Heute in den Feuilletons

Ja, ist Gott denn ein Clown?

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.08.2009. In der SZ konstatiert Diedrich Diederichsen: Pop ist noch nicht ganz tot, sondern wird im Netz zerstückelt und verknüpft fortleben. Die FAZ findet, dass sich der Dalai Lama ruhig ein bisschen respektabler aufführen könnte. Die FR übersetzt einen iranischen Blogeintrag: "Dass abends um zehn Uhr die Zeit zum Schreien ist!" Die Blogs freuen sich auf neue Maßnahmen Ursula von der Leyens zur Erhaltung der Demokratie "im richtigen Maß".

FR, 03.08.2009

Einen kleinen Einblick in die Gemütslage der politischen Aktivisten im Iran gibt uns dieser von der FR übersetzte Blogeintrag: "Was soll ich dir sagen, was ich alles gesehen habe in diesen Tagen wie soll ich das beschreiben wie wir gelernt haben, unsere Gefühle in Kategorien einzuteilen, in diesen Tagen? Dass abends um zehn Uhr die Zeit zum Schreien ist! Dass wir unsere ganze Wut in die Kehle legen und schreien in das Herz der Stadt hinein, denn es ist genau der Augenblick dafür. Wie wir nachts für die Unsrigen und deren Angehörigen weinen? Wie wir lesen und lesen, mit Inbrunst lesen, damit wir verstehen, was morgen zu tun ist und wie es zu tun ist, weil wir keine Führung haben und selber Führer sind."

Der Schafzüchter und Dichter Olaf Velte empfiehlt, den vor 100 Jahren gestorbenen irischen Dramatiker John Millington Synge zu lesen. Übersetzungen ins Deutsche gibt's reichlich, und die Dichtung ist fundamental, schreibt Velte. "Diese Literatur ist wie ein kräftiger Händedruck, wie der jähe Sonnenstrahl am Ende eines Regentages, wie ein magerer Hofköter, der um die Hausecke schießt und die Zähne fletscht."

Weitere Artikel: Im Aufmacher freut sich Stefan Pannor über die Neuauflage der Science-Fiction-Serie "Die Terranauten". Jürgen Otten berichtet von der Identifizierung zweier neuer Mozart-Werke. In Times Mager hört Judith von Sternburg in einem Streit das Wort "Schluft" und denkt an Wagner. Außerdem besucht sie die Nibelungenfestspiele in Worms.

Welt, 03.08.2009

Der Schrifsteller Siegfried Lenz beantwortet im Interview Fragen zu seinen Büchern. Jenni Roth amüsiert sich über die Sixt-Werbung auf Kosten von Ulla Schmidt.

Besprochen werden Thomas Pynchons bisher nur auf Englisch erschienener Roman "Inherent Vice", eine Ausstellung, die das alte China mit dem Römischen Reich vergleicht, im World Art Museum in Peking, die Uraufführung von John von Düffels Stück "Das Leben des Siegfried" bei den Wormser Nibelungenfestpielen und Konzerte mit dem "Tastentiger" Fazil Say und der Geigerin Patricia Kopatchinskaja (die "Wildsau unter den klassischen Geigern") in Salzburg.

Aus den Blogs, 03.08.2009

Diesen unter anderem bei Heise zitierten Satz Ursula von der Leyens muss man sich doch noch mal auf der Zunge zergehen lassen: "Wir werden weiter Diskussionen führen, wie wir Meinungsfreiheit, Demokratie und Menschenwürde im Internet im richtigen Maß erhalten." Leyen sagte ihn in einem Interview mit dem Hamburger Abenblatt, in dem sie neue Zensurmaßnahmen für das Internet ankündigte. In Welt online wird allerdings schon ein Dementi verbreitet: "keine weiteren Sperren".

Cory Doctorow zitiert in BoingBoing einen Blogger, der bei der Agentur AP, die sich für Zitate jetzt bezahlen lassen will, einen kleinen Test gemacht hat: "I picked a random AP article and went to their 'reuse options' site. Then, when they asked what I wanted to quote, I punched in Thomas Jefferson's famous argument against copyright. Their license fee: $12 for an educational 26-word quote. FROM THE PUBLIC FREAKING DOMAIN."

Dirk von Gehlen zitiert einen wunderschönen und eigentlich erst im Internetzeitalter zutreffenden Satz von Robert Eduard Prutz aus seiner "Geschichte des deutschen Journalismus" von 1845: "Der Journalismus überhaupt, in seinen vielfachen Verzweigungen und der ergänzenden Mannigfaltigkeit seiner Organe, stellt sich als das Selbstgespräch dar, welches die Zeit über sich selber führt. Es ist die tägliche Selbstkritik, welcher die Zeit ihren eigenen Inhalt unterwirft; das Tagebuch gleichsam, in welches sie ihre laufende Geschichte in unmittelbaren, augenblicklichen Notizen einträgt."

Ekkehard Knörer hat ein neues Blog: Mehringdamm. Und das funktioniert so: "Über die Straße ist ein Buch-Antiquariat. In einem Regal an der Hauswand werden Bücher umsonst offeriert. Ich nehme eins mit, lese es, so weit ich Lust habe, schreibe hier auf, was mir dazu einfällt, und bringe das Buch dann zurück. Dann kommt das nächste." Erste Lektüre-Erfahrung: Johannes Mario Simmel - "Die Antwort kennt nur der Wind".

NZZ, 03.08.2009

Brigitte Kramer berichtet von unaufgeregten Reaktionen in Spanien auf das jüngste Eta-Attentat. Caroline von Loewenich besucht Agatha Christies Landsitz Greenway in Devon. Barbara Villiger Heilig war bei einem Gedenkabend für den verstorbenen Theaterregisseur Jürgen Gosch in Salzburg. Und Urs Hafner hat einen etwas frischeren Wind auf dem Nobelpreisträgertreffen in Lindau verspürt.

Besprochen werden das Fotofestival Les Rencontres in Arles und zwei in Bregenz uraufgeführte Musiktheater-Stücke von Harrison Birtwistle.
Stichwörter: Musiktheater, Spanien, Christies, Eta, Arles

Berliner Zeitung, 03.08.2009

Gleich drei Autoren konstatieren auf der Medienseite der Berliner Zeitung, dass deutsche und schweizerische Konzerne wie Springer, Ringier und der WAZ-Konzern keinesfalls zur Ausbreitung des Qualitätsjournalismus in Osteuropa beigetragen haben: "'Das Potenzial, die Leserschaft langsam an andere Qualitätsstandards heranzuführen, wurde von WAZ nicht genutzt', beklagt (der bulgarische Medienwissenschaftler) Orlin Spassov. Leider seien die Leser mittlerweile an den Boulevardstil gewöhnt und fänden die seriöse Presse langweilig."

Im Feuilleton stellt Daniel Haufler nach den Rassenunruhen zwischen Henry Louis Gates und einem weißen Polizisten und einer Friedensinitiative des Weißen Hauses fest, dass die "USA auch mit Präsident Barack Obama noch keine postrassistische Gesellschaft" sind.

TAZ, 03.08.2009

Im Interview mit Klemens Ludwig spricht der Dalai Lama auf den vorderen Seiten über das tibetische Feudalsystem, seine Sympathien für den Marxismus und die chinesische Politik, die nur zum Teil erfolgreich die Han-Chinesen gegen die Tibeter aufstachelt: "Als vor zwanzig Jahren, im März 1989, die Menschen in Tibet protestierten und sogar das Kriegsrecht verhängt wurde, hat sich keine einzige chinesische Stimme für Tibet erhoben. Heute ist das ganz anders. Seit der Krise vom März 2008 haben über 200 chinesische Intellektuelle, Hochschullehrer und Studenten die Regierung zu mehr Verständnis aufgefordert. Ebenso wurden seit der Krise fast 600 Artikel in chinesischen Medien veröffentlicht, die unsere Position klar unterstützt haben. Einige, wohlgemerkt chinesische Autoren haben sogar geschrieben, dass Tibet ein unabhängiger Staat gewesen ist und das Recht hat, für seine Unabhängigkeit zu kämpfen."

Im Kulturteil verabschiedet Kirsten Riesselmann sich aus Bayreuth: "Nächstes Jahr wieder Festspiel-Wallfahrt? Lieber nicht. Man hat doch stark das Gefühl, einem Dinosaurier beim Sterben zuzusehen." Julia Gwendolyn Schneider stellt Stefanie Bürkles künstlerisches Forschungsprojekt "Die Migration von Räumen" vor, das den Mauerfall aus Sicht von Migranten rekapituliert.

Besprochen werden John von Düffels Nibelungen-Fassung "Das Leben des Siegfrieds" bei den Wormser Festspielen (der Jürgen Berger den "Charme eines Knäckebrots in der Sahara" attestiert) und eine CD-Box der französischen Progessive-Rock-Band Magma.

Und Tom.

FAZ, 03.08.2009

Jan Grossarth hat den Auftritt des Dalai Lama in Frankfurt erlebt und lässt es in seinem Bericht durchaus an Respekt fehlen: "Am Ende der Diskussion legt der Dalai Lama den Professoren weiße Schals um, einige hundert Besucher laufen vor die Bühne und fotografieren, eine Frau in gelbem T-Shirt murmelt: 'Das ist der beste Mensch auf der ganzen Welt.' Der Dalai Lama nimmt sich (auf der primären Ebene) nicht so ernst, nimmt die Politik und die Intellektuellen nicht ernst, er lacht und predigt Menschlichkeit und erreicht die Herzen. Die Professoren schwätzen, in der Mitte gähnt der lachende, infantile Gottmensch. Ja, ist Gott denn ein Clown?"

Weitere Artikel: Abgedruckt ist ein kurzer dionysischer Vorschlag von Bazon Brock für den 1. FC Köln. Andreas Rossmann schildert die Empörung der Kölner, dass bei der Welterbeförderung erst einmal fast gar nichts für den "hinten rum" renovierungsbedürftigen Dom vorgesehen ist. Der heute zur Guardian-Gruppe gehörenden, 1791 gegründeten britischen Sonntagszeitung Observer droht die Einstellung, berichtet Gina Thomas. In der Glosse verweist Dirk Schümer auf einen Artikel, in dem der Krimi-Autor und Mafia-Staatsanwalt Gianrico Carofiglio bitter beklagt, dass Italien gar keine "Scham" mehr kennt. Von der Salzburger "Bakchen"-Lesung zu Ehren des verstorbenen Jürgen Gosch berichtet Martin Lhotzky.' Joseph Croitoru liest in osteuropäischen Zeitschriften unter anderem über eine angeblich geplante Moschee in Tschechien, wo der Gesamtanteil der Muslime an der Bevölkerung bei 0,2 Prozent liegt. Im "Glossar der Krise" ist heute "Schmalhans" zu Gast.

Geburstagsglückwünsche gehen an den Historiker Rolf Peter Sieferle (60), an den Schriftsteller Christoph Geiser (60), an die Schauspielerin Bulle Ogier (70), die Literaturwissenschaftlerin Hannelore Schlaffer (70), den Altphilologen Otto Zwierlein (70).

Besprochen werden die dritte Wiederaufnahme des "Rings" in Bayreuth (Christian Wildhagen schwärmt von der "uneingeschränkt beglückenden musikalischen Leistung" des Orchesters unter Christian Thielemann), eine Inszenierung von John von Düffels "Leben des Siegfried" bei den Nibelungenfestspielen in Worms, eine Ausstellung mit Skulpturen von Katharina Fritsch im Kunsthaus Zürich und Bücher, darunter Zoran Drvenkars Roman "Sorry" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 03.08.2009

Das Netz macht den Pop kaputt und doch setzt Diedrich Diederichsen in einem höchst anspruchsvollen Essay zum Ende des Pop seine Hoffnungen auf das Netz: "So wie die vieldiskutierten Formate des Web 2.0 etwas anderes waren als einfach nur Nachbarschaft, sondern bereits neue Verknüpfungskulturen erkennen ließen, wenn auch noch lange nicht so brisant, wie es die sozialen und ästhetischen Verknüpfungsleistungen der Popmusik sind, könnte man sich ein Web 3.0 vorstellen, das sich in die Realwelt ausdehnt und Formate herstellt, die maximale Verknüpfungsmöglichkeiten mit Körperlichkeit, Architektur, Außenweltaktivitäten verbindet."

Weitere Artikel: Jens Bisky stellt im Aufmacher fest, dass "der Osten" im wiedervereinigten Deutschland durchaus auch seinen zähen Fortbestand hat. In den "Nachrichten aus dem Netz" (die man wie stets nur im Print lesen kann) resümiert Niklas Hofmann die Debatte um den von der Wikipedia veröffentlichten und dadurch nach Ansicht mancher Psychologen entwerteten Rorschachtest. Thomas Steinfeld erzählt, wie die die Suffragette Marion Wallace Dunlop vor hundert Jahren die politische Protesttechnik des Hungerstreiks erfand. Reinhard J. Brembeck meldet, dass zwei kleine Kompositionen des siebenjährigen Mozart entdeckt wurden. Holger Liebs begeht die durch Gerwald Rockenschaub runderneuerte Villa Stuck in München. Wolfgang Schreiber hat sich in Bayreuth den unter Christian Thielemann wiederaufgeführten "Ring" in der Inszenierung Tankred Dorsts angehört.

Besprochen werden John von Düffels "Nibelungen"-Spektakel in Worms, einige neue DVDs, die internationale Kunstausstellung "Rohkunstbau" auf Schloss Marquardt bei Potsdam und Bücher, darunter der neue Duden und der neue Wahrig, die in kniffligen Fragen der Rechtschreibung nicht immer zum selben Ergebnis kommen.