06.06.2009. In der Berliner Zeitung hält uns Adam Krzeminski eine verdiente Standpauke zu den Europawahlen. Und der Rechtsmediziner Michael Tsokos erzählt aus seinem Alltag: zwei bis drei faule Leichen wöchentlich. Im Tagesspiegel erklärt Nikolaus Merck von nachtkritik, wie sich Kritik durchs Netz verändert. In der FAZ erklärt die iranische Frauenrechtlerin Parvin Ardalan, wie ermüdend es ist, wenn Mantellängen nicht von der Mode diktiert werden. Die ersten Reaktionen auf die 53. Biennale in Venedig sind meist unschlüssig bis enttäuscht.
TAZ, 06.06.2009
Enttäuschend weltfremd
findet Brigitte Werneburg einen großen Teil der diesjährigen
Biennale-Kunst: "Vielleicht fehlt ja der Wunsch nach der eigenen Weltsicht, weil schon der Wunsch nach einer ganz allgemeinen Sicht der Welt nicht vorhanden ist? Gerade geht die von Elmgreen & Dragset noch beschworene
Welt des Luxus und der Moden zu Bruch, und nirgendwo auf der Biennale findet das Interesse.
Wolfgang Tillmans etwa zeigt ein weiteres Mal seine bunten, monochromen Fotopapiere und beschäftigt sich in der obligaten Vitrine mit Astronomie und Sternenfotografie. Auf
welchem Stern nur lebt er?"
Weitere Artikel: Felix Lee räumt in einem
Gespräch dem Filmemacher
Douglas Wolfsperger sehr viel Platz ein, über das Unrecht zu reden, als das er das Umgangsverbot mit seiner Tochter begreift. Wolfsperger hat darüber den Film
"Der entsorgte Vater" gedreht, der in der kommenden Woche in den Kinos anläuft. In Tania Martinis "Leuchten der Menschheit"-
Kolumne geht es um "
liberale Kommunisten" wie George Soros.
Besprochen werden nur Bücher, darunter
Seths Comic "Wimbledon Green" und
Boualem Sansals Roman "Das Dorf der Menschen" (mehr dazu in der
Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).
NZZ, 06.06.2009
Eher enttäuscht
bewegt sich Samuel Herzog durch die
Eröffnungsausstellung der
Kunstbiennale. Sie wirkt auf ihn "wie eine gut sortierte Gemeindebibliothek: Bei jedem Buch, das man herauszupft, versteht man sofort, warum es in den Bestand aufgenommen wurde - nur
stehlen möchte man keines." Aber dann macht er doch einige Entdeckungen...
Weitere Artikel: Hans-Joachim Müller
unternimmt einen Streifzug durch die
Länderpavillons der Kunstbiennale. Der Schriftsteller Klaus Merz
unterhält sich mit dem Maler Peter Küng über
Stil. Joachim Güntner
fragt sich, warum westdeutsche Staatsdiener im Gegensatz zu ostdeutschen nicht auf mögliche
IM-Tätigkeiten überprüft werden.
Besprochen werden die
Ausstellung "Jugendstil am Oberrhein" in Karlsruhe, ein Chopin-Konzert mit
Andrei Gawrilow in der Zürcher Tonhalle und Bücher, darunter
Najem Walis Buch "Reise in das Herz des Feindes" (mehr in unserer
Bücherschau heute ab 14 Uhr).
In Literatur und Kunst
porträtiert Gabriele Detterer den Künstler
Bruce Nauman, der die USA bei der Biennale vertritt. Sabine B. Vogel
sieht bei der
Kunstbiennale Sharja eine Richtung eingeschlagen, der andere folgen sollten: Weg vom Nationalitäten-, hin zum Regionalbezug.
Alfred Brendel und
Jan-Werner Müller schreiben
hier und
hier zum Hundertsten von
Isaiah Berlin.
Tagesspiegel, 06.06.2009
Nikolaus Merck vom (hier schon häufig zitierten)
Theaterportal nachtkritik erzählt im Interview mit Adrian Pickshaus, wie sich Kritik durch das Netz und Leserkommentare verändert. Und er erklärt, warum er auch
krasse Kommentare zulässt: "Nein, wir machen das nicht aus Lust am Krawall. Aber ohne Polemik kommen einfach keine sachlichen Argumente. Die
Goldklumpen sind im Schlammstrom, man kriegt sie nicht pur. Und der eigentliche Clou von nachtkritik.de ist auch, dass wir uns nicht als
Scharfrichter über die jeweilige Aufführung aufspielen, indem wir ein endgültiges Urteil fällen. Wir liefern mit unseren Kritiken 'Vor-Würfe', Angebote zur Diskussion. Es war von vorneherein unsere Absicht, die
Einbahnstraße zwischen Kritiker und Adressat aufzuheben - und dem Publikum wie den Theatermachern die Möglichkeit zu geben, zurückzuschreiben."
FR, 06.06.2009
Der
Schriftsteller Falko Hennig hat eine Führung durch das
Stasi-Museum mitgemacht und monströse und lächerliche Schrecknisse gesehen: "Das Stasi-Unterlagengesetz ist die juristische Grundlage, um die 178 Kilometer Akten, anderthalb Millionen Fotos, Videos, Tonbänder und
Einweckgläser zu verwalten. Das mit den Geruchsproben, bei Kapitalverbrechen findet Boeger es noch okay, aber bei Jugendlichen, die Parolen an die Wände malen? Ein Pinsel wurde in einem solchen Fall dem Spürhund vorgehalten, als Boeger den Stasi-deutschen Fachbegriff '
Geruchsidentifizierungshund' nennt, gibt es Gelächter. Jedenfalls war der Köter erfolgreich."
Weitere Artikel: Der
Religionssoziologe Jose Casanova stellt im Gespräch mit Harry Nutt fest: "Das Säkulare und das Religiöse beschreiben zwei mögliche Seinsweisen in der
Moderne." In Marcia Pallys US-Kolumne
geht es um
politische Bürger und den "venti caramel frappucino" bei Starbucks. In einer "Times Mager" wird Christian Thomas U-Bahn fahrend
staunender Zeuge des Frankfurter
Turnfests.
Besprochen werden eine
Aufführung von
Hans Werner Henzes Oper "L'Upupa" in Dresden, die große
Cy-Twombly-
Ausstellung im
Mumok in Wien, eine
Frankfurter Ausstellung über Kaiser
Wilhelm II. Verhältnis zur Archäologie, das neue
Sonic-Youth-
Album "The Eternal" und ein von Friedrich Pfäfflin herausgegebener
Band mit zwei Briefen
Rosa Luxemburgs und Kommentaren dazu von
Karl Kraus (mehr dazu in der
Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).
Welt, 06.06.2009
Uta Baier
flaniert über die
53. Biennale von Venedig und ist insgesamt nicht unbedingt begeistert: "Am Ende wird man viel gesehen, aber
wenig gelacht haben." Auch
Liam Gillicks Installation im deutschen Pavillon, eine Art Einbauküche, gibt Anlass zu
knappen Chakterisierungen: "Diese Installation spröde zu nennen, wäre schon zu poetisch. Sie ist nicht mehr als das Produkt einer
Kreissäge und braver Aufbauhelfer. Aber warum nicht einmal über gut beleuchtete Einbauküchen und ihre Rolle in der Gesellschaft an sich nachdenken?"
Weitere Artikel:
Arno Lustiger erinnert sich an seine Befreiung aus dem KZ Buchenwald durch die Amerikaner und denkt über die Bedeutung von
Obamas Besuch im Lager nach. In der Literarischen Welt
erinnert Jacques Schuster an
Isaiah Berlin, der in diesen Tagen hundert Jahre alt geworden wäre. Michael Skafidas
unterhält sich mit Nobelpreisträger
J.M.G. Le Clezio. Besprochen wird unter anderem
Hazel Rosenstrauchs Studie "Wahlverwandt und ebenbürtig" über
Caroline und
Wilhelm von Humboldt.
Berliner Zeitung, 06.06.2009
Der polnische Publizist
Adam Krzeminski hält uns eine verdiente kleine Standpauke zu den Europawahlen: "Die EU-Bürger wissen, dass sie im Vergleich zu den Bewohnern anderer Erdteile
wohlbehütet in einer heilen Welt leben. Sie genießen ihre Reisefreiheit. Sie sehen die Folgen der
Strukturfonds. Doch ihr Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Entität, die eine halbe Milliarde Europäer umspannt, reicht nicht einmal für ein
Pflichtgefühl: Wenn ich schon Nutznießer dieses historischen Experiments bin, dann gehe ich auch meine EU-Vertreter wählen, selbst wenn das Projekt Europa noch immer eine Schieflage hat."
Der Rechtsmediziner
Michael Tsokos, der in der Charite möglicherweise die sterblichen Überreste von
Rosa Luxemburg gefunden hat,
spricht im Interview im Magazin der Berliner Zeitung über seinen Alltag: "
faule Leichen", Berliner, die mehrere Tage nach ihrem Tod in ihrer Wohnung gefunden werden: "Es gibt in Berlin eine Menge faule Leichen, wir haben hier jeden Tag zwei bis drei. Einer hat mal fast
fünf Jahre in einer Wohnung gelegen. In dieser Stadt leben sehr viele Menschen sozial isoliert und vereinsamt. Sie sterben in ihrer Wohnung, nach denen guckt keiner. Erst wenn es streng riecht, kommt jemand."
FAZ, 06.06.2009
"Man kann in
Iran durchaus ein
relativ normales Leben führen, genau wie in Europa - nur eben im Geheimen und mit der Angst, entdeckt zu werden", erklärt die iranische
Frauenrechtlerin Parvin Ardalan im Interview mit Sophie Schöberl für Bilder und Zeiten. Die Leute arrangieren sich. "Es ist wie ein Spiel. Ein Spiel, das müde macht. Schauen Sie sich zum Beispiel
meinen Mantel an. Vor drei Monaten hätte ich den nicht tragen können, weil er zu kurz
ist, ein Revolutionswächter hätte mich vielleicht daran gehindert, hier ins Cafe zu kommen. Also sagte ich mir: Na gut, ziehe ich ihn erst mal nicht an. Jetzt ist es
gerade in Ordnung, ihn zu tragen, so kurz vor den Wahlen will die Regierung gute Stimmung verbreiten. Nach der Wahl wird der Mantel wohl
wieder zu kurz sein."
Was ist öffentlich, was privat? Um dieses Thema kreist auch die Kunstbiennale in Venedig, die am Sonntag beginnt,
schreibt Niklas Maak im Feuilleton. "Auch
Wolfgang Tillmans erscheint in diesem Kontext als politischer Künstler; eines seiner kleineren neuen Bilder zeigt einen Sturmhimmel über dem Meer, auf das
scheinbar Sonnenlicht fällt - es ist aber bei genauerem Hinsehen der Lichtkegel eines Hubschraubers, der vor Lampedusa nach
illegalen Flüchtlingsbooten sucht; was als dramatische Naturgewalt erscheint, ist tatsächlich ein Bild gewaltsamer Politik."
Weitere Artikel:
Obamas Rede in Kairo "war ein vielversprechender Anfang", meint der in London lebende pakistanische
Schriftsteller Mohsin Hamid, "eine Abkehr von der aggressiven Art der früheren amerikanischen Regierung. Wenn seine Rede aber mehr sein will als nur ein Anfang, müssen ihr
Taten folgen." Felicitas von Lovenberg
hat im
New-York-Times-Buchblog
"Paper Cuts" interessantes über eine Diskussion zum Thema "Formen der Zensur" mit
Toni Morrison und
Fran Leibovitz gelesen. Jürgen Dollase speist ganz vorzüglich in
Peter Maria Schnurrs Leipziger Restaurant
"Falco". Marcus Jauer
schreibt aus dem Pressezentrum in Weimar über
Barack Obamas "
Scheinbesuch". Jordan Mejias berichtet über Inszenierungen am
Broadway. Michael Althen schreibt kurz zum Tod des Schauspielers
David Carradine. Gunnar Schnabel erläutert seine
juristische Sicht auf den Rechtsstreit um den
Welfenschatz. Jürgen Kaube meldet den Tod des Germanisten
Detlef Kremer.
Besprochen werden
Wagners "Götterdämmerung" mit La Fura dels Baus in Valencia (Holger Noltze ist von Carlus Padrissas Inszenierung wenig beeindruckt. "Dass einen das alles dennoch nicht kaltlässt, liegt an
Jennifer Wilsons Brünnhilde, sowohl gesanglich wie figürlich wie eine
Ikone der Unzeitgemäßheit, die mit einer ganz eigenen Monumentalität die Szene beherrscht. Wo sie steht, ist
Mitte." Und auch das Orchester unter Zubin Mehta fand er einfach fabelhaft) und Bücher, darunter
Jan Christophersen Debütroman "Schneetage" (mehr in unserer
Bücherschau heute ab 14 Uhr).
Auf der Schallplatten- und Phonoseite geht's um Streichquartette
Joseph Haydns, Neue Musik aus
Witten, CDs von
Steven Wilson,
Ben Harper und
Sonic Youth.
Im Aufmacher von Bilder und Zeiten erklärt Eduard Beaucamp am Beispiel einiger Bilder, warum für ihn der "angebliche Staatskünstler"
Werner Tübke einer der "
bittersten Kritiker" der DDR war. Henning Ritter schreibt zum Hundertsten des Philosophen
Isaiah Berlin. Lena Bopp hat einen Ortstermin im
Hause Picassos in Vauvenargues.
SZ, 06.06.2009
Zweimal
Venedig: Nach dem Gang durch die
Biennale-Ausstellungsorte
zeigt sich Kia Vahland sehr zufrieden mit dem, was sie sah: "Statt Gerede: verdichtete Imaginationen, wie sie auf Großausstellungen lange nicht gesehen wurden. Bilder um der Bilder willen, ganz in der Tradition der venezianischen Kunst, die seit der Renaissance kaum Theorie, dafür eine umso mutigere, farb- und materialwütige Ästhetik hervorgebracht hat. Kaum ein Biennaledirektor zuvor hat den venezianischen
genius loci so verstanden wie Birnbaum." Holger Liebs, der die
Nationen-Pavillons betrachtet,
sieht den tschechisch-slowakischen weit vorne: "Roman Ondak ist einer der besten Auftritte vorbehalten - man ist schon fast wieder aus dem Bau der Tschechen und Slowaken draußen, bevor man bemerkt, ihn betreten zu haben.
Arbiträres Kiesgeläuf und Büsche setzen sich in ihm einfach fort - eine perfekte Illusion."
Weitere Artikel: Jens-Christian Rabe
erinnert zu dessen 100. Geburstag an den
Philosophen Isaiah Berlin. Lino Wirag
informiert über das Goethe-Institut-Theaterprojekt "
After the Fall - Europa nach 1989". Johannes Willms schreibt über die
Sehnsucht der Franzosen nach dem Land. Jörg Königsdorf berichtet über
Vivaldi-Forschung in Turin. Anlässlich eines Besuchs der Münchner Philharmoniker in St. Petersburg
schwärmt Egbert Tholl vom
Mariinsky-Saal als soundtechnisch maßstabsetzendem Aufführungsort für Musik.
Besprochen werden Wanda Golonkas Frankfurter Inszenierung von
Peter Handkes "Die Stunde da wir nichts voneinander wussten" zum Abschied der Intendantin
Elisabeth Schweeger, eine
Aufführung von
Hans Werner Henzes Oper "L'Upupa" in Dresden und Bücher, darunter Hazel Rosenstrauchs Eheporträt "Wahlverwandt und ebenbürtig. Caroline und Wilhelm von Humboldt" und Daniel Koerfers
Recherche "
Hertha unter dem Hakenkreuz" (mehr dazu in der
Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).
Im Aufmacher der
SZ am Wochenende versammelt Christian Zaschke sieben Nachrufe auf
Wirtschaftsmanager, die zum Beispiel so
Selbstmord begingen: "Am Abend des 23. Dezember 2008, ein Montag, arbeitete er länger. Ungewöhnlicherweise bat er die Putzfrauen, ihm beim Reinigen seines Büros zu helfen. Dann schloss er sich ein. Am Dienstagmorgen wurde er mit Wunden an den Armen gefunden, er hatte sich die Unterarme und den Bizeps
aufgeschnitten. Seine Füße hatte Rene-Thierry Magon de la Villehuchet, 65, auf den Schreibtisch gelegt und einen Papierkorb herangezogen, um das Blut aufzufangen."
Weiteres: Sibylle Berg geht in die Alpen und
begegnet Fleischwurst auf Rädern.
Abgedruckt wird
Friedrich Anis Erzählung "In einer wahren Stadt". Kristin Rübesamen spricht mit dem Schauspieler
Benicio del Toro über "Helden".