Heute in den Feuilletons

Text-Ragout

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.07.2009. Chinesen inszenieren sich durchaus gern als Individuen, erzählen in der taz die Porträtfotografen Mathias Braschler und Monika Fischer. Die Welt federt und schwebt mit Judith in Salzburg. Die amerikanischen Blogs staunen über den Kampf der Giganten: Apple verbietet Google App für Iphone. Der NZZ graut vor einem niederländischen Ministerpräsidenten Geert Wilders. Die Berliner Zeitung solidarisiert sich mit der freien Theaterszene in Berlin.

Welt, 29.07.2009

Regietheater vom Feinsten - mit kleinen Einschränkungen - sah Ulrich Weinzierl in Salzburg bei Sebastian Nüblings umständlich betiteltem Projekt "Antonio Vivaldi / Friedrich Hebbel: 'Judith. Musik/Theater mit Kompositionen von Lars Wittershagen und Texten von Anne Tismer und aus dem Buch Judit'": "Das federt, das schwebt, das reißt mit und verzaubert. Solch musikalisches Crossover, hübsch auch der Bibel-Barock-Rap eines Miniaturchors mit Worten aus dem apokryphen 'Buch Judit', stört nicht im Geringsten, im Gegenteil. Heikler wird es beim Text-Ragout, der Mischung aus Hebbel und emanzipatorischem Sexualgeplapper a la Rene Pollesch. 'Kevin' (wie könnte er sonst heißen?) 'hat mir seinen Schwanz in den Mund gesteckt', beklagt sich die famose Anne Tismer als heutige Judith-Figur. Sie ist bestenfalls bedingt zu bedauern, schließlich stammt der Satz wie auch Ergreifendes zum Thema Globalisierung und Ausbeutung von Natur und Mensch aus ihrer Feder."

Weiteres: Dankwart Guratzsch feiert den von Christoph Mäckler gebauten Opernturm in Frankfurt für seine städtebauliche Einfügung und Fassadengestaltung ("portugiesischer Kalkstein in hellgelb-beiger Tönung"). Hendrik Werner freut sich über ein "Finanzmarktwörterbuch" des Duden. Jochen Schmidt schreibt zum Tod des Choreografen Merce Cunningham. Hendrik Werner besucht das Museum "Kunst der Westküste", das am Freitag auf der nordfriesischen Insel Föhr eröffnet. Berthold Seewald und Sven Felix Kellerhoff wünschen sich ein schnelles Okay des Bayerischen Finanzministeriums für eine historisch-kritische Ausgabe von Hitlers "Mein Kampf". Besprochen wird ein Konzert der isländischen Musikerin Emiliana Torrini Davidsdottir in Jena.

Aus den Blogs, 29.07.2009

Es betrifft uns in Europa zwar noch nicht: Jason Kincaid berichtet für Techcrunch über einen erbitterten Clinch zwischen Google und Apple: "We?ve learned that Apple has blocked Google?s official Google Voice application itself from the App Store. In other words, Google Voice - one of the best things to happen to telephony services in a very long time - will have no presence at all on the App Store. If there?s ever been a time to be furious with Apple, now is it."

Stan Schroeder kommentiert in Mashable zum selben Thema: "this time Apple - or, more likely, AT&T - has a very good reason to ban them: it?s scared of them."

Johnny Häusler empfiehlt in Spreeblick die TV-Serie "True Blood", die in Louisiana unter recht befremdlichen Bedingungen spielt. Danach folgt das Kleingedruckte: "True Blood läuft in Deutschland wohl auf irgendeinem Pay-TV-Kanal, aber ich bin sicher, dass man die deutsch synchronisierte Version sowieso nicht hören will. Man kann alternativ Freunde aus den USA um die DVDs bitten und sich einen Player mit entsprechendem Region-Code besorgen, auf eine werbezerhackte und schlecht zurechtgeschnittene Ausstrahlung im Privatfernsehen warten, 200 Jahre ausharren, bis sich die Industrie auf einen offiziellen und rechtlich einwandfreien, weltweiten P-2-P-Dienst geeinigt hat, oder sich in die Illegalität bewegen. You do what suits you best." (Man kann die Serie aber auch einfach beim Amazon.co.uk bestellen...)

Wolfgang Michal sagt in Carta eine Ära des Autorenjournalismus an: "Die Premium-Leser der Zukunft werden sich ihre Lieblingsautoren in Form eines täglichen Online-Magazins aufs Apple-Frühstücks-Tablet servieren lassen."

"Hollywood-Studios fordern Stilllegung von Pirate Bay", meldet turi2.

TAZ, 29.07.2009

Jutta Lietsch interviewt die Fotografen Mathias Braschler und Monika Fischer, die durch China gereist sind, um einzelne Menschen zu porträtierten und auf eine erstaunliche Offenheit stießen: "Bevor wir in China anfingen, haben uns alle gewarnt: Chinesen würden sich nicht als Individuen inszenieren wollen, hieß es. Sie seien ganz anders als die Amerikaner, die große Selbstinszenierer sind und dafür auch vor dem Spiegel üben. Wir haben unterwegs erfahren, dass es gar nicht so ist. Die Chinesen haben die Aufmerksamkeit sichtlich genossen, die so ein Porträtfoto bringt." Bilder und mehr Informationen hier.

Weitere Artikel: Kirsten Riesselmann hat in Bayreuth Katharina Wagner zum kurzen Interview getroffen. Katrin Bettina Müller schreibt zum Tod von Merce Cunningham.

Für tazzwei berichtet Josef Winkler (nicht der Büchnerpreisträger) aus München über einen Tag voller Hindernisse - etwa in Form eines kaputten Mini-Disc-Players: "Über diese zur Unzeit sich einstellende Fehlfunktion gerate ich nun so in Rage, dass ich mit einer wringenden Handbewegung meine kürzlich zu einem in Trage- und Hörkomfort überdeutlich spürbaren Preis fehlgekauften Ramsch-Kopfhörer vernichte."

Tom.

NZZ, 29.07.2009

Christian Schlösser sucht nach Erklärungen für den politischen Erfolg des des niederlädnsichen Populisten Geert Wilders, der offenbar gute Chancen, der nächste Ministerpräsident zu werden: "Die Niederlande liefern ein besonders krasses Beispiel für den rasanten Verlust politischer Kultur... Jetzt ist es gerade dieser durch die Folgen von Modernisierungs- und Säkularisierungswellen hervorgerufene Phantomschmerz, den Wilders sehr geschickt zu nutzen weiß, wenn er seine Projektion eines drohenden Islamofaschismus unter Wähler bringt, denen ja gerade ihr eigenes Leben jeden Tag den radikalen Verlust traditioneller Wertorientierungen vor Augen führt. Konstruktives hört man von Geert Wilders dazu nicht, er inszeniert die Spektakel zu diesem Verschwinden." Mit keinen Wort allerdings erwähnt Schlösser die Morde an Pim Fortuyn und Theo van Gogh.

Weiteres: Hubertus Adam findet Gefallen an David Chipperfields Museumsneubau für Anchorage, der sich gut in das Quadratmuster der Stadt einfüge. Besprochen werden etliche Bücher, so Memo Anjels Roman über das jüdische Medellin "Mindeles Liebe", Sulaiman Addonias Roman "Die Liebenden von Dschidda", Josep Maria de Sagarras Roman "Privatsachen", Maja Beutlers Erzählungen "Schwarzer Schnee", Bruno Bleckmanns Geschichte der Germanen (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Berliner Zeitung, 29.07.2009

Erstmals rebellieren in Berlin Angehörige der freien Theaterszene, die bessere Förderung und Honorare fordern, berichtet Birgit Walter, die die Arbeitsbedingungen am Beispiel der Truppe Toula Limnaios schildert: "Die Compagnie steht 96 Mal im Jahr auf der Bühne, bringt jährlich zwei Uraufführungen heraus, hat ausverkaufte Vorstellungen - alles läuft optimal, denkt man. Aber die Mitglieder der Compagnie haben nach Ollertz' Rechnung ein Netto-Einkommen von 650 Euro, oft bei einer 60-Stunden-Woche."

Außerdem unterhält sich Anke Westphal mit dem Regisseur Thomas Heise, der die Ausstellung "Übergangsgesellschaft" über das letzte Jahrzehnt der DDR in der Akademie der Künste kuratiert hat.

FR, 29.07.2009

Im Interview mit Peter Michalzik erklärt der Salzburger Schauspieldirektor Thomas Oberender, wie er Daniel Kehlmanns Rede aufgefasst hat: nicht als Abrechnung mit dem Regietheater, sondern mit den "Progressiven": "Die Rede ist, das verliert man leicht aus den Augen, ein Plädoyer für Offenheit, eine Ermahnung, sich jenseits ideologischer Lager den Blick frei zu halten und nicht zum Gesinnungsrichter zu werden. Das hat sich bei Daniel Kehlmanns Rede auf oder gegen Bertolt Brecht, die er vor einem halben Jahr nahezu unbemerkt in Augsburg hielt, als furioser Protest gegen eine unreflektierte Auffassung vom 'Fortschrittlichen' bereits angedeutet. Insofern steht seine Festspielrede eigentlich der Debatte ums Ekeltheater weitaus ferner als Botho Strauß' 'Bocksgesang' oder Peter Handkes Konsensverweigerung im Nato-Krieg gegen Serbien. Fatal ist nur, dass Daniel Kehlmann selbst so gesinnungsrichterlich wirkt."

Weiteres: In Times mager sorgt sich Sylvia Staude um die Zukunft der verwaisten Tanzkompanien von Merce Cunningham und Pina Bausch. Besprochen werden Sebastian Nüblings Inszenierung von Hebels "Judith" in Salzburg, Washington Irvings "Sleepy Hollow" in verschiedenen Übersetzungen und Wolfgang Englers Analyse "Lüge als Prinzip".

Zeit, 29.07.2009

Online ist jetzt Herta Müllers großartiger Text über die Machenschaften der Securitate. Müller schildert darin nicht nur ausführlich, wie sie in den Achtzigern terrorisiert wurde, sondern auch, wie sie immer noch von rumänischen Spitzeln ins Visier genommen wird. Interessant ist allerdings auch, welch unangenehme Rolle die Landsmannschaft der Banater Schwaben gespielt hat.
Stichwörter: Spitzel, Banat

FAZ, 29.07.2009

Wiebke Hüster würdigt den einzigartigen Tänzer und Choreografen Merce Cunningham: "Der Künstler Cunningham tat, was er tat, einfach sein Leben lang, nicht aus persönlichem Ausdrucksbedürfnis heraus. Es ging ihm immer nur um die schier unerschöpflichen Möglichkeiten des menschlichen Körpers, sich im Tanz zu bewegen. Deshalb erkannte er früh mit und durch John Cage, welche Chancen in der Anwendung der 'Chance procedures', der Zufallsprozeduren, lagen." Verena Lueken erinnert sich an einen höchst charismatischen Auftritt Cunninghams mit Mikhail Baryshnikov im Jahr 1999. Jordan Mejias fasst amerikanische Reaktionen auf den Tod Cunninghams zusammen.

Weitere Artikel: Mit beträchtlichem Belanglosigkeitsfaktor, aber weder besonders freundlich noch besonders unfreundlich porträtiert Melanie Mühl den SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach als Mann vom Grill. In der Glosse schildert Kerstin Holm, dass in Russland nun die private Post ohne Gerichtsbeschluss untersucht werden darf und dass ausländische Hochschuldozenten bald wahrscheinlich ganz genau unter die Lupe genommen werden. Keineswegs sieht Reinhard Müller die Gefahren eines Open-Access-Publikationszwangs nach jüngsten beschwichtigenden Äußerungen ausgeräumt - schließlich könnten die "Erwartungen", von denen so zwanglos die Rede sei, bei geschlossenem Handeln der betreffenden Organisationen sehr wohl etwas wie Zwang entwickeln.

Auf der Forschung-und-Lehre-Seite sondiert der Soziologe Hartmut Esser neuere Modellversuche zur besseren Förderung von Migrantenkindern. Was dabei herauskam, ist, wie er ausführlich darlegt, oft wenig erhellend. Und viel tun kann man scheint's auch nicht. Spezifische Sprachförderung etwa scheint kaum was zu bringen, denn: "Es kommt offenbar allein darauf an, dass man sich um die Kinder, woher auch immer sie kommen mögen, erkennbar bemüht und ihnen eine anregende und strukturierte Umgebung bietet, in der sie möglichst zwanglos das erleben, was ihnen in ihrem normalen Alltag womöglich abgeht: der eher spielerische Kontakt mit einer für sie neuen Kultur und Sprache".

Besprochen werden die Jonathan-Meese-Ausstellung "Erzstaat Atlantisis" im Arp-Museum Bahnhof Rolandseck, ein "Judith"-Projekt mit Hebbel und Vivaldi in Salzburg, ein Konzert von TV on the Radio in Köln, Kim Ji-woons Film "The Good, the Bad and the Weird" und Bücher, darunter Annegret Helds Roman "Fliegende Koffer" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 29.07.2009

Bernd Graff erläutert noch einmal das orwellianische E-Book-Desaster beim Internetbuchhändler Amazon, der den Kunden per gespenstischem Fernzugriff Bücher von ihren Readern löschen kann. Jeanne Rubner gratuliert der bis heute tätigen Deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht (abgekürzt WAst) zum Siebzigsten. Thomas Meyer gratuliert dem Philosophen Stanley Rosen zum Achtzigsten.Till Briegleb gratuliert dem Stadtplaner Albert Speer zum 75. Geburtstag. Andrian Kreye schreibt zum Tod des Pianisten und Jazzkomponisten George Russell. Gottfried Knapp besucht das im österreichischen Dornbirn für den Aktionskünstler Flatz eröffnete Museum. Für die Literaturseite resümiert David Steinitz in eigenen Worten Nicholson Bakers Artikel über Amazons Kindle aus dem New Yorker (wir berichteten).

Besprochen werden werden Sebastian Schippers Wahlverwandtschaftenvariation "Mitte Ende August" (die Johan Schloemann etwas harmlos geraten ist: "Was hier verhandelt wird, ist am Ende keine existenzielle Tragödie, sondern ein Problem zu langer Sommerferien"), eine von Sebastian Nübling verantwortete Überblendung von Hebbels und Vivaldis "Judith" bei den Salzburger Festspielen, eine Ausstellung mit Berlin- und New-York-Fotografien von Gerrit Engels in München (Ort und Bilder hier), Todd Phillips' Las-Vegas-Komödie und Überraschungserfolg "The Hangover" von und ein Schubert-Liederabend mit Jonas Kaufmann in München.