Heute in den Feuilletons

Die Rückkehr des Bleichen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.05.2009. Deutsche Politiker im Web 2.0 - ratlos: Die NZZ ist nach Untersuchung der Wahlkampfseiten ernüchtert. In Qantara benennt der Lyriker Adonis die Hindernisse im Dialog der Kulturen. Die Welt bringt ein Gespräch mit Lars von Trier, der eine Depression mit dem "Antichrist" bewältigte. Der Skandal um die Aberkennung des Hessischen Kulturpreises für Navid Kermani sorgt allgemein für Befremdung - Kermani selbst schreibt in der FAZ. Aktualisiert um 10 h: Die Blogs diskutieren über Lawrence Lessig, Kinderpornosperren, "Heidelberger Appell".

NZZ, 15.05.2009

Auf der Medienseite untersucht Heribert Seifert den deutschen Wahlkampf im Internet. Und was findet er? Filme von Parteiversammlungen und öffentlichen Auftritten der Politiker. Dialog mit dem Bürger? Fehlanzeige. "Die marginale Rolle, die das Web 2.0 im politischen Wettkampf spielt, geht vor allem auf die Unbeholfenheit und die mangelnde Vertrautheit der Politiker mit den netzspezifischen Kommunikationsformen zurück. Eine 'Verquickung und transparente Strategie von Kommunikation, Entwicklung und Organisation', wie sie der Netzdienst Telepolis als Merkmal von Obamas Internetauftritten beschrieben hat, fehlt. Deutsche Parteien und Politiker treffen im Netz selten oder nie die dort geforderte spezifische Mischung von Authentizität und informeller Ansprache."

Außerdem: Stephan Russ-Mohl stellt ein Kompendium über Wissenschaftsjournalismus vor. HR, WDR und SWR haben zum 60. Jahrestag des Grundgesetzes die drei Nachkriegsromane Wolfgang Koeppens als Hörspiel inszeniert, berichtet ndt.

Und das Feuilleton: Eminem hat sich von seiner Drogen- und Medikamentensucht erholt und eine neue CD rausgehauen, "Relapse". Matthias Daum ist begeistert: "'Bodies laying all over the floor and / I dont remember how they got there but I guess I must've / killed em, killed em.' - Herr Doktor hat eben Eminems Entlassungspapiere unterschrieben. Schüchtern fragt der Patient, was er tun soll, falls er in Versuchung gerate? Den Drink trinken, die Pille spicken, rät der Teufel im weißen Kittel. Unter Fluchen, Ächzen und Stöhnen wird Eminem zu Slim Shady - und die Rehaklinik zum Horrorfilm-Set. Keine Fanfaren oder Trompeten untermalen die Rückkehr des Bleichen in die Hip-Hop-Welt."

Außerdem: Der Kulturanthropologe Carlo Caduff erzählt von den unheilvollen Folgen einer überstürzten Impfkampagne, mit der man 1976 in den USA eine angeblich bevorstehende Pandemie der Schweinegrippe verhindern wollte. Der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk muss wegen seiner Äußerungen zur Kurden- und Armenierfrage erneut mit einem Gerichtsverfahren rechnen, informiert uns eine Meldung.

Besprochen werden die Ausstellung "Die Sterne lügen nicht. Astrologie und Astronomie im Mittelalter und in der frühen Neuzeit" in der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel, die Ausstellung "Doppelleben. Literarische Szenen aus Nachkriegsdeutschland" im Literaturhaus Berlin, eine Ausstellung der Fotografien von Ballo + Ballo im PAC in Mailand und die Debüt-CD von Micachu ("versammelt das Beste aus zwei Welten: Rap und Soul aus den Beständen der Neuen Welt sowie den britisch-geradlinigen Zug zur Mitsing-Nummer", versichert Adam Olschewski).

Aus den Blogs, 15.05.2009

In einer Reihe der Website Qantara über den Dialog der Kulturen im Mittelmeerraum sieht der bekannte syrische Lyriker Adonis das Hauptproblem in den monotheistischen Religionen, ein weiteres Problem ist für ihn aber mal wieder das heutige Israel: "Das vierte Haupthindernis für den Dialog ist der Konflikt zwischen Arabern und Israelis. Wir erleben darin einen Krieg gegen die Menschlichkeit, nicht nur gegen bestimmte Ideen, Überzeugungen und Interessen, was sich historisch wohl nur vergleichen ließe mit der Vernichtung der Indianer in Nordamerika durch die englischsprachigen Eroberer."

Schleichwerbung gibt es keineswegs nur in den Öffentlich-Rechtlichen, wo sie von den Zeitungen gern aufgegriffen wird, sondern auch in den Zeitungen, besonders in den sogenannten Verlagsbeilagen. Da wird neben eine Anzeige dann gern mal ein journalistisch tuender Text gestellt, und auf dem Seitenkopf steht ganz normal, na, zum Beipiel: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Bildblog greift so einen Fall auf: "Selbstverständlich fragen Unternehmen bzw. deren Agenturen gerne mal, was es denn im Falle einer Anzeigenschaltung noch als kleine redaktionellen Dreingabe gäbe. Manchmal läuft das Spiel auch so, dass die Kunden bei Auftragsvergabe freudig mitteilen, man habe da auch noch einen kleinen Text vorbereitet und die Redaktion freue sich doch bestimmt darüber, etwas weniger Arbeit zu haben. Natürlich stehen solche Geschäfte in keiner Anzeigenpreisliste."

(Via Stefan Niggemeier). Das Bibliotheksblog Infobib bietet seit einiger Zeit eine nützliche Linkliste zur Debatte um den "Heidelberger Appell".

Heise berichtet über einen Vortrag des amerikanischen Verfassungsrechtlers und Urheberechtskritikers Lawrence Lessig in Hamburg. Er fordert ein neues Recht, das die partizipativen Möglichkeiten des Netzes nicht kriminalisiert: "Das geltende Recht wirke 'korrodierend' auf diese sozialen Prozesse. Dabei sei es weitgehend wirkungslos: Der Krieg gegen Filesharing tobe nun seit zehn Jahren, habe aber nichts hervorgebracht." Lawrence Lessig redet heute auch in Berlin, mehr hier.

Johnny Haeusler von Spreeblick hat einen Brief von Ursula von der Leyen zu dem von Spreeblick mitorganisierten Protesten gegen die Kinderpornosperren bekommen und zitiert aus dem Brief. Eines ihrer Argumente: "Mit den in Rede stehenden listengenerierten Sperrverfahren können wir wertvolle Zeit sparen, die uns durch Einzelsperrverfügungen, wie sie bisher möglich sind, verloren geht."

Welt, 15.05.2009

Lars von Trier hat mit seinem neuen Film "Antichrist", der in Cannes läuft, eine Depression überwunden. Im Interview mit Hanns-Georg Rodek erzählt er, wovor er jetzt Angst hat: "Strindberg war zeitweise psychisch krank und suchte einen bekannten Psychiater in Kopenhagen auf, den gleichen übrigens wie Edvard Munch. Der kurierte sie - aber was beide danach noch schrieben oder malten, war nicht mehr sehr aufregend."

Weitere Artikel: Berthold Seewald besucht die großen Ausstellungen zum Jubiläum der Varus-Schlacht in Detmold, Haltern und Kalkriese (mehr hier und hier) und stellt in einem zweiten Artikel die Frage, wer eigentlich bei Kalkriese kämpfte. In der Leitglosse resümiert Sascha Lehnartz die französische Debatte um die "Loi Hadopi", die jedem, der im Netz kostenlose Musik sucht, Internetsperren von zwei Jahren androht. Hajo Steinert liest T.C. Boyles neuen Roman "Die Frauen". Lutz Rathenow schreibt zum Tod des Lyrikers Günter Ullmann ("Es ist verflixt: der Benennung des DDR-Unrechts im kulturellen Bereich haftet eine Nebenwirkung an: die Echos aus der Vergangenheit entfalten in der Gegenwart ihre subtile Wirkung. So wurde auch Ullmann als politisches Opfer respektiert und deshalb als Autor oft ignoriert.") Ansgar Graw gratuliert dem Fernsehjournalisten Friedrich Nowottny zum Achtzigsten.

TAZ, 15.05.2009

Ulrich Gutmair kommentiert die Rücknahme der Zuerkennung des Hessischen Kulturpreises an Navid Kermani (mehr hier und hier): "Die Poesie von Kermanis Würdigung des Kreuzestods, die in mancher Hinsicht womöglich näher am Kanon bleibt als die eine oder andere Interpretation christlicher Denker, auch wenn diese meist nicht ungestraft davonkamen, entging den Mitpreisträgern." Jetzt werde der Preis, der eigentlich den interreligiösen Dialog würdigt, nur an zwei Christen und einen Juden verliehen und eben "nicht an Muslime", wie epd so korrekt, wie irreführend getitelt habe.

Cristina Nord berichtet aus Cannes über den neuen Film von Francis Ford Coppola: "Tetro", eine schmerzensreiche Familiengeschichte in der Klaus Maria Brandauer einen Dirigentenübervater spielt; Coppolas Vater, selbst Dirigent, sagte nach der Vorführung: "Nichts in dieser Geschichte hat sich zugetragen, aber alles ist wahr."

Besprochen werden das Album "The Future Will Come" der New Yorker Band The Juan MacLean, eine der "intelligentesten Auseinandersetzungen" mit dem Revival-Thema seit langem, und CDs der bayerisch-tunesischen Performerin Frau Kraushaar und Räuberhöhle, hinter der sich die punkige Berliner Musikerin und Illustratorin Krawalla verbirgt.

In tazzwei erklärt die Kulturwissenschaftlerin Charlotte Giese, weswegen die Männeruniform Anzug auch trotz Krise nicht aussterben, sondern "mindestens in Fragmenten" immer überleben wird: weil er eben "für cool und erfolgreich" stehe.

Und Tom.

FR, 15.05.2009

Zum Skandal um den Hessischen Kulturpreis und Navid Kermani finden wir in der Rundschau aus Frankfurt eine aktuelle dpa-Meldung.

Petra Kohse hat eine schöne Reportage über die Stadt Görlitz nach der Niederlage in der Bewerbung für das Kulturhauptstadtjahr geschrieben. "Zwischen phantastisch restaurierten Renaissance- und Barockgebäuden, Jugendstilhäusern und ganzen Straßenzügen aus der Gründerzeit bewegt man sich wie in einem Manufactum-Katalog zur deutschen Geschichte (Es gibt sie noch, die guten Zeiten!) und fragt sich, ob wenigstens hier, in dieser im Zweiten Weltkrieg nicht zerstörten Stadt, noch ein Leben im Richtigen möglich sein könnte."

Weitere Artikel: Arno Widmann erinnert in Times mager an den Autor Emil Ludwig, der1934 im Exil-Verlag Querido einen Gesprächsband mit europäischen Politikern herausbrachte und den Krieg voraussagte - und doch "erschreckt uns das Buch, weil deutlich wird, dass auch der schwärzeste Schwarzseher bei weitem nicht schwarz genug sah". Daniel Kothenschulte berichtet über die ersten Filme in Cannes. Tobias Richtsteig unterhält sich mit dem Jazzsaxofonisten Branford Marsalis.

Besprochen werden Fred Vargas' neuer Krimi "Der verbotene Ort", ein Konzert der Band Trail of Dead und Eva Demskis neues Buch "Gartengeschichten" (mehr hier).

Zeit, 15.05.2009

Die Zeit online bringt ein Dossier über Ursula von der Leyens Kinderpornosperre, wo einige Argumente für die Sperre auseinandergenommen werden, zum Beispiel: "Es gibt keine Belege dafür, dass Internetsperren zur Bekämpfung von Kindesmissbrauch wirksam sind, auch wenn das Bundesfamilienministerium dies mit Verweis auf Länder wie Schweden behauptet."

Tagesspiegel, 15.05.2009

Christina Tilmann kommentiert den Skandal um den Hessischen Kulturpreis: "Haben die Herren Lehmann und Steinacker nicht begriffen, was für ein Geschenk sie da ausgeschlagen haben? Nun bekommen sie einen Preis für Toleranz und religiöse Dialogfähigkeit. Doch es hätte nur einen Preisträger geben dürfen: Navid Kermani."
Stichwörter: Kermani, Navid

FAZ, 15.05.2009

In der ziemlich unfassbaren Geschichte um die erst Zu-, dann Aberkennung des Hessischen Kulturpreises an den Autor Navid Kermani meldet sich nun dieser mit seiner Darstellung des Verlaufs zu Wort: Wenn Salomon Korn oder Roland Koch ihn abgelehnt hätten, hätte er das ja noch verstanden, "aber ich begriff nicht, was ich Verwerfliches über das Christentum gesagt oder geschrieben haben sollte. Meine religionswissenschaftlichen Bücher, in denen ich mich intensiv mit dem christlichen Glauben beschäftige, werden in theologischen Zeitschriften gelobt, regelmäßig werde ich von kirchlichen Institutionen eingeladen, selbst ein Theaterstück, das auf einer Erzählung von mir beruht, wurde auf dem Kirchentag aufgeführt." Kermanis Artikel ist auf seiner eigenen Website nachzulesen.

Weitere Artikel: Felicitas von Lovenberg streut Gerüchte über den Suhrkamp Verlag, der "angeblich erwägt", seine Archive zu verkaufen. Warum, bleibt unklar, aber: "Dass Marbach-Mitarbeiter in den vergangenen Wochen verschiedentlich in Frankfurt geichtet wurden, kann doch kein Zufall sein." In der Glosse schwankt Dieter Bartetzko angesichts von "Profitgier, Pragmatismus, Adhocismus und Engstirnigkeit" der Politiker und Bürokraten, die mit einem Brückenneubau nun auch den Welterbestatus des Rheintals verspielen zu wollen scheinen, zwischen Wut und Resignation. Ein im Netz nicht genannter Autor erklärt, warum er den so verspäteten Prozess gegen den ukrainischen KZ-Wachmann Demjanjuk nach wie vor für notwendig hält. Vorabgedruckt werden Auszüge aus dem demnächst in der Zeitschrift "Sinn und Form" erscheinenden Briefwechsel zwischen Ernst Jünger und Gershom Sholem. Lorenz Jäger gibt ein paar Erläuterungen dazu. Nicht gerade zu überschwänglicher Begeisterung veranlasst der Theatertreffen-Stückemarkt die Kritikerin Irene Bazinger. Jordan Mejias porträtiert knapp den neuen Chef der US-Kulturbehörde NEA Rocco Landesman. Einen kurzen Nachruf auf den Philosophen Manfred Riedel gibt es von Lorenz Jäger. Auf der Medienseite berichtet Martin Wittmann von einer Münchner Tagung über "Porno- und Gangsterrap".

Besprochen werden die Ausstellung "Wir waren so frei...Momentaufnahmen 1989/ 1990" im Filmhaus am Potsdamer Platz, die Ausstellung "Ein Kosmos des Wissens" in der Universitätsbibliothek Leipzig, und Bücher, darunter die Übersetzung von Irene Nemirovskys letztem vollendetem Roman "Feuer im Herbst" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 15.05.2009

Holger Liebs ist durch den neuen Buntbau der öffentlich-privaten Kunstsammlung Brandhorst (Website) gegangen - und war dann doch angetan von der Kunst, die er sah: "Zehn Jahre, nachdem Kritiker in der Kollektion von Udo und Anette Brandhorst die letzten Zuckungen einer todgeweihten Moderne erblickten, zeigt sich: Viele der Kunstbetriebsnudeln von gestern sind fast schon die Klassiker von heute. Alles an und in diesem Bau ist, trotz eher intimer Dimensionen, auf öffentliches Institut, auf museale Validierung getrimmt. Die frühen Warhols, die Polke-Bilder, aber auch die Großskulptur von Franz West, die Phantasiestadt von Mike Kelley, der 'Lepanto-Zyklus' von Cy Twombly: Kuratoren-Wunschträume."

Gerhard Matzig hält in einem weiteren Artikel zwar den Bau selbst für geglückt, einen überzeugenden Plan für das "Kunstareal", in dem es platziert ist, sieht er dagegen noch nicht.

Weitere Artikel: Andrian Kreye schüttelt den Kopf über die Nun-Doch-Nicht-Verleihung des Hessischen Kulturpreises an den Autor Navid Kermani. Barbara Vorsamer unterhält sich mit dem Dokumentarfilmer Errol Morris ("Standard Operating Procedure") über die Folterbilder von Abu Ghraib. Tobias Kniebe weiß die ersten Cannes-Filme zu schätzen, erklärt aber auch, warum das Misstrauen gegen ein Filmfestival nie auszuräumen ist. Gerhard Persche informiert darüber, dass das erfolgreiche Radio Symphonieorchester Wien (RSO) möglicherweise wegsaniert werden soll. Alex Rühle besucht den südafrikanischen Autor Damon Galgut, dessen "großartiger" Roman "Der Betrüger" gerade in deutscher Sprache veröffentlicht wurde, in Kapstadt.

Besprochen werden gleich drei große Ausstellungen zu Arminius und der Varusschlacht, die Inszenierung von Vaclav Havels Stück "Abgang" am Theater in Aachen, der Dokumentarfilm "WIR sind Papst" über die Ratzinger-Heimatgemeinde Marktl am Inn und Assaf Gavrons Roman "Hydromania" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).