolverine" und Bücher, darunter der Gedichtband "Langmut" von
Walter Kempowski (mehr dazu in der
Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).