Heute in den Feuilletons

Unerbittlich heißherzig

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.06.2009. Die SZ druckt den entsetzlichen Bericht der Soon Ok Lee über ihre Haft im nordkoreanischen Gulag. Feuert die Bosse!, ruft Naomi Klein in der FR. Die Jungle World beobachtet, wie sich Irans religiöse Machteliten gegenseitig zerfleischen. Wählt nicht Steinmeier!, ruft Thomas Strobl in der FAZ. Die NZZ lässt sich von der japanischen Abstiegsliteratur nicht deprimieren. Die Welt lernt beim Computerspielen: Nur wer die Regeln ignoriert, überlebt. Und alle trauern um Jürgen Gosch.

NZZ, 12.06.2009

Lisette Gebhardt hat Haruki Murakamis neuen Roman "1Q84" gelesen, mit dem er nach eigenem Bekunden der Nation in Zeiten der Krise beistehen will. Interessanter scheint ihr allerdings der Blick auf die aktuellen Strömungen der japanischen Abstiegs- und Verarmungsliteratur: "Darin wird ein Japan geschildert, das seine besten Jahre hinter sich hat und erschöpft ist von den Anstrengungen der wirtschaftlichen Aufholjagd in den Nachkriegsjahrzehnten. Die Versprechungen der Leistungsgesellschaft haben sich nicht für alle erfüllt. Statt im klimatisierten Büro den Computer zu bedienen, muss der Japaner nun wieder im Schweiße seines Angesichts körperliche Arbeit verrichten. Die Krise im Nacken, schuftet er wieder am Fließband in der Fabrik und wird erneut ausgebeutet."

Diesen Regisseur hätte das Theater noch lange gebraucht, seufzt Christoph Funke in seinem Nachruf auf Jürgen Gosch: "Dem Protest, dem Aufschrei, der wilden körperlichen Entfesselung ließ er Zartheit, Anmut, tiefe Verletzlichkeit folgen. Diesen Regisseur auf eine Formel bringen zu wollen, wäre töricht."

Weiteres: Andrea Köhler berichtet von dem Ärger, den sich Disney mit seinem ersten Film eingehandelt hat, der auf eine schwarze Hauptfigur setzt (und besonders bei BlackVoices auf Kritik stieß). Ein "sympathisch unterspieltes" Sommerfestival hat Andreas Klaeui in Bergen erlebt. Besprochen werden eine Aufführung von Verdis "Aida" in der Bayerischen Staatsoper München, der Comic "Affentheater" von Florent Ruppert und Jerome Mulot und die Fusionen des Andromeda Mega Express Orchestra.

Auf der Medienseite berichtet "msn" von einer international besetzten Diskussion zum Umgang der Medien mit dem Terror ("Von der früheren britischen Premierministerin Margaret Thatcher stammt die von den Ereignissen in Nordirland geprägte Aussage, dass Publizität der Sauerstoff für Terroristen sei.").

Aus den Blogs, 12.06.2009

(Via 3 quarks daily) Bani beschreibt auf iranian.com, wie die - meist jugendlichen - Anhänger Moussavis die Anhänger Ahmadinedschads lächerlich machen: "As the Moussavi supporters laugh, sing and cheer together, Ahmadinejad's followers stand transfixed and speechless, holding Iranian flags and photos of the current president kissing the Supreme Leader's hand, hoping to intimidate the reformist crowd with their grim appearance. They also use intimidation techniques like riding their motorbikes through the joyous crowd or making faces. Here and there, they are joined by older Bassijis (Islamic militia) who are dressed in plain clothes, or by agents of the secret service whose Iranian-made polyester suits and earpieces make them hard to miss. ... Representing the most traditional and conservative line of thought in the country, this pro-Ahmadinejad crowd has become completely frustrated and angry these last few nights."

Über Folgen eines von den Verlegern gefürchteten Leistungsschutzrechts denkt Matthias Schwenk auf Carta nach: "Damit nämlich kann es schon rechtlich bedenklich werden, auf bestimmte Medien bzw. deren Artikel auch nur zu verlinken, geschweige denn daraus zu zitieren. Die Verlage werden so aber nur einen Pyrrhussieg erringen: Ihre Inhalte werden gut geschützt sein, nur leider spricht kaum mehr jemand darüber."

Richard Wagner antwortet in der Achse des Guten auf Ilija Trojanow, der vorgestern in der taz aus Anlass des D-Day-Jahrestags die alliierte Kriegsführung problematisierte: "Dass Europa heute die Verfasstheit einer offenen Gesellschaft hat, ist primär der erfolgreichen Kriegsführung der Alliierten zu verdanken. Wer dieses Kriegsziel relativiert, stellt auch das Kriegsergebnis infrage, er strebt die Delegitimierung des Westens an. Damit aber wären wir wieder einmal beim Stellungskrieg der Gegenwart, in dem es um die Positionierung des Islam geht, für dessen Einfluss Trojanow seit Jahren wirbt."

Welt, 12.06.2009

Christian Schiffer freut sich über das Aufblühen einer neuen kreativen Independent-Szene von Computerspielen - "mitten in einer Zeit, da die großen Games-Konzerne fast nur Langeweile produzieren". The Path von Tale of Tales gefällt ihm besonders gut: "The Path bricht mit einigen Konventionen: Denn nur wer die Regeln ignoriert, die Straße verlässt und sich im Wald verläuft, trifft irgendwann auf den bösen Wolf und erlebt seine individuelle Horror-Geschichte. Klassische Computerspiele vermeiden stets, dass der Spieler planlos und verwirrt herumirrt - The Path erhebt das zum Prinzip."

Reinhard Wengierek trauert um den gestern verstorbenen Theaterregisseur Jürgen Gosch, der mit seiner Regiekunst ungeahnt weit gekommen sei: "Und zu der Erkenntnis, dass der gegenwärtige Untergang des Theaters offensichtlich gewaltig sei. 'Auch die Kollegen meiner Generation machen nur noch Schrott.' So sprach einer, dem nach schweren künstlerischen Einbrüchen und verbitterten Phasen der Sprachlosigkeit im siebten Lebensjahrzehnt die Gnade der so späten wie sagenhaften Kreativität geschah. Ihre altersweise ungebremste Kraft, ihre intelligente Stringenz stellte seine Kombattanten Stein, Bondy, Peymann, Karge oder Langhoff in den Schatten. Jürgen Gosch, dem eisigen Skeptiker, tief lotenden Menschenkenner und unerbittlich heißherzigen, keinen Schmerz scheuenden Wahrhaftigkeitssucher gelang mit jugendlich wilder Lust, mit Zartheit, grenzenloser Offenheit und entwaffnender Direktheit ein wundersam blühendes Spätwerk."

Weiteres: Sven Kellerhoff und Uwe Müller lassen sich vom Historiker Peter Horvath bestätigen, dass es sich bei 68 um eine inszenierte Revolte handelte: "Man muss eingestehen, dass man eher betrogener Betrüger als selbstbestimmtes Individuum war." Der Schweizer Schauspieler Bernhard Elias erinnert im Interview an seine Cousine Anne Frank, die heute achtzig Jahre alt geworden wäre. Manuel Brug hört Vivaldis "Orlando Furioso" in Basel. Und Hendrik Werner kündigt den zwanzigsten Bremer Tatort mit Sabine Postel an.

FR, 12.06.2009

Feuert die Bosse! ruft Naomi Klein Arbeitern und Angestellten zu und erklärt, wie man das macht. "Im Jahr 2004 drehten wir 'The Take - Die Übernahme', eine Dokumentation über Fabriken in Argentinien, bei denen die Arbeiterschaft die Leitung übernommen hatte. Nachdem das Land 2001 wirtschaftlich völlig zusammengebrochen war, gingen Tausende Arbeiter zurück in die verrammelten Fabrikgebäude, organisierten sich in Genossenschaften und nahmen die Produktion eigenhändig wieder auf. Ohne Unterstützung von ihren Bossen oder Politikern schafften sie es, sich die ausstehenden Löhne sowie Abfindungssummen auszuzahlen und sicherten sich auch ihre Jobs wieder. Als wir den Film in Europa und den USA zeigten, kam immer wieder der Einwand: 'So mag es ja in Argentinien sein, aber die Frage ist doch, ob es hier genauso laufen würde.'" Klein listet als Antwort eine ganze Reihe von Beispielen in Europa und Nordamerika auf, wo es genauso lief.

Weitere Artikel: Judith von Sternburg hörte die erste Frankfurter Poetik-Vorlesung von Uwe Timm. Eher unzufrieden kam Arno Widmann aus einer von der Böll-Stiftung organisierten Veranstaltung über die Aberkennung des Hessischen Kulturpreises für Navid Kermani: "Schade war freilich, dass das Thema der Trennung von Staat und Kirche kaum thematisiert wurde." In Times Mager möchte Ina Hartwig wissen, warum der - damals 18-jährige - Schriftsteller Dieter Wellershoff noch kurz vor Kriegsende in die NSDAP eingetreten ist. Peter Michalzik schreibt zum Tod des Theatermachers Jürgen Gosch.

Auf der Medienseite stellt Michael G. Meyer David Cohns Webseite Spot.Us vor: "Dort könnten freie Journalisten und Reporter im Großraum San Francisco ihre Story-Ideen präsentieren - und um Geld für die jeweilige Recherche bitten: Wenn genügend Geld von Lesern gespendet wurde, ziehen die Reporter los und recherchieren die jeweilige Geschichte, die meist langfristig angelegt und auf die Region San Francisco beschränkt ist. Die jeweilige Spenden-Summe hängt von Umfang und Aufwand ab - mal sind 200 Dollar nötig, bei größeren Texten auch mal 1500 Dollar. Im Schnitt eine Geschichte pro Woche ist so bereits entstanden."

Besprochen werden ein Konzert von Morrissey in Offenbach und Johannes Groschupfs Roman "Hinterhofhelden" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 12.06.2009

Thomas Winkler porträtiert den amerikanischen Rocksänger Mark Oliver Everett und stellt dessen neues Konzeptalbum "Hombre Lobo" vor. "Ungeheure Sorgfalt und Zartheit" bescheinigt Eva Behrend in ihrem Nachruf dem verstorbenen Theaterregisseur Jürgen Gosch. Besprochen werden ein Konzert von Depeche Mode im Berliner Olympiastadion und das Debütalbum "You are home" des Elektropop-Duos Mittekill.

Und Tom.
Stichwörter: Depeche Mode, Olympiastadion

Jungle World, 12.06.2009

Andreas Benl und Kazem Moussavi sehen in der iranischen Wahlkampf-Inszenierung vor allem eine Auseinandersetzung innerhalb der religiösen Elite: "Die säkulare Opposition setzt vor diesem Hintergrund auf keinen der vier Kandidaten und ruft zum Boykott der Wahlen auf. Streiks und Pro­teste sind alltäglich, obwohl die Protestierenden wissen, dass diese sie ihr Leben kosten können. An mehreren Universitäten empfingen die Studenten Moussavi mit Fragen zu seiner Rolle bei den Massakern an Regimegegnern in den achtziger Jahren: 'Wo waren Sie 1988, und wie viele Menschen haben Sie ermordet?' Die Hoffnungen der Regimegegner sind groß, denn das iranische Regime scheint heute innenpolitisch extrem instabil. Der Druck aus dem Aus­land nimmt dagegen ab. Allen voran deutsche Akteure versuchen das Zeitfenster zu nutzen, das die neue US-Regierung durch ihre Avancen an das iranische Regime geöffnet hat."

Und Jörn Schulz bedauert, dass Barack Obama in seiner Kairoer Rede vor allem die Herrschenden der muslimischen Welt angesprochen hat: "Eine große Koalition von Staatsklerikern, muslimischen Politikern und Islamisten hat es fertiggebracht, den Eindruck zu erwecken, es gäbe eine 'islamische Welt', einen ideellen Gesamtmuslim, der ein Problem mit den USA und dem Westen hat, weil diese dem Islam zu wenig Respekt entgegenbringen. Im Westen wird dieses Klischee von reaktionären Sozialromantikern der Linken wie der Rechten propagiert, vor allem aber von bürgerlichen Politikern, die den Islam als Ord­nungs­faktor einsetzen wollen."

Und nach Lektüre von Tariq Ramadans Buch "Radikale Reform" urteilt Jörg Sundermeier recht eindeutig über Ramadan: "Er versucht nicht, den Islam mit der Moderne zu versöhnen, sondern die Moderne mit dem Islam zu elimieren."

FAZ, 12.06.2009

Ehrlich empört zeigt sich FAZ-Blogger Thomas Strobl ob der jüngsten Anwürfe Frank-Walter Steinmeiers gegen Wirtschaftsminister zu Guttenberg angesichts der Opel-Nicht- und Arcandor-Doch-Insolvenz: "Steinmeier gefällt sich in der Rolle des politischen Amokläufers, münzt aus einer bitteren, aber nichtsdestoweniger nachvollziehbaren Entscheidung des Bundeswirtschaftsministers eine persönliche Ehrabschneidung allerschlimmster Sorte. ... Steinmeier ist damit unwählbar geworden: Wer anfängt nachzutreten, nur weil es nicht nach seinen populistischen Interessen geht, der sollte nicht Bundeskanzler werden. Deutschland hat Besseres verdient."

Weitere Artikel: Dieter Bartetzko ist ebenfalls empört, und zwar über "die einzigartige, seit Jahrzehnten [in Frankfurt] herrschende Ignoranz und Blindheit im Umgang mit historischer Architektur". In der Glosse hat Werner Spies endgültig genug davon, dass sich die geladenen Biennale-Künstler immer wieder am deutschen Pavillon abarbeiten. Joseph Croitoru berichtet über Wissenschaftler, die der Bespitzelung rumäniendeutscher Intellektueller durch die Securitate nachforschen und nun einen ersten Bericht über die Überwachung von Paul Schuster vorlegen. Regina Mönch weist auf das nun im Internet verfügbare Kunstraubarchiv hin. Gerhard Stadelmaier schreibt zum Tod des Theaterregisseurs Jürgen Gosch.

Auf der Medienseite meldet Jürg Altwegg sehr knapp, dass das französische Internet-Sperrgesetz Hadopi - dem er, wenn wir uns recht erinnern, alles andere als ablehnend gegenüberstand - vom Verfassungsgericht in wesentlichen Punkten als nicht verfassungsgemäß beurteilt wurde.

Besprochen werden die Edward-Hopper-Ausstellung "Modern Life" im Bucerius Kunst Forum Hamburg, Sam Raimis Horrorfilm "Drag Me to Hell" und Bücher, darunter Rudolf Kreis' Autobiografie "Die Toten sind immer die anderen" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 12.06.2009

Christine Dössel trauert um den Theaterregisseur Jürgen Gosch: "Jürgen Gosch war ein Regisseur, der wie kein anderer die Menschenseele in all ihrer Komplexität und Abgründigkeit auszuloten wusste, mit einer gnadenlosen, sezierenden, illusionslosen Genauigkeit, die seine Inszenierungen wie unter einem Mikroskop erscheinen ließen: Immer sah man da den Menschen, dieses merkwürdige, armselige Wesen mit all seinen Schönheiten und Deformationen, in übergroßer Klarheit und Deutlichkeit vor sich, so ungekünstelt und wahr, wie es im Theater selten der Fall ist; sah, wie diese Menschen um ihre Existenz und ein kleines bisschen Glück ringen, wie sie hoffen, lieben und scheitern, stellvertretend für uns alle, uns so verdammt nahe kamen."

In übersetzten Auszügen wird ein Bericht der aus einem nordkoreanischen Gulag geflohenen Soon Ok Lee abgedruckt - um zu veranschaulichen, welches Grauen die verurteilten amerikanischen Journalistinnen erwartet: "Ein Gefangener an diesem Ort darf weder reden noch lachen, er darf nicht singen und er darf nicht in den Spiegel sehen. Wenn sie von einem Wärter aufgerufen werden, müssen sich die Gefangenen auf den Boden knien und den Kopf tief gesenkt halten. Sie dürfen nichts sagen, nur auf Fragen antworten. Die Babys internierter Frauen werden sofort nach der Geburt getötet. Die Gefangenen müssen 18 Stunden täglich Sklavenarbeiten verrichten. Wer mehr als einmal sein Arbeitspensum nicht schafft, kommt für eine Woche in die Strafzelle."

Weiteres: Volker Breidecker freut sich, dass die Buchmesse den Bund fürs Weiterleben mit Frankfurt eingegangen ist. Hans-Peter Kunisch hat einen Vortrag des algerischen Ex-Ministers und Autors Boualem Sansal gehört, dessen jüngster Roman "Das Dorf des Deutschen" soeben in Übersetzung erschienen ist. Gottfried Knapp meldet, dass die Entscheidung über den Bau des Bonner Festspielhauses vertagt wurde.

Besprochen werden Harry Kupfers Inszenierung von Hans Pfitzners "Palestrina"-Oper in Frankfurt, die Inszenierung "(A)pollonia" des Nowy Teatr Warschau, ein Bühnen-Auftritt der Kunst unter dem Titel "Il Tempo del Postino" bei der Art Basel und Bücher, darunter Jiro Taniguchis Manga "Der spazierende Mann" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).