Heute in den Feuilletons

Emotional unterversorgt

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.05.2009. "Heidelberger Appell" hin oder her - in der Welt fasst Cora Stephan ihren Ko-Autoren und den etablierten Medien an die jeweils eigenen Nasen. Auch die taz kritisiert die Medien, die das eigene Desinteresse an Europa als "Europa-Müdigkeit" des Publikums verkaufen. Die NZZ zeigt: Matisse versteht Picasso mit dem Kopf, aber nicht mit dem Hintern. Der SZ-Kritiker Christopher Schmidt diagnostiziert eine Sehnsucht nach Unmittelbarkeit im Theater und beim Publikum.

Welt, 11.05.2009

Die Autorin Cora Stephan hat zwar den "Heidelberger Appell" unterzeichnet, aber es wehen sie doch auch ein paar Selbstzweifel an. In der Welt am Sonntag (ungekürzt auf der Achse des Guten) schreibt sie: "Autorengejammer ist da oft unredlich... Die wenigsten haben dafür gesorgt, dass sie bei neuen Verwertungsmöglichkeiten auch ihren fair share erhalten." Und die alten Medien? "Als Kulturvernichter in großem Maßstab betätigen sich trotz ihres 'Kulturauftrags' schon seit Jahren die Öffentlich-Rechtlichen Rundfunkanstalten, die mittlerweile die meisten ihrer Programme massentauglich umgebaut haben, damit sie Quote machen. Beim Hörfunk, einst Förderer des Essays und der 'Gedanken zur Zeit', und beim Fernsehen, fällt die geringe Wertschätzung der 'Contentproduzenten' besonders auf. Das Fernsehen hat sich längst selbst entleibt."

In der heutigen Welt findet Hanns-Georg Rodek die Verfilmung der "Illuminati" besser als die Verfilmung des ebenfalls auf einem Roman von Dan Brown beruhenden "Da Vinci Code". Manuel Brug kontert in der Leitglosse die Meldung, dass Jose Carreras seine Opernkarriere aufgebe, mit der Frage, wann Carreras denn überhaupt zum letzten Mal in der Oper gesungen habe. Uta Baier unterhält sich mit Norbert Zimmermann von der Preußen-Stiftung über die möglicherweise anstehende Rückgabe des Welfenschatzes an die Erben jüdischer Vorbesitzer. Manuel Brug führt ein Gespräch mit dem taiwanesischen Choreografen Lin Hwai-min, der in Wolfsburg geehrt wird. Rainer Haubrich besuchte den Neubau für die "Topografie des Terrors", wo Richtfest gefeiert wurde. Michael Pilz freut sich auf das kommende Album der Band Green Day, die unterdes in Berlin ein Konzert vor ausgewähltem Publikum gab. Klaus Dermutz erzählt die Karrierestationen der Schauspielerin Birgit Minichmayr.

Besprochen wird Tilman Knabes "Samson und Dalila"-Inszenierung in Köln.

FR, 11.05.2009

Papst Benedikt XVI. besucht seit heute Israel. Yad-Vashem-Direktor Avner Schalev erklärt im Interview, dass er sich von diesem Besuch "mehr als emotionale Gesten" erwartet: "Ich erwarte vom Papst eine besondere Aussage. Es wird auf jedes Wort ankommen. Wir hoffen, seine Rede wird prinzipielle Angelegenheiten berühren. Ganz besonders eben wegen seiner persönlichen Geschichte, aber auch, weil es Missverständnisse gab seit Beginn seiner Amtszeit gab. Auch die Affäre um Pius-Bruder Richard Williamson schmerzt noch."

Jamal Tuschik unterhält sich mit dem Stalburg-Theaterdirektor Michi Herl über die schwärmerisch verehrte Kleinkünstlerin Uta Köbernick. "Claus Peymann holte die Schauspielschülerin nach Berlin und bot ihr bald einen Ensembleplatz am Berliner Ensemble an. Das Angebot schlug sie aus, abgestoßen nicht zuletzt vom 'Kantinenzynismus'. Herl diktiert: 'In Berlin kann man eh nicht leben, wenn man sich ernsthaft mit Kunst abgibt. Schreib das. Berlin, das ist Wowereit mit der Zunge von Desiree Nick im Maul.'"

Weitere Artikel: In Times Mager feiert Arno Widmann Christine Schäfers "Lucia di Lammermoor" in Frankfurt. Frauke Hartmann resümiert die Autorentheatertage in Hamburg. Auf der Medienseite erklärt Daniel Bouhs, warum die Fernsehsender bis heute nicht alle Sendungen - zum Beispiel den Tatort - ins Netz stellen.

Im Leitartikel kommentiert Patrick Beuth den Erfolg der Online-Petition gegen die von der Bundesregierung geplante Sperrung von Kinderporno-Seiten im Netz. Weit mehr als 65.000 Menschen haben bereits unterschrieben, die eine weitreichende Zensur befürchten. "Die Diskussion um die technischen Unzulänglichkeiten der Sperren, die selbst von Laien in wenigen Sekunden umgangen werden können, wird in erster Linie online vorangetrieben. Und zwar von denen, die mit dem Netz so umgehen, wie es künftig jede Generation tun wird: jederzeit, überall, in einer Geschwindigkeit und mit Detailkenntnissen, denen Lehrer, Eltern, Behörden und Gesetzgeber noch weitgehend macht- und ahnungslos gegenüber stehen."

Besprochen werden Joseph Haydns Oper "Orlando paladino" an der Staatsoper Unter den Linden, Tilman Knabes Inszenierung von Saint-Saens' Oper "Samson und Dalila" und Nils Minkmars Essayband "Mit dem Kopf durch die Welt" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 11.05.2009

Es gibt bekanntlich keine europäische Öffentlichkeit. Wie das kommt, erklärt Martin Unfried auf der Meinungsseite: "Es ist seit Jahren das gleiche Ritual - und es ist zum Lachen: Dieselben Medien, die das Europäische Parlament durchweg ignoriert haben, deuten kurz vor der Wahl das Desinteresse des Publikums als Zeichen der Europamüdigkeit."

Auf den Kulturseiten schreibt Wiebke Porombka aus Anlass des 70. Todestages ein flammendes Plädoyer für den Feuilletonisten und Zeitdiagnostiker Joseph Roth. Christian Semler kommentiert nochmals das Scheitern des Wettbewerbs für ein Einheitsdenkmal in Berlin.

Besprochen wird eine Edward Hopper-Ausstellung in Hamburg.

Berliner Zeitung, 11.05.2009

Renate Oschlies hat in der Böll-Stiftung eine Veranstaltung zum zehnten Todestag von Jürgen Fuchs besucht: "Der Grünen-Politiker Lukas Beckmann berichtet, wie der 1977 in den Westen abgeschobene Fuchs in der dortigen Friedensbewegung regelrecht 'wie eine Feindfigur wahrgenommen wurde'. 'Er sprach vom DDR-Unrecht - das wollte keiner hören.'"

NZZ, 11.05.2009

Manfred Clemenz hat das Musee d'Antibes besucht, das seine Wiedereröffnung mit einer Retrospektive der Antibes-Arbeiten von Pablo Picasso feierte. "Im künstlerisch überzeugendsten Raum sind drei Frauenakte versammelt, in denen Picasso kühne Konstruktionen des weiblichen Körpers zeigt: 'Nu assis sur fond vert', 'Nu couche au lit bleu', 'Nu couche au lit blanc'. Von letzterem Bild war Matisse beeindruckt. Er lobte und skizzierte es und sagte zu Picasso: 'Ich verstehe schon, warum du den Kopf so gemalt hast, aber nicht, was du mit ihrem Hintern gemacht hast.'"

Marta Kijowska stellt polnische Autorinnen vor, die von der Kritik gern als "langweilig und kleinbürgerlich" abgetan werden. "Dieses Pauschalurteil war insofern ungerecht, als die letzten Jahre auch etliche herausragende Bücher von Frauen brachten. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel war der späte Durchbruch der Kabarett-Texterin Joanna Olczak-Ronikier (Jg. 1934), die dank ihrer preisgekrönten Familiensaga 'Im Garten der Erinnerung' (2001) plötzlich in die literarische Spitzenliga avancierte. Seit dem vergangenen Jahr macht es ihr die Journalistin Malgorzata Szejnert (Jg. 1936) nach, die gleich mit zwei Büchern belegte, dass sie zu Recht als Meisterin der historischen Reportage gilt: Für 'Der schwarze Garten', ein grandios recherchiertes Porträt der schlesischen Arbeitersiedlung Giszowiec, erntete sie im Herbst begeisterte Kritiken, und in diesem Frühjahr macht sie mit einer Reportage, die von der legendären New Yorker Einwanderer-Quarantäneinsel Ellis Island handelt, erneut von sich reden."

Weitere Artikel: Marco Frei beschreibt die schwierige finanzielle Situation italienischer Opernhäuser und Orchester. Marianne Zelger-Vogt besucht das neu renovierte Teatro San Carlo in Neapel. Marc Zitzmann betrachtet die neue Abteilung über das 18. Jahrhundert, das goldene Zeitalter von Bordeaux, im Musee d'Aquitaine.

Besprochen werden Juli Zehs Science-Fiction-Stück "Corpus Delicti" in Luzern und die Uraufführung von Jiri Kylians Ballett "Zugvögel" in München.

SZ, 11.05.2009

Das Theater will weg vom distanzierenden Erzählgestus in vielen Inszenierungen und Romandramatisierungen der letzten Jahre, meint Christopher Schmidt in einem Essay zur Lage. Die Rückgewinnung der biografischen Unmittelbarkeit wurde tragischerweise befördert durch die Krebsleiden von Christoph Schlingensief und Jürgen Gosch, die beim Theatertrefffen in diesem Jahr gefeiert werden: "Das Festival hat in diesem Jahr fast den Charakter einer solidarischen Feier dieser beiden Regisseure, die mit dem Tod ringen. Die überwältigende Zuneigung, die ihren Inszenierungen in Berlin entgegengebracht wird, erzählt aber auch etwas über ein Theaterpublikum, das sich ganz offenkundig als emotional unterversorgt empfunden hat."

Weitere Artikel: Jens Bisky besuchte das Richtfest für das neuen Gebäude der "Topografie des Terrors" in Berlin. Renate Klett porträtiert den taiwanesischen Choreographen Lin Hwai-min, der beim Festival Movimentos in Wolfsburg geehrt wird. Tobias Lehmkuhl beobachtete die Frühjahrstagung der Akademie der Künste, auf der rüstige alte Herren dem Kapitalismus mit dem Gehstock winkten. Till Briegleb verabschiedet die Ära Khuon am Thalia Theater. Thomas Avenarius meldet, dass der Berliner Ägyptologe Stephan J. Seidlmayer Leiter des DAI in Kairo wird. In den "Nachrichten aus dem Netz" stellt Alex Rühle Dennis Duttons Seite Climatedebatedaily vor, die ein tägliches Pro-und-Kontra zur Klimadebatte bringt. Auf der Literaturseite erzählt Thomas Urban anhand neuer Dokumente, wie der polnische Gehwimdienst 1968 auf Gerüchte reagierte, dass Witold Gombrowicz oder Zbigniew Herbert den Literaturnobelpreis erhalten sollten (was dann nicht geschah).

Besprochen werden die neuen Landschaften von David Hockney in Schwäbisch Hall, DVD-Neuerscheinungen, eine Ausstellung mit Gemälden Filippo et Filippino Lippis in Paris, Tilman Knabes Inszenierung von Saint-Saens' "Samson et Dalila" in Köln und eine Pasolini-Ausstellung in Zürich.

Auf der Medienseite wirft Thomas Schuler aus Anlass der Geburt eines Sulzberger-Enkels einen Blick auf weit verzweigte Familie der New York Times-Eigner, die neurdings mit etwas weniger Dividende auskommen muss. Und Christopher Keil nimmt die Tatsache, dass die Henri-Nannen-Preise ausschießlich an Printjournalisten verliehen werden als Beleg für die anhaltende Überlegenheit des Genres.

FAZ, 11.05.2009

Der mit allen systemtheoretischen Wassern gewaschene Kulturtheoretiker Dirk Baecker erklärt, warum der Kapitalismus nicht weniger als eine "Zumutung" ist: "Nicht zuletzt ist der Kapitalismus ... auch eine gesellschaftliche Zumutung, denn er setzt den wirtschaftlichen Vergleich der Gelegenheiten an die Stelle der Würdigung der Sache selbst, ihrer Geschichte und ihrer Einbettung in soziale Praktiken aller Art. Er setzt die Sorge an die Stelle der Schönheit, wie Goethe in seinem unter dem Titel 'Faust II' bekannten Lehrbuch der Ökonomie formuliert."

Weitere Artikel: Benjamin Lahusen berichtet von einer Tagung zum Urheberrecht, bei der vor allem Augenmaß und Ambivalenzbewusstsein gefordert wurde - der Open-Access-Verächter Roland Reuß dagegen auf verlorenem Posten stand. In der Glosse begrüßt Jürg Altwegg die erste vollständige - und vollständig richtige - französische "Faust" und "Urfaust"-Übersetzung in einem Band. Gina Thomas meldet einen Boykottaufruf britischer Architekten gegen Prinz Charles. Und die Geburtstagsrunde, die heute versammelt: den investigativen Journalisten Hans Leyendecker (60), den Althistoriker Egon Flaig (60), Ex-Model und Schauspielerin Veruschka (70), den Schauspieler Harvey Keitel (70), den Mediziner Heiner Greten (70) und die Lyrikerin Adrienne Rich (80),

Besprochen werden Joseph Haydns Oper "Orlando Paladino" in der Regie von Nigel Lowery an der Berliner Staatsoper, Inszenierungen von Camille Saint-Saens' Oper "Samson und Dalila" in Köln und Antwerpen, Sam Mendes' jetzt bei den Ruhrfestspielen gezeigte Inszenierung von Shakespeares "Ein Wintermärchen", eine Ausstellung mit den venezianischen Renaissance-Rivalen "Titian, Tintoretto, Veronese" in Boston, Ron Howards neue Dan-Brown-Verfilmung "Illuminati" und Bücher, darunter Bernd Cailloux' neuer Roman "Der gelernte Berliner" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).