10.06.2009. In der Zeit bedauert Ayaan Hirsi Ali, dass Barack Obama in Kairo den Königen, Scheichs und Präsidenten der islamischen Welt nicht deutlicher die Leviten gelesen hat. In der taz fragt Ilija Trojanow: Waren die alliierten Bombardierungen der französischen Städte ein Kriegsverbrechen? Der SZ ist die inflationäre Produktivität der deutschen Theater unheimlich. Leben wir wirklich im Kapitalismus?, fragt Peter Sloterdijk in der FAZ: "Voll ausgebaute Steuerstaaten reklamieren jedes Jahr die Hälfte aller Wirtschaftserfolge."
TAZ, 10.06.2009
In einem Text für die Meinungsseite
skizziert Ilija Trojanow eine mögliche neue Geschichtsdebatte: Unter Berufung auf den britischen
Historiker Anthony Beevor, der einen neuen Band über die alliierte Invasion in Frankeich herausgebracht hat (mehr
hier), sieht er die Bombardierungen französischer Städte durch Engländer und Amerikaner 1944 als Kriegsverbrechen: "Mit einem Abstand von mehr als 60 Jahren wird auch der Zweite Weltkrieg zunehmend als ein
Höllenfeuer angesehen, aus dem keine Seite
moralisch unbeschadet herausgekommen und der mit dem Persilschein des 'gerechten Krieges' nicht reinzuwaschen ist. Die Sieger drucken solche Exkulpationen inflationär, und die Mächtigen lassen sie sich in vorauseilender Ethik bescheinigen." (Trojanow spricht in seiner Kolumne auch das Schweigen der Öffentlichkeit zu den Verbrechen in Sri Lanka an,
mehr hier.)
Im Kulturteil
bespricht Georg Seeßlen ausführlich den ersten Teil des
Che-
Films von
Steven Soderbergh. Michael Berger
erhofft sich vom Leichenfund in der Charite Auschluss über den Mord an
Rosa Luxemburg. Und Jan Kage
erzählt, wie sich die
südafrikanische Hiphop-Szene auf die Fußball-WM im nächsten Jahr vorbereitet.
Und
Tom.
NZZ, 10.06.2009
Philipp Meier
schickt seine Eindrücke von der
Art Basel, wo sich ihm die
globale Kunstszene so präsentierte: "
Oben sind die Jungen und Neuen, unten die Etablierten und Klassiker - denn die Kunst ist ja immer auch ein bisschen verkehrte Welt." Samuel Herzog
erzählt von seinem Jagdausflug auf die parallel stattfindende
"Liste 09" in Basel.
Besprochen werden
Inszenierungen von Vivaldis "Orlando" in Basel und Glucks "Orfeo" in Luzern, eine Reihe
Neuerscheinungen zu
Calvin,
Joseph O'Connors Roman "Wo die Helden schlafen" sowie die beiden
neuen Bände "Ortskunde" und "Mischwald" von
Thomas Kapielski.
Welt, 10.06.2009
Bestens
gefallen hat Barbara Schweizerhof Steven Soderberghs
Che-Guevara-Film
"Revolucion": "Mit fast frustrierender Konsequenz verweigert Soderbergh die Konventionen der Filmbiografie und rekonstruiert statt dessen eine
Erfahrungsrealität im Chaos, in dem kleine Handlungen große Folgen entwickeln können."
Weiteres: Peter Dittmar
berichtet, dass
amerikanische Museen bereits zwei Dutzend Ausstellungen wegen knapper Kassen abgesagt haben, einige müssen sogar bis zu einem Viertel ihres Personals entlassen. Hendrik Werner widmet sich in der Randglosse der niederländischen Künstlerin
Tinkerbell, die gern mal ihre Katze zur Handtasche verarbeitet und nun in einem Buch und auf ihrer
Homepage alle
Hatemails veröffentlicht hat, die sie dafür bekam. Inklusive Absender. Uta Baier
freut sich über
Edmund de Ungers Berliner Dauerleihgabe seiner Sammlung islamischer Kunst. Hannes Stein
bewundert Hollywood-Stars am
Broadway. Besprochen werden das Depeche-Mode-
Konzert in Leipzig, ein
Band mit Karikaturen, die im sowjetischen Politbüro kursierten und
Harry Kupfers "Palestrina"-Inszenierung in Frankfurt.
Gernot Facius
erinnert daran, wie verhasst das morgige
Fronleichnam einst bei den Protestanten war, Luther hielt die Prozessionen für durch und durch unbiblisch. Immerhin: "Fronleichnam strotzt nicht mehr von katholischem Triumphalismus. Umgekehrt ist das nicht mehr der Tag, da protestantische Bauern demonstrativ
Dung auf ihren Feldern ausbrachten, während das Allerheiligste durch die Städte und Dörfer getragen wurde (Katholiken revanchieren sich, indem sie an evangelischen Feiertagen ihre
Teppiche klopften)."
FR, 10.06.2009
In "Times mager"
bringt Arno Widmann Nachrichten von seiner
Mutter: "Sie ist 88 Jahre alt, liegt in einem
Pflegeheim. Wir müssen Mundschutz, Plastikhandschuhe und einen Plastikmantel anziehen, wenn wir zu ihr gehen. Sie ist bester Laune."
Weitrere Artikel: Arno Widmann
unterhält sich auch ausführlich mit
Michael Hanssler von der
Gerda-Henkel-
Stiftung, die neun Millionen Euro jährlich für die Förderung der Geisteswissenschaften ausgibt und unter anderem
Jürgen Osterhammels monumentalen
Band "Die Verwandlung der Welt" mit auf den Weg brachte. Christoph Schröder
berichtet von einer Pressekonferenz, auf der die
chinesischen Pläne für den Gastlandauftritt bei der Frankfurter Buchmesse vorgestellt wurden.
Besprochen werden Filme, darunter
Steven Soderberghs Epos über den großen
Che,
Christos Georgious Sommerkomödie "Kleine Verbrechen" und
Sam Raimis Film "Drag Me to Hell", außerdem Mozarts "Entführung" in der Regie Michael Thalheimera an der Lindenoper und eine
"Götterdämmerung" unter
Zubin Mehta und
La Fura dels Baus in Valencia
Auf der Medienseite wird
Freitag-Herausgeber
Jakob Augstein interviewt, der die Verantwortung für die Vierte Gewalt doch nicht so schnell in die Hände der
Blogger legen will: "Oh Gott, bitte gib uns noch ein
bisschen Zeit und lass die Zeitungen nicht so schnell sterben, weil sonst das Feld brach liegt. Wenn Don Alphonso und Sascha Lobo diejenigen sind, die diese Lücke in Zukunft ausfüllen sollen, dann kann ich nur sagen: Herzlichen Glückwunsch!"
Aus den Blogs, 10.06.2009
Die
amerikanische Zeitungkrise ist noch nicht ganz ausgestanden,
meldet Gawker: "Yesterday the
Boston Globe's main union rejected a proposal from its parent company, the
New York Times, that would've resulted in
10% employee pay cuts. The Times then announced a
23% pay cut instead."
Zeit, 10.06.2009
Auf der Meinungsseite bedauert
Ayaan Hirsi Ali, dass
Barack Obama in Kairo den Königen, Scheichs und Präsidenten der islamischen Welt nicht deutlicher die Leviten gelesen hat. "Nirgendwo ist die
Bigotterie derart ausgeprägt wie in muslimischen Ländern. Nichts liegt weiter auseinander als die
Gründungsideale Amerikas und die der islamischen Welt. Wenn al-Qaida und andere muslimische Puritaner auf der Anwendung der Scharia bestehen, auf dem Dschihad und auf der ewigen Unterwerfung der Frauen, dann berufen sie sich auf die Gründungsprinzipien des Islam. Auf der Basis der amerikanischen Gründungsideale aber haben Schwarze und Frauen für Gleichberechtigung gekämpft - und diese errungen. Und heute setzen
Schwule,
Lesben und
neue Einwanderer diesen Kampf fort. Ich wünschte, Präsident Obama wäre so mutig, dass zu sagen." (
Hier die englische Version)
Im Feuilleton wird die Frage ausdikutiert, ob
Zeit-Verleger
Gerd Bucerius die "
Enteignet Springer"-Kampagne finanziell unterstützt hat. Theo Sommer will sich das nicht vorstellen können, aber Peter Schneider behauptet, dass Bucerius zusammen mit
Rudolf Augstein sehr wohl den Organisatoren des Springer-Tribunals Geld gezahlt hat (nicht aber
Henri Nannen, wie Schneider irrtümlich in der
FAS behauptet hat): "Ich zweifle daran, dass die Genannten einen Anlass gesehen hätten, sich für ihre publizistische oder auch finanzielle Unterstützung einiger Initiativen der Apo zu entschuldigen. Gerade diese Kampagne genoss in weiten Teilen der liberalen Öffentlichkeit Sympathien. Nicht nur die rebellierenden Studenten, fast die gesamte liberale Intelligenz der damaligen BRD sah in der
geballten Medienmacht des Springer-Konzerns und in der Art, wie er sie ausübte eine Gefahr für die Demokratie."
Auch Bernhard Blanke bestätigt die Zahlungen. Dabei ging es nicht nur um Schecks in Höhe von 500 Mark ("Rudi konnte sich davon
etwas anzuziehen kaufen"), sondern auch um einen Scheck über 50.000 Mark für das Institut für Gegenöffentlichkeit (Göfi).
Weiteres: Claus Spahn kommt ganz verzaubert von einer Reise zu den interessantesten
Händel-Aufführungen im Land zurück: "Im Barockopern-Kosmos atmen die Sänger
Edelgas, so silberhell und leuchtend klingen ihre Stimmen. Der
Koloraturen-Höhenrausch ist für sie der Normalzustand." Iris Radisch trifft die polnische
Autorin und Nomadin
Olga Tokarczuk. Thomas Assheuer gratuliert mit aller gebotenen Ehrfurcht
Jürgen Habermas, der in der nächsten Woche achtzig wird. Glückwünsche senden auch Richard Sennett, Wang Hui, Kenichi Mishma und
Ronald Dworkin: "Gewiss, auch andere Philosophen haben Meilensteine hervorgebracht; aber niemand hat einen solch
überragenden Einfluss auf die gesamte Disziplin erlangt wie Habermas." Hanno Rauterberg schreibt über die Kunst-
Biennale in Venedig. Der Historiker und
Che-Guevara-
Biograf Gerd Koenen bespricht enttäuscht
Steven Soderberghs Film "Revolucion". Peter Kümmel war beim Obama-Theaterfestival in Stockholm.
SZ, 10.06.2009
So
viele Theaterproduktionen wie nie wird es in dieser Saison an deutschsprachigen Theatern geben,
stellt Christopher Schmidt fest. Sorgt die Krise also für mehr Vielfalt? "Wer genauer hinsieht, erkennt, dass die wichtigsten der so vielen Premieren von einer
immer kleiner werdenden Schar tonangebender Regisseure inszeniert werden. Diese sind als feste Marken eingekauft. Das Risiko, das die Theater hier scheuen, indem sie auf
Erfolgsgaranten setzen, streuen sie zugleich durch inflationäre Produktivität. Unsere Bühnen schießen schnell, aber sie schießen mit der Schrotflinte. Immer mehr Premieren, das bedeutet, dass auf jeder einzelnen Premiere weniger Druck lastet, auch wenn das empfindlich auf Kosten der Kontur geht. Die großen Bühnen haben ihr Angebot mittlerweile so zielgruppengerecht diversifiziert, dass unklar bleibt, zu
welcher Ästhetik sie sich eigentlich bekennen, mit welcher Art von Theater sie nachhaltig in Verbindung gebracht werden möchten und
wie viel Gewicht man jeder einzelnen Inszenierung gibt, damit sie sich auch durchsetzen kann."
Der
iranischen Literatur hat genau das umgekehrte Problem,
schreibt Gabriela M. Keller. Dort kann kaum noch jemand ein Buch veröffentlichen. "Ab und an erteilt der Staat seine Zusage, nur um sie wieder zurückzuziehen, wenn das fertige Buch in den Handlungen liegt. Zudem sei in den vergangenen vier Jahren
keine einzige Lesung eines unabhängigen Autors genehmigt worden: 'Literatur ist aus dem öffentlichen Leben verdrängt worden." So erstickten die Restriktionen mittlerweile bereits den
Antrieb zur literarischen Produktion. 'Ein Schriftsteller schreibt, um gelesen zu werden', betont [die Schriftstellerin]
Mitra Elyati. 'Deswegen haben viele keine Motivation mehr, überhaupt noch ein neues Buch anzufangen.'"
Weitere Artikel: Sonja Zekri
informiert uns kurz über eine Pressekonferenz, die
Volker Schlöndorff zu seiner ersten Theaterinszenierung in Russland gab. Nächste Woche wird in Athen das neue
Akropolismuseum eröffnet - allerdings ohne die
Parthenon-Skulpturen, die England nicht herausgeben will, berichtet Johan Schloemann. Wolfgang Schreiber gratuliert dem Komponisten
Josef Anton Riedl zum Achtzigsten.
Auf der Medienseite
führt Hans Leyendecker detailliert auf, wie sich
Gerd Bucerius und
Rudolf Augstein in der "Enteignet Springer"-Kampagne positionierten (gegen Springer und gegen die Enteignung), und wer wann welche Summe an wen zahlte.
Besprochen werden eine von
Christof Nel inszeniert und
Daniele Gatti dirigierte "Aida" in München (die Rollen waren hervorragend besetzt, gibt Joachim Kaiser zu, fragt sich aber auch, ob selbst im Gesang "das
akustische Leistungsprinzip mittlerweile triumphiert ... übers Seelische?"), der
Christos Georgious Sommerfilm
"Kleine Verbrechen",
Douglas Wolfspergers Dokumentarfilm "Der entsorgte Vater",
Sam Raimis Horrorfilm
"Drag me to hell", ein schwacher "Hamlet" in London mit einem herausragenden
Jude Law und Bücher, darunter
Knut Hamsuns Roman "Pan" in einer neuen Übersetzung von Ingeborg und Aldo Keel (mehr in unserer
Bücherschau heute ab 14 Uhr).
FAZ, 10.06.2009
Der Schnell-, Vor- und
Allesdenker Peter Sloterdijk nimmt lange Anlauf und erzählt die Geschichte antikapitalistischer Theoriebildung von Rousseau an nach. Alles falsch, außerdem leben wir ohnehin nicht im Kapitalismus, sondern in einem "massenmedial animierten, steuerstaatlich zugreifenden
Semi-Sozialismus auf eigentumswirtschaftlicher Grundlage": "Voll ausgebaute Steuerstaaten reklamieren jedes Jahr die Hälfte aller Wirtschaftserfolge ihrer produktiven Schichten für den Fiskus, ohne dass die Betroffenen zu der plausibelsten Reaktion darauf, dem
antifiskalischen Bürgerkrieg, ihre Zuflucht nehmen. Dies ist ein politisches Dressurergebnis, das jeden Finanzminister des Absolutismus vor Neid hätte erblassen lassen." Weil das Ende der Geduld erreicht sein könnte, sieht Sloterdijk sieht am Horizont schon "
postdemokratische Konsequenzen", "deren Ausmalung man sich zur Stunde lieber erspart."
Weitere Artikel: Gar nicht verwunderlich findet es Klaus Harpprecht, dass die Deutschen angesichts der "
Europa-Fremdheit unserer sogenannten Meinungsführer" auch keinerlei Europa-Enthusiasmus an den Tag legen und stattdessen verstärkt wieder
unsinnigen Nationalmythen nachhängen. Knapp kommentiert Jürg Altwegg den Triumph des Grünen
Daniel Cohn-Bendit bei der Europawahl in Frankreich. Wolfgang Schneider hat die in diesem Jahr für den
Döblin-Preis (
Website) Nominierten Ausschnitte (
Hörproben) aus ihren noch nicht veröffentlichten Romanen lesen hören - gewonnen hat den Preis der mittfünfigzjährige Debütant
Eugen Ruge. In der Glosse
berichtet Oliver Jungen von der Pressekonferenz, bei der sich der diesjährige
Buchmessengast China von seiner softesten Seite zeigte. Christoph Schmälzle referiert eine Tagung, auf der Wissenschaftler über die mögliche Aufnahme "des
Bergparks Wilhelmshöhe in die Unesco-Welterbeliste" diskutierten. Richard Kämmerlings meldet, dass nun ein NSDAP-Mitgliedsausweis des
Schriftstellers Dieter Wellershoff, der sich nicht an einen Eintritt erinnern kann, gefunden wurde. Auf der Geisteswissenschaften-Seite fürchtet der
Philosoph Volker Gerhardt, dass der Siegeszug der
Open-Access-Kultur in den Wissenschaften über im einzelnen ausgeführte "Sinkstufen" nicht weniger als "den absehbaren Ruin unserer Schriftkultur" zur Folge haben wird.
Auf der DVD-Seite empfiehlt Bert Rebhandl dringend den
Shah-Rukh-Khan-Film "Rab Ne Bana Di Jodi" zur Ansicht. Außerdem besprochen werden
Ed Harris' Western "Appaloosa" und Amos Gitais "Trennung", seine als solche gar nicht ausgewiesene Verfilmung eines Teils von
Rober Musils "Mann ohne Eigenschaften".
Besprochen werden
Michael Thalheimers Inszenierung der "Entführung aus dem Serail" in Berlin (für Jan Brachmann "eine strenge, konsequente, durchaus kluge, darin aber auch
selbstverliebte" Angelegenheit), der Auftakt der
Depeche-Mode-Deutschland-Tournee in Leipzig, der erste Teil von
Steven Soderberghs "Che"-Film mit dem Untertitel "Revolucion", und Bücher, darunter
Eric-Emmanuel Schmitts neuer Roman "Als ich ein Kunstwerk war" (mehr dazu in der
Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).