Heute in den Feuilletons

Sie hat sie einfach abgehängt

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.07.2009. In der NZZ erklärt der Historiker Oliver Jens Schmitt Identitätsbildung auf dem Balkan. Die Welt besichtigt das künftige Humboldt-Forum. In der FAZ erklärt uns Ex-ARD-Chefredakteur Hartmann von der Tann, was einen öffentlich-rechtlichen Journalisten heute nur noch selten auszeichnet. Aufmacher ist in fast allen Zeitungen Sacha Baron Cohens Film "Brüno".

Welt, 08.07.2009

Heute eröffnet in Berlin eine Ausstellung, die erstmals einen Ausblick auf das Projekt Humboldt-Forum. Eckhard Fuhr ist begeistert von diesem Ort, "an dem sich die Kulturen der Welt ohne Hierarchien begegnen, ein Theater des Wissens, eine Stätte des Spektakels, des Lernens, der Kontemplation und des Genusses": "Es hat sich im Projekt Schloss/Humboldtforum, wenn man so will, etwas Reaktionäres mit etwas Revolutionärem verbunden. Das sind die besten Momente der Geschichte. Und dieser Geschichte rennen sowohl die Anhänger der 'zeitgenössischen Architektur' als auch die Preußen-Nostalgiker hinterher. Sie hat sie einfach abgehängt."

Berlins früherer Kultursenator Thomas Flierl erklärt im Interview, warum er sich bei den Planungen für das Humboldt-Forum ins Zeug legt, wo er den Wiederaufbau des Schlosses doch immer abgelehnt hat.

Jenni Roth berichtet von Finnlands größtem Tango-Festival in Seinäjoki: "Als Sheriffs verkleidete Profi-Tänzer geben den Takt vor: 'Yksi, kaksi, kolme, neljä'. Manche Paare kommen spontan in Jogginganzügen dazu, andere tragen Cowboyhüte, Shorts, gestreifte Kniestrümpfe oder Birkenstock-Sandalen - eine Kleiderordnung gibt es nicht."

Weiteres: In der Randglosse widmet sich Hendrik Werner dem Projekt des Germanisten Giesbert Damaschke, der in seinem Blog den Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller in entschleunigter Echtzeit veröffentlicht. Rainer Haubrich begutachtet die Arbeiten am deutschen Pavillon für die Expo 2010 in Shanghai. Manuel Brug meldet den Intendantenwechsel an der Stuttgarter Oper. Besprochen werden Nikolaus Harnoncourts Aufführung von Gershwins "Porgy und Bess" in Graz und Sacha Baron Cohens Komödie "Brüno".

FR, 08.07.2009

Gabriele Renz berichtet über die unerfreulichen Einzelheiten der Demontage des Stuttgarter Opernintendanten Albrecht Puhlmann durch Wissenschaftsminister Peter Frankenberg und Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster. Nachdem Puhlmann auf einer Sitzung des Verwaltungsrats abgefertigt worden war, durfte sich Georg Quander, zurzeit Dezernent für Kunst und Kultur in Köln, als Nachfolger Puhlmanns präsentieren: "Allzu viel schien dem Wissenschaftsministerium zu seinem Befriedungskandidaten noch nicht eingefallen zu sein: Als Tischvorlage wurden Kopien von dessen Wikipedia-Eintrag verteilt."

Weitere Artikel: Hans-Klaus Jungheinrich besuchte das Festival in Aix-en-Provence. Von Fremdberührungen in der U-Bahn erzählt Harry Nutt in Times mager.

Besprochen werden Sacha Baron Cohens Film "Brüno", die Le-Corbusier-Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau und der letzte Band von Hansers Sozialgeschichte (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 08.07.2009

"Messy and strange" waren die Michael-Jackson-Gedenkfeierlichkeiten gestern Abend, meint Gawkers Richard Lawson und präsentiert praktischerweise schon mal die zehn seltsamsten Videomomente. Zum Beispiel: "A crazy congresslady from Texas wandered up on stage and said that she wished she was a Jackson and that Michael was totally innocent of all those creepy charges."

NZZ, 08.07.2009

Andreas Ernst unterhält sich mit dem Südosteuropa-Historiker Oliver Jens Schmitt über Identitätsbildung auf dem Balkan und die Notwendigkeit des Dialogs zwischen West und Südost: "Die Geschichtsbilder im Balkan sind oft nationalromantisch geprägt, wurden durch den Kommunismus gehärtet und stellen auf gesellschaftlicher Ebene ein Hindernis für die Integration dieser Länder in die EU dar. Dagegen gibt es kritische Stimmen, oft von jüngeren Forschern. Wenn wir diese aus dem Westen zu offensichtlich unterstützen, ist das aber kontraproduktiv. Sie werden als 'außengesteuert' oder als 'Verräter' abqualifiziert. Wir müssen den Dialog mit diesen Historikern führen. Aber letztlich werden die neuen Geschichtsbilder aus den Gesellschaften selber kommen. Dieser Prozess ist in Nachkriegsgesellschaften wie Kosovo besonders zäh, in denen der Nationalismus als Überlebensstrategie erlebt wurde."

Marc Zitzmann besichtigt das Brüsseler Magritte-Museum, das nun auch eine neuen Außenfassade hat. Besprochen werden die Münchner "Lohengrin"-Inszenierung (besonders Anja Harteros' nuancenreiches, dunkles Timbre hat Marco Frei gefallen), Christian Meiers griechische Geschichte "Kultur um der Freiheit willen", Pietro de Marchis Gedichtband "Der Schwan und die Schaukel" und Junot Diaz' Roman "Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

TAZ, 08.07.2009

Carsten Zorn trägt die globale Popkultur zu Grabe: "Mit dem Verschwinden der globalen Popstars dürfte auch die globale Sichtbarkeit der popkulturellen Utopien und Ideale schwinden. Und das ausgerechnet in Zeiten eines neoliberalen Alltags, eines neoliberalen Kulturbetriebs, einer neoliberalen "Kulturwirtschaft" und "digitalen Boheme", in denen sie als Gegengewicht mehr denn je gebraucht würden."

Besprochen werden Sacha Baron Cohens Film "Brüno" (den Jan Kedves rückhaltlos feiert: "ein grandioser Film, der beste Beitrag zum Genre der Ablachkomödie, den man in diesem Jahr zu sehen bekommen wird"), die Le-Corbusier-Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau und die Ausstellung von Jeff Koons' "Popeye Series" in der Londoner Serpentine Gallery.

In taz zwei schildert Karim El-Gawhari die Reaktionen in Ägypten auf den Mord an einer schwangeren Ägypterin im Dresdener Landgericht durch einen Russlanddeutschen.

Und Tom.

SZ, 08.07.2009

Reinhard J. Brembeck zählt Unstimmigkeiten zwischen Christian Thielemann und den Münchner Philharmonikern auf, die der Vertragsverlängerung des Dirigenten im Wege stehen könnten und hält kühl fest: "Andererseits wäre es zwar bedauerlich, aber durchaus keine Katastrophe, wenn Thielemann ginge." Petra Steinberger berichtet über einen Streit zwischen Chris Anderson und Malcolm Gladwell über Andersons Buch "Free: The Future of a Radical Price" zu neuen Internetökonomie (den besten Kommentar dazu lieferte Ryan Tate bei Gawker). Der Architekt Matthias Sauerbruch versucht im Interview eine Definition des Begriffs "Nachhaltigkeit". Wolfgang Schreiber hörte zu, als sich die Liederwerkstatt in Bad Kissingen mit Eduard Mörike und den Vertonungen seiner Gedichte beschäftigte. Die Amerikaner entdecken gerade den Buchautor Werner Herzog, dessen Tagebuch beim Dreh von Fitzcarraldo - "Die Eroberung des Nutzlosen" - gerade auf Englisch erschienen ist.

Besprochen werden - im Aufmacher - Sacha Baron Cohens Film "Brüno" (bei dem sich Tobias Kniebe eher gelangweilt hat), eine Ausstellung zu Leben und Werk des Komponisten Hanns Eisler im Wiener Jüdischen Museum, zwei Ausstellungen zum Werk der Fotografen Gerda Taro und Robert Capa im Museu Nacional D"Art de Catalunya in Barcelona, einige CDs und Bücher, darunter Guy Delisles Comicband "Aufzeichnungen aus Birma" und Roger Moores Autobiografie (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 08.07.2009

Nun wirft sich der Ex-ARD-Chefredakteur Hartmann von der Tann für den ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender - und das heißt gegen Roland Koch, der ihn absägen will - in die Bresche. Das Problem beim Streit um Brender, so von der Tann, liegt leider gerade darin, dass dieser alle für einen Journalisten wünschenswerten Eigenschaften besitzt: "Es geht nicht um die Amtsführung. Es geht um die Person Nikolaus Brender. Der lässt sich keiner Partei zu- und erst recht nicht in eine einordnen. Er geht zu keiner Sitzung der politischen 'Freundeskreise', wo 'rote' oder 'schwarze' Gremienmitglieder mit Journalisten kungeln - ein Unikum. Er hat sich von Anfang an der Kumpanei zwischen Journalisten und Politikern, dem Spiel der 'kleinen Gefälligkeiten' widersetzt.... Er sei 'unberechenbar', heißt es über ihn seitens der Politik, anders und positiv formuliert: unabhängig. Das sollte zum Besten gehören, was man über einen leitenden Journalisten sagen kann." (Wir dachten eigentlich, das wäre die Mindestvoraussetzung.)

Weitere Artikel: Jan Brachmann kann vermelden, dass die Streitparteien um Tarifregelungen für Bayreuth sich jetzt "zusammentelefoniert" haben. In der Glosse findet Edo Reents dann doch, dass Wirtschaftsminister zu Guttenbergs Äußerung, er habe Platons "Staat" im griechischen Original gelesen, um "den Kopf freizukriegen", etwas "obszön Angeberisches" hat. Auf der DVD-Seite werden zwei Filme des deutschen Regisseurs Werner Schroeter und die Spielfilme des als Fotografen berühmteren William Klein empfohlen.

Besprochen werden Friederike Hellers Stuttgarter Inszenierung von Botho Strauss' "Trilogie des Wiedersehens", die Candida-Höfer-Retrospektive "Projects: Done" in Leverkusen, die Konzeptausstellung für das Humboldt-Forum im Alten Museum (Andreas Kilb kann nichts wirklich Schlüssiges darin erkennen), Claude Chabrols jüngster Film "Kommissar Bellamy" und Bücher, darunter Gunnar Deckers Biografie des Schriftstellers "Franz Fühmann" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).