05.06.2009. Graydon Carter von Vanity Fair hat herausgefunden, wie Zeitungen trotz Internet ihre Auflage explodieren lassen können. Und das bizarrste: Das Rezept ist alt. In der Welt schreibt Hans-Christoph Buch über die missliche Lage der Uiguren. In der FR macht Niall Ferguson Paul Krugman fertig. Die FAZ erzählt, wie Ai Weiwei mit seinem Blog das chinesische Schweigen über das Massaker am Platz des Himmlischen Friedens bricht
Welt, 05.06.2009
Der Schriftsteller
Hans-Christoph Buch, der sich gerade in China aufhält, ist nach
Kashgar gefahren, in die westlichste Stadt Chinas im Uigurischen Autonomen Gebiet
Xinjiang und
musste feststellen, dass die uigurische Minderheit, deren islamischer Glaube den Chinesen nicht behagt, nicht gleichberechtigt ist: "
Selbst die Uhrzeit ist hierzulande ein Politikum, denn obwohl Kashgar mehr als 5000 Kilometer weiter westlich liegt, gilt aus Prestigegründen überall Pekinger Zeit - nur die nach Mekka orientierten Moscheen dürfen die Ortszeit anzeigen. In Kashgar ist es zwei Stunden früher als in Peking; trotzdem müssen die Kinder um acht Uhr früh, de facto also um sechs, zur Schule gehen, wo sie chinesisch
sozialisiert und indoktriniert werden, während die auf Folklore reduzierte uigurische Sprache und Kultur nur eine Nebenrolle spielt. Das schafft böses Blut."
Weitere Artikel: Maxeiner & Miersch
wenden sich in ihrer Kolumne gegen eine
Verharmlosung der DDR gerade durch Westdeutsche, die die DDR zeitlebens als eine Art Schrebergartenkolonie mit zweitklassigen Gartenzwergen empfunden hätten: "Solange die DDR bestand, kamen
200 000 Menschen aus politischen Gründen ins Gefängnis. Leider finden viele Westdeutsche Bananenwitze immer noch interessanter." Im Feuilleton
bespricht ein begeisterter Berthold Seewald die Ausstellung "Verwandelte Götter"
in Dresden, für das der
Prado einige seiner kostbarsten
antiken Skulpturen auf die Reise schickte. Michael Stürmer
berichtet über Gerüchte, dass die
nordkoreanischen Atomtests dazu dienen, den Sohn des kranken Kim Jong-Il,
Kim Jong-un als Nachfolger zu installieren. Uta Baier
begrüßt den Einzug der
Sammlung Rau ins
Arp-Museum.
Michael Pilz
freut sich auf das Konzert der Ska-Gruppe
Madness in Berlin. Uta Baier
besucht den neuesten
Kunstpalast des Sammlers
Francois Pinault in Venedig. Und Hanns-Georg Rodek
schreibt den Nachruf auf den Schauspieler
David Carradine.
Weitere Medien, 05.06.2009
In
Vanity Fair bittet Chefredakteur
Graydon Carter seine Journalistenkollegen, endlich mit dem
Gejammer über den Niedergang der Zeitungen aufzuhören. "Ich würde vorschlagen, dass Zeitungen der Öffentlichkeit wieder einen Grund geben, sie zu lesen. Hier eine Idee: Werft euch auf eine große Story, die eine
breite Öffentlichkeit interessiert, setzt eure besten Leute dafür ein, sagt ein stilles Gebet und dann geht aufs Ganze." Wie der
Daily Telegraph, der zwei Monate lang mit
45 Journalisten und einer Reihe von Anwälten eine
Serie über die Spesen der Abgeordneten vorbereitete. "Kein Wunder, dass die britische Öffentlichkeit in einem fieberhaften Aufruhr ist", meint Carter. Und: "Während diese Kolumne gedruckt wird, hat der Telegraph dieser Geschichte bereits 120 Zeitungsseiten gewidmet. Und obwohl die Zeitung sie zuerst
auf ihrer Webseite veröffentlichte und erst am nächsten Morgen im Print,
explodierten die Verkäufe der aktuellen Ausgabe. An dem Tag war der Telegraph ausverkauft. Seitdem hat er 600.000 Exemplare zusätzlich verkauft. Laut Auskunft der Zeitung war es die
größte Auflagensteigerung bei einer Nicht-Kriegs-Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg."
NZZ, 05.06.2009
Nach dem Selbstmord von Koreas Ex-Präsident
Roh Moo Hyun erklärt Ho Nam Seelmann, welche Bedeutung Verantwortung, Scham und Tod in der koreanischen Kultur haben (wo die Schuld nicht von einer Kirche verwaltet wird): "Stirbt jemand, so verliert in Korea der weltliche Maßstab jegliche Wirkung. Der Tote ist grundsätzlich nicht nur der rechtlichen, sondern auch der moralischen Beurteilung entzogen. Ein Urteil über den Tod hinaus wie das des christlichen Gottes kennt die koreanische Tradition nicht. Auch
Diktatoren und Mörder, alle werden nach dem Tod zu
Ahnen, die man mit einem Altar ehrt - eine Verhaltensweise, die Europäern oft schwer begreiflich erscheint."
Die Krise hat nun auch New Yorks
Metropolitan Opera erreicht,
berichtet Andrea Köhler, die aber auch einen ganz neuen Geist unter den Künstlern der Stadt registriert: "In einer Umfrage unter Künstlern registrierte die
New York Times eine erstaunlich
optimistische Stimmung - oder zumindest eine Befreiung. Da derzeit ohnehin keiner ihre Kunst kaufe, könnten sie endlich ohne Zugeständnisse an den Mainstream arbeiten, meinen viele."
Weiteres: "Freundlich, unverbindlich, etwas fad" findet Marc Zitzmann das Bild, das im neuen
Musee Herge in Louvain-la-Neuve bei Brüssel von dem Comic-Zeichner vermittelt wird. Georges Waser
reicht den Bericht über die Schlammschlacht um die
Oxforder Poetik-Professur nach: Vor zwei Wochen hatte die nominierte Ruth Padel zugegeben, die Presse mit unappetitlichen, aber unbewiesenen und 27 Jahre alten Anschuldigungen gegen
Derek Walcott munitioniert zu haben. Auf der Plattenseite sichtet Peter Hagmann den reichen Aufnahmefundus des Dirigenten
Roger Nirrongton. Martina Wohlthat hört Neuaufnahmen
Bachs Cello-Suiten.
Auf der Medienseite
knöpft sich Rainer Stadler den Generaldirektor des öffentlich-rechtlichen Schweizer Rundfunks SRG,
Armin Walpen, vor.
Aus den Blogs, 05.06.2009
In
Carta plädiert Wolfgang Michal für
Bezahlmodelle im Internet: "Seit die Renditen sinken, denken viele Verleger erneut über Abo-Modelle für Internet-Angebote nach. Anders als früher kommen heute jedoch
größere Einheiten ins Spiel. Nicht mehr der Zugang zu einzelnen Artikeln (Micro-Payment), sondern der Zugang zum ganzen Produkt oder zur Produktfamilie soll vom Nutzer erworben werden können: Holtzbrinck würde ein
Holtzbrinck-Abo anbieten, Springer ein Springer-Abo, Gruner & Jahr ein Gruner & Jahr-Abo." Na, das klingt ja verlockend.
Martin Weigert
stellt in
Netzwertig "die
Frage nach dem Warum. Warum hat es den Anschein, dass die Anfeindungen zwischen Web-Enthusiasten und -Skeptikern in Deutschland
erheblich größere Ausmaße annehmen als zum Beispiel in den USA, wo der neue Präsident Barack Obama das Internet von Beginn an als Chance angesehen hat, oder in Schweden, wo ich seit drei Jahren lebe?"
Etwas verspätet außerdem der
Hinweis auf Thomas Knüwers Warnung in
Indiskretion Ehrensache: "Nachdem der Versuch Internetsperren über das Scheinargument der Kinderpornobekämpfung zu errichten sich in Richtung PR-Gau entwickelt, steht nun die nächste Stufe an - eingeleitet von Bundesinnenminister
Wolfgang Schäuble."
TAZ, 05.06.2009
Auf den Kulturseiten
untersucht Christian Werthschulte anhand neuer Alben von
Grizzly Bear,
Scott Matthew und
Gentleman Reg die Schwierigkeiten von
Schwulsein in der Independent-Szene, was diese Musiker nun jeweils sehr unterschiedlich und offen thematisieren. "Dabei hätte es anders kommen können. Denn mit Hüsker-Dü-Sänger
Bob Mould und
Michael Stipe, dem Frontmann von R.E.M., sind zwei der wichtigsten Musiker der amerikanischen Alternative-Szene schwul. Aber sie blieben so lange ungeoutet, bis sie nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses standen."
Besprochen werdend das
Projekt "Der Zauberlehrling" von
Rimini Protokoll am Berliner
HAU, das sich auf den Spuren von Zauberern und militärischen Strategien bewegt, und das
Album "Bitte Orca" der New Yorker Band
Dirty Projectors.
In tazzwei
berichtet Hajo Schiff über die
Eröffnung von
Francois Pinaults neuem
Museum im von
Tadao Ando umgebauten alten Zolllager von Venedig, in dem unter anderem Arbeiten von Jake und Dinos Chapman, Luc Tuymans und Sigmar Polke zu sehen sind. Auf der Meinungsseite
ergreift der
Georg Seeßlen angesichts ihres drohenden Abstiegs zur
Provinzpartei bei den EU-Wahlen die Gelegenheit zu einer Grundsatzanalyse der
CSU.
Und
Tom.
FR, 05.06.2009
Der
Wirtschaftshistoriker Niall Ferguson hält es für bewiesen, dass er in seinem Streit mit
Nobelpreisträger Paul Krugman um Staatsverschuldung und Zinsentwicklung
Recht hat. Ferguson erwartet im Gegensatz zu Krugman steigende Zinsen: "Ohne Zweifel herrscht heute ein starker Gegentrend, nämlich zur Deflation. Offensichtlich gibt es einen Kapazitätsüberhang in der weltweiten Produktion. Aber gleichzeitig sind die Preise für Rohstoffe wie Öl und Kupfer seit Februar angestiegen. Und die angestrebte Geldmengenexpansion in den USA, wo die
Geldmenge M2 jährlich um 9 Prozent wächst, was deutlich über dem seit 1960 gemessenen Durchschnitt liegt, wird höchstwahrscheinlich zu einer Inflation führen, wenn nicht in diesem, dann spätestens im nächsten Jahr."
Christine Pries
legt sich für die amerikanische
Schriftstellerin Willa Cather ins Zeug, die hierzulande nie sonderlich Beachtung oder Anerkennung gefunden hat: "Es gibt kaum eine großartigere Beschreibung des harten Lebens in der
amerikanischen Prärie, der Entbehrungen und Nöte und der überwältigenden Natur, als man sie in "Antonia" oder "O Pioneers!" (1913) lesen kann."
Weiteres: Christian Schlüter
berichtet von einer Frankfurter Diskussion zur
Judenmission. In Times mager
widmet sich Harry Nutt dem
Welfenschatz. Wolf Kampmann
war beim Moerser
Jazzfestival. Besprochen werden
Wanda Golonkas Inszenierung von Handkes "Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten" und ein
Konzert Maximilian Heckers im Frankfurter Mousonturm.
SZ, 05.06.2009
Der Künstler
Thomas Schütte, dem eine große Ausstellung im Münchner
Haus der Kunst gewidmet ist, erklärt, woher (nicht nur) er seine eigentlichen Inspirationen nimmt: "Was Kollegen wie Thomas Struth und Andreas Gursky machen, kommt ja nicht aus der Kunstwelt. Das kommt
vom Film. Als Studenten sind wir immer ins Kino gegangen. Deswegen können wir die Kunstgeschichte jetzt so unbefangen nachholen. Glücklicherweise wurde ich von der Münchner Filmakademie
abgelehnt. Man muss mit Hunderten Leuten zusammenarbeiten, Kompromisse eingehen - deshalb bin ich nicht Filmemacher geworden."
Weitere Artikel: Und woran, liebe
SZ, ist das
Internet heute schuld? Ah, Gerhard Matzig ist was Neues eingefallen -
Billy & Co.
sterben, weil wir keine Bücher mehr lesen: "Die Wissens- und Informationsgesellschaft benötigt ein Glasfaserkabel, kein
Buchregal." Thomas Steinfeld erklärt den skeptisch gewordenen Ökonomen, warum die Gesellschaft das
Wachstum sehr wohl braucht. Von fortgesetzten Debatten, die in Polen vom
Spiegel-Titel über die
europäischen Helfer des Judenmords ausgelöst wurde, berichtet Thomas Urban. Johan Schloemann erklärt warum, mit Beginn in der heutigen Ausgabe, eine neue, einmal im Monat erscheinende "
Taschenbuch"-Rubrik auf der Literaturseite sinnvoll ist. Alexander Menden gratuliert der britischen Autorin
Margaret Drabble zum Siebzigsten. Tobias Kniebe
schreibt zum Tod des Schauspielers
David Carradine.
Besprochen werden
Roger Vontobels Hamburger Inszenierung von Kleist "Käthchen von Heilbronn", eine Inszenierung von
Hans Werner Henzes Oper "Der junge Lord" in Dortmund und neue Taschen- und andere Bücher, darunter unter dem Titel "Immer wieder werden mich thätige Geister verlocken" die Briefe
Alma Mahler-Werfels an Alban Berg und seine Frau (mehr dazu in der
Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).
FAZ, 05.06.2009
Alle offiziellen Stellen schweigen in China zum Jahrestag des
Tiananmen-Massakers. Nicht so,
berichtet Mark Siemons, der renitente Künstler
Ai Weiwei, der über dieses Schweigen bloggt: "In seinen
Blog schreibt er: 'Lasst uns den 4. Juni vergessen, vergesst diesen gewöhnlichen Tag. Das Leben hat uns gelehrt, dass unter dem Totalitarismus jeder Tag gleich ist. In einer totalitären Gesellschaft ist jeder Tag ein Tag, es gibt keinen 'anderen Tag', kein 'Gestern' oder 'Morgen'.'Dazu hat er eines seiner alten Schwarzweißfotos gestellt, auf dem er vor dem im Dunst liegenden Tiananmen-Platz das
Fuck-off-Zeichen macht." (Wir haben nur
diese Version gefunden)
Weitere Artikel: Gina Thomas berichtet über Ärger in Großbritannien rund um den
D-Day-Jahrestag und zeigt sich sehr beeindruckt von
Anthony Beevors jetzt in englischer Sprache erschienenem
neuen Buch, in dem er das Geschehen brillant zu erzählen verstehe. Nicht sehr überzeugend
findet es Peter Richter, wie der britische Künstler
Liam Gillick den
deutschen Pavillon bei der Biennale in Venedig kleinzuarbeiten versucht. In der Glosse
schreibt Kerstin Holm über
lebensgefährliche Polizisten in Russland. Kritisch sieht Eduard Beaucamp in seiner Kolumne die Ausgrenzung der
DDR-Kunst aus dem Kanon. Gerhard Stadelmaier erklärt anlässlich der Abschiedsaufführung - gespielt wurde Handkes wortfreie "Stunde, da wir nichts voneinander wussten" - von
Elisabeth Schweegers Intendanz noch einmal, warum ihm das alles schon die ganze Zeit überhaupt nicht gepasst hat. Patrick Bahners hat noch ein letztes oder vorletztes Wort zur
Judenbekehrung.
Besprochen werden ein Konzert von
Placebo in Köln,
Steve Conrads Komödie
"Topjob" und Bücher, darunter
Jorge Volpis Roman "Zeit der Asche" (mehr dazu in der
Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).