Heute in den Feuilletons

Keine Erklärung für den Schuss

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.05.2009. Der 2. Juni 1967 verwirrt die Geister weiter. In der SZ meint Gerd Koenen, dass sich die Springer-Presse und die Stasi wahrscheinlich ganz gut auf das Feindbild "langhaarige Chaoten" einigen konnten. Die Welt will nachweisen, dass der Springer-Verlag differenzierter über die Studentenproteste berichtete, als das Feindbild es wahrhaben möchte. In der FAZ polemisiert Wolfgang Kraushaar gegen all jene, die an ihrem Geschichtsbild festhalten. Alle würdigen Walter Kappacher, der in diesem Jahr den Büchner-Preis bekommen wird.

Tagesspiegel, 27.05.2009

Werner van Bebber hat den ehemaligen Junge-Welt-Redakteur und Autor eines Buchs über den 2. Juni, Uwe Soukup, getroffen, der wiederum vor nicht allzu langer Zeit mit Karl-Heinz Kurras gesprochen hat - ohne große Ergebnisse: "Von allein wird der Mann nicht reden. Dass die Studentenrevolution als die erste große Zäsur in der Nachkriegsgeschichte noch bei jedem Jahrestag die Leute bewegte, hat Kurras kaltgelassen. Dass mit der zweiten großen Zäsur, dem Untergang der DDR, seine persönliche Stasi-Geschichte bekannt werden könnte, hat Kurras kaltgelassen. Dass sich auf eine fast bizarre Weise in diesem Scharfschützen zwei große deutsche Themen treffen - Studentenprotest und Stasi-Verstrickung -, lässt Kurras kalt. 'Wir haben immer noch keine Erklärung für den Schuss', sagt Soukup."

TAZ, 27.05.2009

Alfred Hackensberger durfte dabei sein, als sich in Marokko auf Initiative des Goethe-Instituts deutsche und dortige Rapper trafen. Esther Boldt berichtet über Forderungen der Frankfurter Tanztheaterszene an die Politik. Dirk Knipphals würdigt Walter Kappacher. Ulrich Gutmair schreibt zum Tod des israelischen Autors Amos Elon. Die Tagesthemenseite weist auf eine Bundestagsdebatte am Freitag hin, die die Frage aufwirft, ob "Kriegsverräter" als NS-Verfolgte anerkannt werden sollen.

Besprochen wird die Ausstellung "Gandhara" im Berliner Martin-Gropius-Bau über die Zeit der buddhistischen Blüte im heutigen Pakistan vor 2.500 Jahren.

Und Tom.

NZZ, 27.05.2009

"Längst passen nicht mehr alle Skelette in den Schrank, sie fangen an auszubrechen", kommentiert Sonja Margolina Russlands neuen Vorstoß, knapp siebzig Jahre nach dem Hitler-Stalin-Pakt die Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Kommunismus unter Strafe zu stellen. Der Duma liege ein Gesetz vor zur "Verhinderung der Rehabilitierung des Nazismus, von Naziverbrechern und ihren Handlangern in den neuen unabhängigen Staaten auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion": "Der plumpe Versuch Russlands, die historische Erfahrung von Abermillionen von Osteuropäern per Gesetz zu kriminalisieren, zeugt in erster Linie vom Realitätsverlust und von der nationalistischen Bredouille, in die sich die Kreml-Riege seit geraumer Zeit hineinmanövriert hat. Überhaupt hat man es beim Gesetzentwurf mit Freud und Orwell zugleich zu tun. So wird eine Definition des Nazi-Totalitarismus gegeben, die haargenau auf den Kommunismus passt. Und geahndet werden soll die Fälschung der offiziellen Sowjetgeschichte, die selbst eine grandiose Fälschung war."

Weiteres: Martin Woker macht uns mit der Baukunst der rumänischen Roma bekannt, deren Gebäude von der Allgemeinheit politisch unkorrekt Zigeuner-Paläste, von der Fachwelt hingegen Kastello genannt werden: Der Stilmix "bewegt sich irgendwo zwischen chinesischer Pagode und Bollywood-Fassade." Samuel Herzog porträtiert den Künstler Shaun Gladwell, der Australien auf der diesjährigen Biennale von Venedig vertritt und für Herzogs Geschmack genau den richtigen "Funken Wahnsinn mit ins Spiel" bringt. Alfred Zimmerlin berichtet begeistert von den Ittinger Pfingstkonzerten. Kristina Bergmann greift den Streit um die Unesco-Kandidatur des ägyptischen Kulturministers Faruk Hosni auf. Nachgereicht wird die Besprechung des Romans "Fliegenpalast" vom frisch gekürten Büchnerpreisträger Walter Kappacher. Besprochen werden auch Cecil Lewis' Erinnerungen "Schütze im Steigflug".

Welt, 27.05.2009

Auf der Forumsseite kündigt der Chefredakteur der Welt Thomas Schmid eine inhäusige Untersuchung des Springer-Verlags zu seiner Rolle in den Jahren 1967 und 68 an: "Die Blätter des Axel Springer Verlages haben - was wir belegen werden - über die 68er-Bewegung sehr viel differenzierter berichtet, als es im Schreckbild von der 'hetzerischen Springerpresse' vorgesehen ist."

Ebenfalls im Forum erzählt Richard Herzinger, wie er bei Wikipedia zum "jüdischen, deutschen Literaturwissenschaftler und Publizisten" gemacht wurde. Herzinger ist kein Jude, aber "für den Geschmack von Judenfeinden" schreibe er wohl "zu israelfreundliche und antisemitismuskritische Artikel", meint er. Das Adjektiv "jüdisch" wurde inzwischen bei Wikipedia entfernt, doch war die alte Version noch eine ganze Weile bei Google zu finden. "Dort tauchte, wenn man meinen Namen in der Suche eingab, obenauf weiterhin die Anlaufzeile mit der Behauptung, ich sei jüdisch, war doch die nicht wieder zurückgeänderte Wikipedia-Version weiterhin im Google-Cache erhalten."

Im Feuilleton porträtiert Tilman Krause den österreichischen Schriftsteller Walter Kappacher, der dieses Jahr mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet wird. Der Beck-Verlag hat angekündigt, die Ansprüche seiner Autoren im Netz selbst und nicht von der VG Wort wahrnehmen zu lassen. Außerdem will er von Google ein "Removal" der von ihm verlegten Bücher verlangen, berichtet Wieland Freund. Und eine epd-Meldung informiert uns, dass das ZDF sein Internetangebot "drastisch", nämlich um 80 Prozent, reduzieren will: Zur Begründung erklärte der "ZDF-Unternehmenssprecher" Alexander Stock, das ZDF wolle "von sich aus zeigen, 'dass es uns nicht darum geht, alles Mögliche im Netz vorzuhalten, nur weil es ohne Aufwand möglich ist'." Da freut sich der Gebührenzahler!

Birgit Svensson fasst den Streit um die Wahl des ägyptischen Kulturministers Faruk Hosni zum Generaldirektor der Unesco zusammen. Peter Zander kommentiert das Urteil des BGH zu dem Film "Rohtenburg", der nun gezeigt werden darf: Der wegen Mordes verurteilte Armin Meiwes hatte wegen Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte gegen den Film geklagt. Sven Felix Kellerhoff annonciert das große "Geschichtsforum 1989/2009" am Pfingstwochenende in Berlin. Uwe Schmitt erzählt vom Fund der Frontbriefe, die an die Schauspielerin Donna Reed ("Verdammt in alle Ewigkeit") geschrieben wurden. Peter Zander sieht nur noch Prequels aus Hollywood kommen: Jüngstes Beispiel ist "Terminator: Die Erlösung". Heute findet in Berlin eine Germanisten-Tagung über "Kiezdeutsch" statt, berichtet Hendrik Werner, der auch eine Studie von Heike Wiese zum Thema gelesen hat. Ulrich Weinzierl schreibt zum 80. Geburtstag des Germanisten Peter Szondi. Michael Borgstede schreibt zum Tod des Publizisten Amos Elon.

FR, 27.05.2009

Als "präzisen Spracharbeiter" porträtiert Anton Thuswaldner den frisch gekürten Büchnerpreisträger Walter Kappacher: "Zwei Seelen wohnen wohl in der Brust des Walter Kappacher. Einerseits berauscht er sich an Motoren und der Präzision der Technik. Seine Romane 'Die Werkstatt' (1975) und 'Der lange Brief' (1982) bedürfen dringend des Autos und des Tempos, um Personen zu porträtieren, die mit einer Obsession leben. Aber daneben gibt es den Autor der Stille, der von Zeitgenossenschaft nichts wissen will und sich zurückzieht."

Auch in Times mager freut sich Ina Hartwig über den Büchnerpreis für den "feinen, subtilen Stilisten" Kappacher.

Elisabeth Blum und Peter Neitzke werfen einen näheren Blick auf die Architektur Dubais, dessen Inselaufschüttungen aus der Weltraumperspektive ach so grandios aussehen: "Stellen Sie sich vor, jemand nähme Sie auf eine Besichtigungstour mit. Gespannt nähern Sie sich dem 'trunk', dem Stamm der Palme: Inmitten einer mehrspurigen Fahrbahn mächtige Betonstützen und Brückenelemente, die eine Hochbahn tragen sollen. Zu beiden Seiten grobschlächtige Wohntürme, so dicht gedrängt, dass jede denkbare Perspektive hinter der mechanischen Repetition der die Sicht dominierenden, nahezu identischen Fassaden verschwindet. Der Ortstermin ist lehrreich: Die Vitalität, die Dubai aus der Vogelperspektive verspricht, verschwindet, sobald man sich die Geschichte aus der Nähe ansieht."

Weiteres: Hans-Jürgen Linke berichtet zudem den Erfahrungen, die der Komponist Markus Hechtle in Dubai gemacht hat. Arno Widmann schreibt zum siebzigsten Todestag von Joseph Roth. Thomas Winkler durchforstet die "Neil Young Archives". Auf der Medienseite berichtet Harry Nutt von den Schwierigkeiten, eine Europäische Charta für Pressefreiheit zu verabschieden.

Spiegel Online, 27.05.2009

Im Interview mit Frank Patalong und Hilmar Schmundt kündigt Ursula von der Leyen einige Veränderungen an ihrem Websperrenprojekt an: "Wir wollen die Transparenz verbessern. Ich könnte mir gut vorstellen, dass wir ein Gremium mit unabhängigen Experten schaffen, das die Blockierlisten unter dem Mehr-Augen-Prinzip anschaut."
Stichwörter: Leyen, Ursula von der

FAZ, 27.05.2009

Wolfgang Kraushaar geht mit den Altachtundsechzigern Oskar Negt, Peter Schneider und Uwe Timm ins Gericht, die auch nach der Enttarnung des Karl-Heinz Kurras keinen wesentlich anderen Blick auf die Vergangenheit werfen wollen, sondern, wie Negt in der SZ, DDR und Springer Verlag als autoritäre Systeme gleichsetzen: "Für die These von der Äquivalenz eines westlichen Pressekonzerns mit einem östlichen Geheimdienst muss ein allgegenwärtiger Begriff des 'Autoritarismus' herhalten. Es kann nur irritieren, wie gerade jener Sozialwissenschaftler, der zu Beginn der siebziger Jahre zusammen mit Alexander Kluge eines der einflussreichsten Bücher über den Begriff der Öffentlichkeit vorgelegt hatte, auf jede qualitative Unterscheidung zwischen einem Rechtsstaat und einer Diktatur, zwischen Boulevardpresse und Spitzelsystem meint verzichten zu können." (Hier das Interview mit Uwe Timm in der FAZ; der Artikel von Peter Schneider im Spiegel steht nicht online.)

In einem Interview mit Jürgen Kaube und Hannes Hintermeier zu den Themen geistiges Eigentum, Google Books etc. will sich Justizministerin Brigitte Zypries sichtlich in keiner Frage festlegen - auch die Idee einer Kultur-Flatrate, der sie mit Sympathie zu begegnen scheint, wird sofort mit unzähligen Abers umzingelt. Immerhin: Vom französischen Loi Hadopi, dass Internetsperren für Downloader vorsieht, hält sie nichts: "Das ist im deutschen Parlament aus gutem Grund nicht durchsetzbar. Wenn ich - wie in Frankreich - jemandem den Internetzugang sperren will, wenn er dreimal illegal Material heruntergeladen hat, dann setzt das Erkennen eines Mehrfachtäters voraus. Und das bedeutet, dass ich die Internetnutzung generell filtere und die Verbindungsdaten speichere. Das hieße Vorratsdatenspeicherung in großem Stil, über deren verfassungsrechtlich zulässigen Umfang das Bundesverfassungsgericht noch nicht entschieden hat."

Weitere Artikel: Regelrecht entzückt ist Felicitas von Lovenberg, dass die diesjährige Büchner-Preis-Wahl auf den Schriftsteller Walter Kappacher fiel: "Ein wunderbarer Schriftsteller, der sich mit Stil, Würde und Eleganz abseits des allgegenwärtigen Betriebs ein Werk von außergewöhnlichem Ebenmaß erschrieben hat, erhält den wichtigsten deutschen Literaturpreis: So soll es sein." Karen Krüger hat den Theater-Zug "Orient-Express" in Istanbul erlebt. In der Glosse erklärt Oliver Tolmein, dass in Sachen Patientenverfügung Verfahrensfragen voraussichtlich eine Entscheidung verhindern werden - dies aber aus gutem Grund. Der Judaist Matthias Morgenstern verbittet sich nicht nur die christliche Judenmission, sondern hält auch wenig davon, wenn Christen "den Juden ungefragt eine Partnerschaft anzudefinieren" versuchen. Gina Thomas meldet, dass die kurzzeitige Oxford-Poetik-Lehrstuhlinhaberin Ruth Padel (Website) zurückgetreten ist, nachdem herauskam, dass sie Journalisten auf die anonymen Vorwürfe der sexuellen Belästigung aufmerksam gemacht hatte, die gegen ihren Konkurrenten Derek Walcott erhoben wurden. Henning Ritter schreibt zum Tod des israelischen Journalisten und Schriftstellers Amos Elon, von Edo Reents gibt es einen kurzen Nachruf auf das ehemalige Wilco-Bandmitglied Jay Bennett. Auf der Medienseite schildert Nina Rehfeld die kühne Neuerfindung des Nachrichtenmagazins Newsweek als "Monatsmagazin im Wochenrhythmus".

Auf der DVD-Seite sichtet Andreas Kilb frühe Spielfilme des späteren "Heimat"-Regisseurs Edgar Reitz, schwärmt Michael Althen für Michelangelo Antonionis Klassiker "Zabriskie Point", macht Andreas Platthaus auf Satoshi Kons Anime "Perfect Blue" aufmerksam und staunt Bert Rebhandl über Fritz Langs kühles Meisterwerk "Ministerium der Angst".

Besprochen werden Dietrich Hilsdorfs Inszenierung der "Walküre" im Ring-Zyklus des Aalto-Theaters in Essen, die Ausstellung "John Flaxman und die Renaissance" in Berlin, Jim Jarmuschs neuer Film "The Limits of Control" und Bücher, darunter Wolfgang Fritz Haugs Überarbeitung und Fortschreibung seines marxistischen Klassikers "Kritik der Warenästhetik" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 27.05.2009

Gerd Koenen lässt noch einmal die absurde, nun noch verwirrendere Gemengelage des 2. Juni 1967 mit ihren vier wirkenden Kräften - Studenten, Springer-Presse, Westberliner Obrigkeit und nun also die Stasi - auf sich wirken: "Die Studenten, so viel ist klar, brachten alle diese komplementären, sich gegenseitig nährenden Freund-Feind-Ordnungen im Nachkriegsberlin durcheinander. Im Hass auf die langhaarigen Studenten und 'Chaoten' wird sich der SED-Mann Kurras mit seinen Westberliner Kollegen ganz einig gewesen sein."

Auch die Seite 2 des politischen Teils ist dem Thema gewidmet. Reporter Hans Leyendecker erzählt die Geschichte des Karl-Heinz Kurras, ohne neue Fakten beitragen zu können. Außerdem wird Marek Dutschke über die Angst seines Vaters vor der Stasi interviewt.

Weitere Artikel: Tobias Lehmkuhl bringt die traurige Nachricht, dass der hervorragende Lyrikverlag von Urs Engeler vor dem Aus steht. Lothar Müller würdigt den designierten Büchner-Preisträger Walter Kappacher. Alexander Menden erzählt Unschönes über die Oxforder Lyrikprofessur: Die schon ernannte Professorin Ruth Padel trat jetzt zurück, weil sich herausgestellt hat, dass sie geholfen hat, den aussichtsreichsten Kandidaten Derek Walcott wegen angeblicher sexueller Belästigung von Studentinnen im Jahr 1982 mit anzuschwärzen. Willi Winkler erzählt von einer Langzeitstudie der Harvard-Universität, die seit den dreißiger Jahren durchgeführt wird und trotz intensiver Untersuchung inzwischen uralter Probanden keine Glücksformel gefunden hat. Volker Breidecker verfolgte ein Symposion im tschechischen Zlin über die Musterstadt des Schufabrikanten Bata. Johan Schloemann hat einem Kolloquium über Eliten zur Ehren Ralf Dahrendorfs in Konstanz zugehört. Holger Liebs sieht dem Leiter der Biennale Venedig, Daniel Birnbaum, bei der Arbeit zu. Alexander Kissler resümiert eine Tagung über Rudolf Borchardt in München. Lothar Müller erinnert an den Literaturwissenschaftler und Kritiker Peter Szondi, der vor achtzig Jahren geboren wurde.