Heute in den Feuilletons

Bedenkliche Expansionen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.07.2009. Spiegel Online staunt: Twitter gibt der Masse ein Gesicht und nimmt ihr den Kopf. Die Welt findet Daniel Kehlmanns Kritik am Regietheater im Prinzip richtig, findet aber, dass man über Tote nicht schlecht reden sollte. Die taz findet Krautrock ganz schön modern. Die SZ schaute den Gott des indischen Kinos. Stefan Niggemeier erzählt, wie ein raubkopiertes Stück Musik der beraubten Band sehr nützte. Alle trauern um Merce Cunningham.

FR, 28.07.2009

Sylvia Staude schreibt zum Tod des Choreografen Merce Cunningham, der den Tanz von der Musik befreien wollte: "Mit seinem Lebenspartner John Cage setzte er dies konsequent um: Cunningham choreografierte, Cage komponierte, in der Aufführung warf man beides zusammen, und wenn beide Künste mal für Momente Hand in Hand gingen, so war das Zufall. Ein weiterer Cunningham-Liebling, den er immer und immer wieder in seine Stücke bat. Cunninghams Schlachtruf - und auf seine Art war er radikaler als die jüngere Pina Bausch - lautete: Leinen los! Autonomie für den reinen Tanz."

Weiteres: Abgedruckt wird heute Daniel Kehlmanns Tirade gegen das Regietheater (über die sich Peter Michalzik gestern schon sehr aufgeregt hat). Derselbe Michalzik verabschiedet heute den Münchner Kammerspiel-Intendanten und Granden des Regietheaters Frank Baumbauer. Oliver Herwig stellt erschüttert fest, dass Milch zum Wirtschaftsgut degradiert worden ist, allerdings kein systemrelevantes. Und in Times mager besucht Arno Widmann seine kranke Mutter, die ihn inzwischen für ein hübsches Kind mit roten Haaren hält.

Spiegel Online, 28.07.2009

Twitter und Handys verändern das Verhalten der Masse, schreibt Anjana Shrivastava unter Berufung auf Elias Canettis "Masse und Macht": "Aber wenn die neue Masse aus Tausenden individuellen Gesichtern gebildet wird, so erscheint sie insgesamt auf seltsame Weise kopflos. Denn die neue Masse kann sich dank interaktiver Technologie zusammenfinden, ohne dass charismatische Führer als Zugpferde nötig sind."
Stichwörter: Twitter, Canetti, Elias

Welt, 28.07.2009

Tilman Krause stimmt Daniel Kehlmanns Salzburger Rede gegen das Regietheater zwar in allen Punkten zu, kann die Kritik aber eigentlich schon gar nicht mehr erheblich finden: Denn "Theater ist kein Muss mehr. Kein vernünftiger Mensch wird noch von ihm ein Bildungserlebnis in jenem emphatischen Sinn verlangen, das einst von den magischen Inszenierungen eines Peter Stein und Peter Brook, einer Andrea Breth oder einer Ariane Mnouchkine ausging. Theater ist gesunkenes Kulturgut, von unserer Überflussgesellschaft verwaltet, nicht gestaltet. Es hat seine Zeit gehabt."

Weitere Artikel: Ulrich Clauß liest erbitterte Internetkommentare zum neuen 30 Millionen Euro teuren "Heute"-Studio des ZDF. Lucas Wiegelmann stellt das neue Internetangebot von Pons vor, das dem Duden Konkurrenz machen soll. Eckhard Fuhr ist nicht zufrieden mit den Umbesetzungen in Katharina Wagners Bayreuther "Meistersinger"-inszenierung. Cosima Lutz porträtiert den jungen iranischstämmigen Schauspieler Navid Akhavan. Kai Luehrs-Kaiser schreibt zum Tod des Schauspielers Traugott Buhre.

Besprochen wird das Berliner Britney-Spears-Konzert.

TAZ, 28.07.2009

Krautrock ist wieder angesagt, schreibt Tim Caspar Boehme in einem informationsreichen Überblicksartikel: Die Welt ist voll von Hommagen an Gruppen wie Neu! (Video) und Cluster (Video). "Die Londoner Band Chrome Hoof (Video) war von einem gemeinsamen Konzert mit Cluster so begeistert, dass sie sich für ihr nächstes Album gleich Samples ihrer Helden geben ließ. 'Die finden uns immer noch ganz schön modern', freut sich Dieter Moebius. Dass mit ihm weiterhin zu rechnen ist, belegt sein aktuelles Soloalbum 'Kram'. Bei aller Elektronik klingt er organisch, humorvoll und wie nichts anderes auf der Welt."

Weitere Artikel: Hortense Pisano porträtiert den bulgarischen Künstler Nedko Solakov, der gerade in Darmstadt ausgestellt wird. Laura Ewert bespricht das Berliner Konzert von Britney Spears. Tilman Baumgärtel schreibt den Nachruf auf die malaysische Regisseurin Yasmin Ahmad, die im Alter von nur 51 Jahren gestorben ist (hierzu auch Ekkehard Knörer im Cargo-Blog). Und Ulrich Rüdenauer erinnert an Bob Dylans Motorradunfall auf den Tag genau vor 43 Jahren. In tazzwei feiert Thomas Winkler ein weiteres Jubiläum: Seit 25 Jahren steht die Mockumentary-Band Spinal Tap auf der Bühne (oder waren es 250 Jahre?)

Und Tom.

NZZ, 28.07.2009

Ein bisschen schade findet Peter Hagmann, dass er in der Salzburger "Theodora" so wenig von Christine Schäfer und den anderen Sängern hören konnte; auch sonst, meint er, ging Christoph Loys Inszenierung nicht ganz auf. Lilo Weber schreibt zum Tod des amerikanischen Tänzers und Choreografen Merce Cunningham. Urs Hafner berichtet vom Symposion zum Abschied des emerierten Soziologen Ulrich Beck. Roman Bucheli gratuliert dem Schweizer Schriftsteller und Buchdrucker Beat Brechbühl zum Siebzigsten.

Besprochen werden Monika Marons "ergreifend nüchterner" Bericht "Bitterfelder Bogen", neue Lyrikbände und zwei Neuerscheinungen zum Komponisten Erich Wolfgang Korngold (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Perlentaucher, 28.07.2009

Timothy Garton Ash zieht den Begriff des "Fundamentalismus der Aufklärung", den er in einer denkwürdigen Debatte auf Ayaan Hirsi Ali münzte, zurück. Und prompt kommt der britische Philosph John Gray und führt ihn in seiner Besprechung von Garton Ashs wieder ein: "Welchen Begriff der Aufklärung muss man eigentlich haben, um glauben zu können, dass sie zu Fundamentalismus fähig sei?", fragt Thierry Chervel im Perlentaucher.

Aus den Blogs, 28.07.2009

Stefan Niggemeier erzählt die sehr hübsche Geschichte, wie ein junger Filmemacher unerlaubter Weise sein mittlerweile populäres Internetvideo mit einem zwei Jahre alten Musikstück der Band "Barcelona" unterlegt, was dieser wiederum sehr nützte: "Viele Menschen, denen das Stück gefiel (und die es sich jederzeit bei YouTube kostenlos anhören oder sogar runterladen könnten), kauften sich bei iTunes den Track. Und das Album stieg, obwohl es schon fast zwei Jahre alt ist, plötzlich in die Rock-Charts des amerikanischen iTunes-Stores; gestern zum Beispiel war es auf Platz 53." Die Band hat sich dann beim Videomacher bedankt!

Ekkehard Knörer hat für das Cargo-Blog zwei Merce-Cunningham-Videos aufgestöbert.

Nach einem gescheiterten Gesetzentwurf hat die kanadische Regierung zu einer originellen Maßnahme gegriffen - sie lässt ihr Volk diskutieren, berichtet Nate Anderson in Ars Technica: "The government has launched a 'Copyright Consultation' website to provide a public forum for debating copyright issues. It is also holding a set of town hall meetings on the subject (those who can't attend can at least watch a live stream of two of them). The consultation wraps up on September 13, and the government hopes to move quickly after that."

SZ, 28.07.2009

Alex Rühle reist nach Indien, um Aamir Khan zu besuchen, "den Mann, der das Method-Acting nach Indien brachte. Der mit 'Ghajini' erst gerade wieder alle Kassenrekorde gebrochen hat. Der die Produktionsweise der indischen Filmindustrie verändert hat wie keiner vor ihm. Dessen Filme in einigen Bundesstaaten verboten wurden, weil er die Regierung so scharf angreift. Und der dann um fünf, als wir endlich ankommen, zeigt, was es wirklich bedeutet, umwerfend auszusehen: Als der Fahrer, noch immer nichtsahnend, die Einfahrt runterrollt, aussteigt und plötzlich Aamir Kahn in Flipflops und Bermudashort gegenübersteht, knickt er in den Knien ein, muss sich an der Autotür festhalten und gibt ein Fiepen von sich. Er schaut konsterniert von seinem Fahrgast zum Gott des indischen Kinos, zieht sich dann in den Wagen zurück wie ein verschrecktes Tier und rollt zu den Garagen."

Weitere Artikel: Burkhard Müller bringt dem entwickelten Provinzialismus deutscher Prägung ein Ständchen. Andreas Zielcke liest Robert D. Kaplans Artikel "The Revenge of Geography" in Foreign Policy: Kaplan blickt auf die Kriege im Irak und in Afghanistan zurück, die er beide unterstützt hat, und bekennt, sie hätten ihn "Realismus" gelehrt. Andrian Kreye berichtet über die TED-Konferenzen in Oxford (mehr in seinem neuen Blog "Der Feuilletonist"). Deutschland und Russland wollen ein Lehrbuch für den Geschichtsunterricht entwickeln, das die europäische Geschichte aus beiden Perspektiven betrachtet, berichtet Oliver Bilger. (Die armen Polen!) Lothar Müller schreibt zum siebzigsten Geburtstag des Schweizer Autors Beat Brechbühl. Eva-Elisabeth Fischer schreibt zum Tod des Choreografen Merce Cunningham. Christine Dössel schreibt zum Tod des Charakterschauspielers Traugott Buhre.

Eine Meldung informiert uns über die Antwort des Pressesprechers der EU-Kommission für Energie auf einen das Glühbirnenverbot kritisierenden Artikel in der SZ: "Zu verlangen, die Kommission sollte um der Kunst willen Produkte auf dem Markt belassen, die gefährlich für Umwelt, Gesundheit oder den Verbraucher sein könnten, ist schlichtweg aberwitzig." (Glühbirnen sind gefährlich? Das ist die Begründung?)

Auf der Medienseite berichtet Klaus Brill über den Überlebenskampf der Zeitungen für die deutschsprachigen Minderheiten in Osteuropa.

Besprochen werden die Aufführung von Karol Szymanowskis "König Roger" bei den Bregenzer Festspielen ("Was für eine großartige Musik!", ruft Egbert Tholl) und Bücher, darunter die bisher nur auf Englisch erschienene Reportage des Wirtschaftsreporters der New York Times, Edmund L. Andrews, über den Immobilienmarkt: "Busted".

FAZ, 28.07.2009

Zwar würdigt Milos Vec in seinen Überlegungen zum Einsatz des Strafrechts gegen Finanzmarktübeltäter ausführlich die Argumente des Linken-Politikers Wolfgang Nescovic, der hier für Schärfe plädiert. In seinem Resümee jedoch kommt Vec zum Ergebnis, dass das Strafrecht, das sich gegen Einzelpersonen wendet, doch das falsche Instrument wäre: "Einen umfassenden Schutz für Schieflagen des Wirtschaftslebens hat es nie angestrebt und kann es zumal in marktwirtschaftlichen Verhältnissen nicht leisten - auch nicht annähernd. Als Mittel des Systemschutzes kann es nur äußerste Grenzen markieren. Um das Gemenge der Verantwortungen zu lichten und zu strukturieren, ist gesellschaftliche Selbstorganisation gefordert, die durch Recht staatlich überbaut ist, aber nicht in erster Linie durch das Strafrecht, in dessen Natur der Hang zu bedenklichen Expansionen liegt."

Miriam Meckel und Katarina Stanoevska-Slabeva analysieren den Microblogging-Dienst Twitter und stellen fest: "Mit seiner globalen News- und Multiplikatorfunktion bei den Protesten und Unruhen in Iran hat sich Twitter von seinem Image als Plattform für unsinniges Alltagsgezwitscher emanzipiert. Vielmehr lässt sich über Twitter sekündlich ein Update des 'global digital state of mind' ermitteln. Twitter ist ein digitaler Spiegel der Aktualitätsverläufe im Web"

Weitere Artikel: In der Glosse kann Andreas Kilb nur den Kopf schütteln, dass das neue Akropolis-Museum schon zur ersten "großen Geschichtslüge" greift: Aus einem Lehrfilm wurde eine von Star-Regisseur Costa-Gavras gedrehte Sequenz zur Teil-Zerstörung des Heiligtums durch die christlich-orthodoxe Kirche nach deren Protesten wieder getilgt. Der Historiker Michael F. Feldkamp macht sich Gedanken zum genauen Gründungsdatum der Bundesrepublik. Vom Stockholmer Jazz-Festival, das in diesem Jahr auf die Ukulele kam, berichtet Peter Kemper. Andreas Platthaus porträtiert Flix, dessen neuer Comic ab heute in der FAZ abgedruckt wird. Andreas Platthaus meldet auch die Wiederentdeckung eines seit 162 Jahren übermalten Engelsgesichts in Istanbul. Und er schreibt zum Tod des Theaterschauspielers Traugott Buhre.

Besprochen werden ein Salzburger Konzert, bei dem die Wiener Philharmoniker unter Nikolaus Harnoncourt Schuberts C-Dur-Sinfonie spielten, die Bayreuther Wiederaufnahme von Katharina Wagners "Meistersinger"-Inszenierung (die Julia Spinola immer noch "plan und plump" findet, und die vom Publikum, schreibt sie, mit heftigen Buhs quittiert wurde), klangtechnisch verblüffende CDs mit Einspielungen des Pianisten Geza Anda und Luis Leantes Roman "Liebst du mich?" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).