Heute in den Feuilletons

Alle Zeichen stehen auf Schock

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.05.2009. Der Skandal um den Hessischen Kulturpreis grollt und rollt weiter. Die FR fordert eine Trennung von Staat und Kirche in Hessen. Die NZZ muss mit Besorgnis zur Kenntnis nehmen, dass ein NZZ-Artikel zum Skandal Anlass gegeben hat. In der FAZ versetzt der Theologe Friedrich Wilhelm Graf den Staats- und Kirchenfürsten eine kräftige Watsche. SZ und Welt geben zu bedenken: Dürfen Christen nicht auch mal beleidigt sein? Und dann Lars von Trier, der Irrsinn, das Echte, die Schere, der Horror, der Horror, der Horror...

FR, 19.05.2009

Der Skandal um den Hessischen Kulturpreis soll jetzt unter Ausschluss der Öffentlichkeit beigelegt werden, schreibt Arno Widmann, der davon gar nichts hält und die Verantwortlichen noch einmal namhaft macht. "Der Skandal liegt einmal in der Bereitschaft der Bischöfe, hintenherum zu diskriminieren. Zum andern aber ist der Skandal Roland Koch. Der Hessische Kulturpreis ist zu einem Preis von Gnaden der beiden Kirchen geworden. Das ist völlig unakzeptabel. Unakzeptabel ist, dass der gewählte Ministerpräsident des Landes Hessen sich abhängig macht von ihm zugespielten geheimen Botschaften. Er hätte das Ansinnen der beiden Bischöfe zurückweisen können und müssen. Man mag die hessische Verfassung drehen und wenden, wie man will, es wird nicht dabei herauskommen, dass der Bischof von Mainz dem Ministerpräsidenten zu sagen hat, was er zu tun oder zu lassen hat. Für den Vorgang, wie er sich jetzt darbietet, liegt die Verantwortung also allein bei Roland Koch."

Weitere Artikel: Oliver Herwig begutachtet das neue Museum Brandhorst in München. Choreograf Martin Schläpfer erklärt im Interview, warum er nach zehn Jahren als Ballettchef von Mainz nach Düsseldorf wechselt. Jürgen Otten berichtet vom Theatertreffen in Berlin. Judith von Sternberg widmet das Times Mager der Tücke des Objekts. Harry Nutt schreibt zum Tod des Schweizer Ethnopsychoanalytikers Paul Parin.

Besprochen wird die szenische Erstaufführung von Rolf Riehms Ensemble-Stück "Die schrecklich-gewaltigen Kinder" in Mainz.

Welt, 19.05.2009

Die erste Kulturseite der Welt ist ganz dem Echten in der Kunst gewidmet.

Hanns-Georg Rodek schildert in seiner Cannes-Kolumne anschaulich die verstörende Wucht von Lars von Triers neuem Film "Antichrist": "Man wird bei einem zweiten Ansehen darauf achten müssen, aber es ist möglich, dass er zu viel halb ausgegorene Gedanken hineinpackt, und es ist auf jeden Fall so, dass er in Bereiche vordringt, die bisher dem Hardcore vorbehalten waren, sowohl beim Sex als auch bei der Körperzerstörung; niemand, der aus 'Antichrist' kommt, wird seinen Werkzeugkasten mit den gleichen Augen ansehen wie davor."

Und Matthias Heine schreibt im Abschlusstext zum Berliner Theatertreffen über Christoph Schlingensief: "Man darf daran erinnern, dass er schon früher in seinen Aufführungen mit dem echten Tod flirtete: Da zeigte Schlingensief Filme, in denen echte Katzen geschlachtet, echtes Erbrochenes gegessen und echte Menschen von Krokodilen verschlungen wurden. Damals, in der Frühphase seines Volksbühnen-Engagements, wendeten sich alle angeekelt ab. Um zum Liebling der Kulturschickeria zu werden, musste er sein eigenes Leben drangeben."

Weitere Artikel: Eckhard Fuhr fragt in der Leitglosse zum Hessischen Kulturpreis: "Dürfen Christen nicht beleidigt sein? Sollen sie den Kern der christlichen Botschaft nicht mehr als Glaubensgewissheit, sondern immer schon als schüchternes Gesprächsangebot an andere verstehen, als Dialogfutter im Hühnerhof der religiösen Vielfalt?" Wieland Freund unterhält sich mit dem neuen Piper-Verleger Marcel Hartges über seine Pläne und das leidige Thema Internet. Manuel Brug erinnert an die Ballets russes, die vor hundert Jahren in Paris Tanz und Musik revolutionieren halfen. Der Choreograf John Neumeier bekennt seine Faszination für Diaghilew. Und Rainer Haubrich berichtet über die Pläne, die osteuropäische Steppe des Berliner Alexanderplatzes neu zu bebauen.

Tagesspiegel, 19.05.2009

Christina Tillmann und Malte Lehming erinnern im Tagesspiegel daran, dass zuerst der Islamwissenschaftler Fuat Sezgin mit dem Hessischen Kulturpreis ausgezeichnet werden sollte, der sich aber weigerte, ihn zusammen mit Salomon Korn, der den Gaza-Krieg befürwortet hatte, anzunehmen, und sie zitieren den Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan Kramer: "Warum hat niemand aufgeschrien, als ein Muslim sich weigerte, einen Preis mit einem Juden anzunehmen?"

TAZ, 19.05.2009

"Alle Zeichen stehen auf Schock", schreibt Cristina Nord in ihrer Cannes-Kolumne über Lars von Triers "Antichrist" und wird ein weniger konkreter als ihre Kollegen: "Gefilmt ist der Prolog in Zeitlupe, in Schwarz-Weiß, einer Coffee-Table-Ästhetik, in die eine sekundenkurze Hardcore-Penetrations-Einstellung hineinmontiert wird. Später sieht man einen erigierten Penis, aus dem Blut statt Ejakulat spritzt, noch später ein Close-up, in dem sich die Frau die Klitoris mit einer stumpfen Schere abschneidet."

Weitere Artikel: Recht zufrieden resümiert Katrin-Bettina Müller das Berliner Theatertreffen: "Die Kunst schien in diesem Jahr umso besser, je näher sie bei sich blieb." Birgit Glombitza unterhält sich mit Atom Egoyan über seinen neuen Film "Simons Geheimnis" Und Christian Broecking schritt in Schaffhausen zu einer "Werkschau des Schweizer Jazz".

Und Tom.

Berliner Zeitung, 19.05.2009

Julia Kospach schreibt zum Tod des Psychoanalytikers Paul Parin: "Parin besitzt den Ton eines großen Erzählers: hypnotisch, genau, uneitel und farbig."
Stichwörter: Kospach, Julia, Parin, Paul

NZZ, 19.05.2009

NZZ-Chefredakteur Markus Spillmann nimmt "mit Besorgnis und Verwunderung zur Kenntnis", dass Navid Kermani wegen eines Artikels in der NZZ der Hessische Kulturpreis aberkannt werden soll. Georges Waser berichtet über die von Misstönen begleitete Besetzung des Dichterlehrstuhls in Oxford. Kersten Knipp schreibt zum Tod des uruguayischen Dichters Mario Benedetti. Uwe Justus Wenzel schreibt zum Tod des Philosophen Manfred Riedel.

Besprochen werden die Ausstellung "Baroque: 1620-1800: Style in the Age of Magnificence" im Londoner Victoria and Albert Museum, Richard Strauss' Oper "Arabella" in St. Gallen und Bücher, darunter Joseph O'Neills New-York-Roman "Niederland" und zwei neu übersetzte Krimis von Leo Malet (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 19.05.2009

Mit Rupert Murdochs MySpace geht's bergab, berichtet TechCrunch, und der Sieger heißt Facebook: "MySpace has 70 million monthly U.S. uniques (Comscore, March 2009), less than they did a year ago. Meanwhile, Facebook has surged to 61 million U.S. users and are adding a few million more every month. In other words, the war is over. MySpace user number growth has stalled out, and historically speaking, no company of note has reversed such a trend."
Stichwörter: Facebook, Murdoch, Rupert

FAZ, 19.05.2009

Es setzt in der Sache Hessischer Kulturpreis/Navid Kermani weiter Prügel aus der FAZ: Nun werden Kardinal Lehmann und Peter Steinacker - und der "Provinzpolitiker" Roland Koch - auch noch vom Theologen Friedrich Wilhelm Graf abgewatscht: "Kein anderer unter den wenigen muslimischen Intellektuellen im Lande hat seit Jahren vergleichbar kundig und verständnisbereit die in sich spannungsreichen christlichen Symbolwelten ernst genommen. Kann dies den Herren Lehmann und Steinacker entgangen sein? Eine Antwort fällt schwer. Denn entweder muss man ihnen einen erschreckenden Mangel an theologischer Bildung oder aber einen durch Alterseitelkeit und Machtinstinkt genährten Willen zur Denunziation eines deutlich jüngeren Gelehrten attestieren."

Weitere Artikel: Verena Lueken hat in Cannes Lars von Triers Wettbewerbsbeitrag "Antichrist" gesehen, darin aber nur "verkünstlerischtes, aufgeblähtes Genrekino" entdeckt. Mark Siemons staunt, dass in China nicht nur der in Deutschland gefloppte "John Rabe"-Film mit 750 Kopien in den Kinos läuft, sondern gleichzeitig Lu Chuans "Nanking! Nanking!", eine chinesische Version derselben Geschichte. Patrick Bahners war bei einem Vortrag des US-Rechtsgelehrten Donald Kommers, der an der American Academy in Berlin das deutsche Grundgesetz im Licht der amerikanischen Verfassung betrachtete. In der Glosse schüttelt Niklas Maak den Kopf über die Stadt München, die über eine wohl begründete Restitutionsforderung, ein Klee-Gemälde betreffend, nicht mal diskutieren lassen will. Wolfgang Schneider hat einen nicht sonderlich aufregenden Vortrag des Autors Richard Powers in Berlin gehört. Paul Ingendaay schreibt zum Tod des uruguayischen Dichters Mario Benedetti.

Besprochen werden Frank Hoffmanns in Recklinghausen aufgeführte Inszenierung von August Strindbergs "Traumspiel", die Ausstellung "Die Zukunft der Vergangenheit" über moderne Fotografie des 19. Jahrhunderts im Graphikmuseum Pablo Picasso in Münster, CD-Einspielungen - Solo und im Ensemble - der Geigerin Antje Weithaas, ein Dweezil-Zappa-Konzert in Frankfurt und Lorenz Langeneggers Romandebüt "Hier im Regen" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 19.05.2009

Die SZ tat sich ja zur Zeit der Kriege im ehemaligen Jugoslawien vor allem durch den Abdruck von Peter Handkes Leugnungen hervor - nun resümiert Franziska Augstein (die damals noch bei der FAZ war) die Argumente für und wider den Kosovokrieg vor zehn Jahren und lässt ihre Position durchscheinen: "Ohne Hilfe aus dem Ausland kam die UCK nicht weiter, das war klar. Ihre Befehlshaber entdeckten schnell, wie sie das Ausland für ihre Sache einnehmen konnten: Sie mussten die Serben dazu provozieren, möglichst viele Albaner zu töten oder zur Flucht zu zwingen. Außerdem musste die vorgebliche Unmenschlichkeit der Serben dokumentiert werden."

Christoph Hickmann meldet im Aufmacher, dass die Verleihung des Hessischen Kulturpreises verschoben wird. Matthias Drobinski gibt zum Verhalten des Kardinals Lehmann zu bedenken, dass auch Christen mal ihre Empfindlichkeit zeigen wollen: "Angenommen, Kardinal Lehmann hätte zu Ostern gepredigt, er halte die Vorstellung für Aberglaube, dass Mohammed den Koran direkt von Gott erhalten habe - würde er dann einen Toleranzpreis erhalten? Wohl kaum."

Weitere Artikel: Jörg Häntzschel berichtet über die Idee, zum 40. Jahrestag ein Woodstock-Revival stattfinden zu lassen. Tobias Kniebe findet in seiner Cannes-Kolumne, dass Lars von Trier sein Kino mit dem Film "Antichrist" auf "eine neue Stufe des Wahnsinns" hebt, weigert sich aber sympathischer Weise auf die Schnelle eine abschließende Meinung kundzutun. ("Und das Urteil? Großartig? Irrsinnig? Ein Witz? Nun ja... einen Moment bitte.") Christine Dössel erlebte die von 3sat live übertragene Preisvergabe beim Berliner Theatertreffen mit Claus Peymann in der Rolle Dieter Bohlens "als selten peinsame Veranstaltung". Stefan Koldehoff erklärt, wie die Pleite des niederländischen Unternehmers Louis J. K. J. Reijtenbagh das Amsterdamer Rijksmuseum in Bedrängnis bringt. Sebastian Schoepp schreibt zum Tod des uruguayischen Autors Mario Benedetti.

Besprochen werden die neue CD von Eminem, Konzerte mit den Dirigenten Kristjan Järvi und Russell Davies und viel neuer Musik in München, ein neues Stück von Rene Pollesch mit dem Conferencier Harald Schmidt in Stuttgart, und Bücher darunter eine Studie über die verheerende Spanische Grippe nach dem Ersten Weltkrieg.