Heute in den Feuilletons

Sooo zerbrechlich

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.05.2009. Micha Brumlik fürchtet nach dem Debakel um den Hessischen Kulturpreis in der FR um die Zukunft der Integrationspolitik. In der Welt befürwortet der Autor Rolf Schneider einen Prozess gegen John Demjanjuk. In der taz spricht der Historiker Tom Segev über Rassismus in Israel. Die Cannes-Kolumnisten schreiben zumeist über Ang Lees neuen Film "Taking Woodstock". Die NZZ fand Albert Ostermaiers neues Stück "Blaue Spiegel" am Berliner Ensemble so leicht verständlich wie schwer verdaulich.

FR, 18.05.2009

Micha Brumlik beschreibt das Debakel um den Hessischen Kulturpreis in einem etwas aufgeregten Text als "intergrationspolitischen Gau". "Kermani hat das artikuliert, was vier Millionen Muslime, die in Deutschland leben, ebenfalls empfinden dürften." In einem epd-Ticker wird über den neuesten Stand berichtet: Der evangelische Bischof Wolfgang Huber fordert, dass auch Kermanis Co-Preisträger zurücktreten (und damit auf jeweils gut und gerne 11.000 Euro verzichten). Abgedruckt wird auch eine Erklärung des "Abrahamischen Forums", dem es um den Dialog der Religionen zu tun ist.

Weitere Artikel: Daniel Kothenschulte berichtet in seiner Cannes-Kolumne über Ang Lees "Woodstock"-Film. Hans-Jürgen Linke betrachtet das nur entfernt ans Eiserne Kreuz erinnernde "Ehrenkreuz" der Bundeswehr, das demnächst zum ersten Mal verliehen werden soll.

Besprochen werden ein neues Rene-Pollesch-Stück mit Harald Schmidt in Stuttgart, Albert Ostermaiers Stück "Blaue Spiegel" in der Regie von Andrea Breth in Berlin und die neue CD von Eminem.

Auf der Medienseite stellt Rene Martens den "weltweit gefragten Medienexperten" Jeff Jarvis ("Was würde Google tun?") vor.

NZZ, 18.05.2009

Erschöpft, aber nicht unzufrieden kam Barbara Villiger Heilig aus der Premiere von Albert Ostermaiers "Blaue Spiegel" am BE in Berlin. Inszeniert hat Andrea Breth. Der von beiden gemeinsam erarbeitete Text ist "so leicht verständlich wie schwer verdaulich", erklärt Villiger Heilig. "Statt Text gibt es Subtext: Wenn gesprochen wird, dann im Traum. (...) Corinna Kirchhoff und Wolfgang Michael gehen als Paar offensichtlich durch das, was man eine Krise nennt. In den wenigen 'alltagsnormalen' Szenen streiten sie auf der missverständlichen Suche nach Verständigung, einmal sogar komisch wie bei Yasmina Reza: Corinna Kirchhoff will Wolfgang Michael überreden zum therapeutischen Rollenspiel – 'Mach mal!' –, doch er hat genug von den Provokationen solcher 'Selbsterfahrung' mit seiner Partnerin, die wie ein Bulldozer auf ihn losgeht, obwohl sie kreischt, sie sei 'sooo zerbrechlich'."

Weiteres: Der Germanist Alexander Honold und der Schriftsteller Martin R. Dean sind gerade auf Vortragsreise in Indien: Honold schickt dazu einen reportagehaften Bericht, Dean kurze Skizzen seiner Eindrücke. Angela Schader fasst die amerikanische Debatte um die Bilder von misshandelten Gefangenen zusammen, die Barack Obama entgegen seiner ursprünglichen Ankündigung nun doch nicht veröffentlichen will. Ruedi Ankli resümiert das zwanzigste Jazzfestival Schaffhausen. Christoph Egger berichtet aus Cannes, wo er bereits einige ausgezeichnete Filme sehen konnte. Karl-Markus Gauß schreibt zum Tod des österreichischen Karikaturisten Paul Flora.

Welt, 18.05.2009

Trotz aller Gegenargumente befürwortet der Autor Rolf Schneider einen Prozess gegen den greisen Ukrainer und mutmaßlichen SS-Mörder John Demjanjuk, auch weil durch einen Prozess bisher wenig wahrgenommene Aspekte des Holocaust in den Mittelpunkt gerückt werden: "Die Anwesenheit von massenhaftem ukrainischem Personal beim Nazi-Vernichtungslagers Sobibor ist vergleichsweise wenig bekannt, wie auch die Armee des Andrej Andrejewitsch Wlassow, der erst Stalins und dann Hitlers General war und der in beiden Funktionen viele Ukrainer befehligte, in der Geschichtsschreibung über den Zweiten Weltkrieg eher ein Schattendasein fristet. Vielleicht weil in Wlassows Person die Kongruenz zwischen Stalinismus und Hitlerfaschismus allzu erdrückend ist?"

Weitere Artikel: Uwe Schmitt berichtet über einen ganz lockeren Abend mit Musik und Poesie im Weißen Haus. Wieland Freund hat den Bestsellerautor Dan Brown getroffen. Uta Baier schreibt über einen Streit zwischen dem Bundeskulturminister Neumann und der Stadt München über die Rückgabe eines Klee-Bildes an jüdische Erben - München will's nicht einsehen. Hanns-Georg Rodek zeigt sich in seiner Cannes-Kolumne enttäiuscht über Ang Lees neuen Film "Taking Woodstock".

Besprochen werden die neue CD von Eminem, ein Rene-Pollesch-Stück mit dem Fernsehentertainer Harald Schmidt in Stutgart und eine Open-Air-Ausstellung zum Mauerfall auf dem Berliner Alexanderplatz.

Aus den Blogs, 18.05.2009

Für Schrecken sorgt in der Blogosphäre die Meldung "92 Prozent der Deutschen sind für eine Kinderpornosperre". Sie kommt von einer ominösen, von den Medien aber gern zitierten Organisation namens "Kinderhilfe" (mehr dazu bei Stefan Niggemeier). In Spreeblick kommentiert Johnny Häusler: "Unter dem Titel '92 Prozent der Deutschen für Sperrungen im Internet' und der Subheadline 'Kampf gegen kinderpornografische Seiten' erfährt man als Leser/in leider nicht viel von der WamS. Dabei weiß die Welt doch so viel mehr. Sie müsste z.B. wissen, auf welche genaue Frage die Umfrageteilnehmer/innen mit 'Ja' geantwortet haben, doch leider verheimlicht die WamS diese Information, die so immens wichtig ist."

Wird staatliche Hilfe für die Presse, wie sie auch in den USA diskutiert wird, die Presse retten oder verderben?, fragt Leena Rao in Techcrunch: "The question remains in the case of a bailout, if there will forever be the government's shadow hanging over the media organizations who survive thanks to these benefits."
Stichwörter: USA, Staatliche Hilfe

TAZ, 18.05.2009

Auf den Tagesthemenseiten erklärt der Historiker Tom Segev im Interview, wie sehr sich Israel in den letzten Jahren verändert hat: Der Hass auf Araber sei in Israel "legitim und gesellschaftsfähig" geworden. So werde "auch akzeptiert, wenn eine Firma nur jüdische Handwerker anstellt und keine arabischen Israelis. Viele Straßenschilder sind in Israel dreisprachig: Hebräisch, Russisch und Arabisch. Das Arabische ist sehr oft schwarz übermalt. Früher haben die Stadtverwaltungen diese Schmierereien entfernt. Irgendwann haben sie damit aufgehört. (...) Heute gibt es zudem die Russen, die die Äthiopier nicht leiden können und umgekehrt. Ich habe einen äthiopischen Adoptivsohn. Wenn seine Freunde ihn ärgern wollen, nennen sie ihn Boris. Es gibt viele Klubs in Tel Aviv, in die Äthiopier nicht reingelassen werden. Eigentlich wird die israelische Gesellschaft immer fragmentierter."

Im Kulturteil schreibt Ralph Bollmann über die Ausstellungen zur Varus-Schlacht (daneben werden einige Neuerscheinungen zum Thema empfohlen). Juliane Streich berichtet über die Musikmesse (Pop Up in Leipzig. Cristina Nord sah in Cannes zwei Filme über ungeliebte Mädchen: Lee Daniels' "Precious" und Andrea Arnold' "Fish Tank". In tazzwei porträtiert Anne Haeming den vor 150 Jahren geborenen Schriftsteller Arthur Conan Doyle als in der Wolle gefärbten Imperialisten. Und auf der Medienseite berichtet Jan Feddersen aus Moskau über den Eurovision Song Contest, den in diesem Jahr Alexander Rybak für Norwegen gewann.

Schließlich Tom.

SZ, 18.05.2009

Anhand von Maria Svelands Roman "Bitterfotze" resümiert Jens-Christian Rabe den Stand im Geschlechterkampf. Die Frauen sind noch nicht am Ziel: "Die Frauen haben sich - zum Glück - an die Rechte gewöhnt, die ihre Mütter seit den siebziger Jahren für sie erkämpft haben, viel deutlicher aber als diese sehen sie, dass die Rechte und Aufgaben in der Regel zusätzlich zu Haushaltsführung und Kindererziehung übernommen wurden."

Weitere Artikel: Klaus Brill berichtet von einer Tagung über "Europa als Erinnerungsraum" an nicht näher bezeichnetem Ort. Susan Vahabzadeh feiert in ihrer Cannes-Kolumne Ang Lees Komödie "Taking Woodstock", die die Umstände des berühmten Festivals nacherzählt. (Ang Lee, so die Kritikerin will mit diesem Film "zurück zu der Zeit vor dem Missverständnis, Freiheit hätte mit der Abwesenheit von Moral zu tun, und nimmt - da ist er ganz nah bei Obama - den Glauben an Gemeinschaft und Veränderung bierernst"). Reinhard J. Brembeck spekuliert über die Frage der vakanten Intendanz in Salzburg. Johan Schloemann berichtet, dass das Kuratorium des Hessischen Kulturpreises, das sich mit seiner Idee eines Multikultipreises an vier Gläubige unterschiedlicher Richtungen und erst recht mit ihrer Ausführung schon recht kräftig blamiert hat, nun noch einmal zusammentritt "mit dem Ziel einer 'bestmöglichen Schadensbegrenzung'". In den "Nachrichten aus dem Netz" informiert Benedikt Sarreiter über den neuesten Trend in verfallenden amerikanischen Städten: Urban Gardening, inklusive Tomatenzucht und Hühnerhaltung, und die dazugehörigen Internetadressen (hier eine davon). Anke Sterneborg gratuliert dem Filmemacher Hark Bohm zum Siebzigsten.

Besprochen werden Albert Ostermaiers Stück "Blaue Spiegel" in der Regie von Andrea Breth am Berliner Ensemble ("Hat er nun ein schlechtes Stück geschrieben, oder hat sie es nur schlecht inszeniert? Vermutlich beides", meint Christopher Schmidt), ein Eric-Clapton-Konzert in London, die Ausstellung "Lyonel Feininger - Zurück in Amerika, 1937 - 1956" in Halle, Irene von Albertis Film "Tangerine" und Bücher, darunter eine Textsammlung, die über die "deutsche Tischgesellschaft", auf der bald nach den Befreiungskriegen einige Grundlagen für den deutschen Antisemitismus gelegt wurden (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 18.05.2009

Verena Lueken zeigt sich sehr angetan von den ersten Tagen in Cannes. Respekt abgenötigt hat ihr sogar der Wettbewerbsbeitrag "Kinatay" des philippinischen Regisseurs Brillante Mendoza, obwohl das ganz sicher kein Wohlfühlfilm ist: "Es geht nach einem Prolog in dem Durcheinander des Straßenlebens von Manila eigentlich nur darum, dass eine Frau in ein Auto gezerrt, getreten, geschlagen und in einer endlos wirkenden Autofahrt durch die Nacht in ein Haus gebracht wird, wo sie vergewaltigt, ermordet, zersäbelt und in Tüten gepackt wird. Dann kommt die Rückfahrt, auf der ihre Einzelteile an unterschiedlichen Stellen aus dem Auto geworfen werden... Man kann das nicht mögen. Aber die Energie, die Ernsthaftigkeit, mit der hier ein Regisseur arbeitet, verdient unbedingt Respekt. "

Weitere Artikel: Dirk Schümer schildert das gegenwärtige Drunter und Drüber im Seifenopernstaat Italien. Felicitas von Lovenberg gibt eine Meldung weiter, dass der Suhrkamp-Gesellschafter Joachim Unseld möglicherweise seine Anteile am Verlag verkauft. Gina Thomas berichtet, dass Literaturnobelpreisträger Derek Walcott aufgrund einer offenbar anonymen Denunziation (es geht um Vorwürfe sexueller Belästigung) seine Bewerbung um die Oxforder Poetik-Professur zurückgezogen hat - sie wird nun mit der Lyrikerin Ruth Padel besetzt. Tilman Spreckelsen stellt das jetzt in englischer Sprache sehr postum erschienene neue Werk von J.R.R. Tolkien "The Legend of Sigurd & Gudrun" vor. In der Glosse berichtet wiederum Spreckelsen über Linda Thompsons Versuch, sich die Produktion ihrer nächsten Platte im vorhinein von der Hörerschaft bezahlen zu lassen.

Und ganz viele runde Männer-Geburtstage gibt es diese Woche: Der Schauspieler Jim Broadbent (60), der Opernregisseur Nikolaus Lehnhoff (70), der Architekt Robert A.M. Stern (70), der Architekturfotograf Klaus Kinold (70), der Komponist Heinz Holliger (70), der Zeichner Hans Traxler (80) und der Jurist Martin Heckel (80) finden noch dazu alle auf einer Seite Platz.

Besprochen werden Rene Polleschs in Stuttgart uraufgeführtes neues Stück "Chor der guten Tat" mit Harald Schmidt, die von (Autor) Albert Ostermaier und (Regisseurin) Andrea Breth offenbar erst während der Proben erarbeitete Inszenierung "Blaue Spiegel" am Berliner Ensemble, die Ausstellung "David Hockney - Nur Natur" in der Kunsthalle Würth, ein Konzert der Band "The Blood Arm" in München und Bücher, darunter Patrick McCabes neuer Roman "Winterwald" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).