Heute in den Feuilletons

Der Weg zur aufregenden Erkenntnis

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.08.2009. In vielen amerikanischen Blogs wird über die Entscheidung der Yale University Press diskutiert, ein wissenschaftliches Buch über die dänischen Mohammed-Karikaturen herauszubringen, ohne diese abzudrucken. In dem Blog Theartsfuse.com erklärt die Autorin des Buchs, Jytte Klausen, warum sie den Abdruck für notwendig hält. Die SZ kommt nochmal auf den Mord an Marwa El-Sherbini zurück. In der FAZ erkennt Andrzej Stasiuk sein Polen nach zwanzig Jahren Kapitalismus kaum mehr wieder. In der taz fragt "Freischreiber" Kai Schächtele: Wer ist hier der Enteignete?

Aus den Blogs, 17.08.2009

Unter der Überschrift "Cowards" griff Gawker schon am Donnerstag (wie wir zähneknirschend gestehen) den New York Times-Bericht über die Yale University Press auf, die ein Buch über den Karikaturenstreit herausbringt, ohne die Karikaturen abzudrucken.



Die Aussage des YUP-Chefs, die Bilder stünden ja frei im Internet fertigt das Blog so ab: "So now books are no longer including any content that is 'freely available on the Internet?' Time to shut down the publishing industry."

Roger Kimball vermutet in Roger's Rules ökonomische Interessen hinter der Säuberung von Jytte Klausens Buch "The Cartoons that Shook the World":"Even now, I know, energetic investigative reporters are looking into Yale?s financial relationships with some of the spots where Linda Lorimer, Vice President and Secretary of the University, told Professor Klausen she has often traveled recently: Saudi Arabia, for example."

Einige Links zu der Geschichte bringt auch die Achse des Guten. Unter anderem wird dort verwiesen auf Interview der bekannten Autoren Helen Epstein mit Klausen für das neue Blog theartsfuse.com. Klausen erläutert, warum sie den Abdruck der Karikaturen für notwendig hält: "Please note that I am not talking about publishing each cartoon but reprinting the entire page as it was printed in the Danish newspaper on Sept 30, 2005. People think they know all about the cartoons but few people understand the humor in some of them, the references to specific Danish events, etc.. Few people notice that some of the cartoons portray Muslims as victims of the editors, and make fun of the editors. Others are racialist depictions in the tradition of European antisemitism. That is why it was important to include them."

TAZ, 17.08.2009

In Frankreich wird über das Verbot der Burka diskutiert (die dort von verschwindend wenigen Frauen getragen wird). Der Frankreich-Experte Rudolf Walther findet auf der Meinungsseite der taz den französischen Laizismus gegenüber der katholischen Kirche ganz okay, aber nicht gegenüber dem Islam: "So wie sich der Republikanismus bewährte, um die rechtliche Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz durchzusetzen, so bewährte sich der Laizismus zur Sicherung der Neutralität des Staates in Religionsfragen und der Religionsfreiheit aller. Sobald jedoch der Laizismus als Waffe eingesetzt wird, um eine missliebige Religion zu diskriminieren, agiert er nicht anders als der religiös inspirierte Fundamentalismus: intolerant."

Auf der Kulturseiten berichtet Christian Werthschulte über die "c/o pop" in Köln, wo mal wieder über Urheberrecht und den Verfall der Musikindustrie diskutiert wurde. Maximilian Probst erlebte das Sommerfestival von Kampnagel in Hamburg als begeisternde Anti-Konsum-Messe. Und Robert Schimke berichtet über den Leipziger Streit zur Nachfolge Neo Rauchs als Professor an der Kunsthochschule. Besprochen wird Volker Schlöndorffs Tolstoi-Inszenierung im Schloss Neuhardenberg.

In einer Antwort auf Hubert Burdas Forderungen nach Teilhabe an den Google-Profiten und seiner Klage, er werde durch das Internet enteignet, spricht "Freischreiber" Kai Schächtele auf der Medienseite ein Tabu an, das tatsächlich wohl in keiner anderen Zeitung als der taz überhaupt ansprechbar ist - die eigentlichen Enteigner sind erstmal die Verwerter: "Man kann es nicht anders als bigott nennen, wie Verlagsverantwortliche derzeit Politik in eigener Sache machen: Sie beschweren sich über die vermeintliche Enteignung durch Google, zwingen ihren Autoren aber gleichzeitig Total-Buy-out-Verträge auf, mit denen sie sich sämtliche Rechte an deren Stücken sichern. Diese Knebelverträge machen es möglich, eingekaufte Texte beliebig oft zu benutzen und weiterzuverkaufen, ohne dass die Autoren davon profitieren."

Tom.

NZZ, 17.08.2009

Urs Hafner betrachtet kritisch die öffentliche Kommunikation von Wissenschaft, die doch oft ein etwas verzerrtes Bild der Forschung vermittle: "'Science' ist nicht nur innovativ und attraktiv. Der Weg zur aufregenden Erkenntnis und zum bahnbrechenden Ergebnis ist oft lang und mühsam, viele Versuche sind vergeblich, der wissenschaftliche Alltag ist geprägt von Selbstzweifeln, gescheiterten Experimenten, Einsamkeit vor dem Computer."

Weiteres: Claudia Schwarz resümiert das zu Ende gegangene Filmfestival von Locarno, für dessen schönsten Film sie allerdings nicht "She, A Chinese" von Guo Xiaolu hielt, sondern "Nothing Personal" der in den Niederlanden lebenden Polin Urszula Antoniak. Marta Kijowska trifft den polnischen Krimiautor Marek Krajewski, dessen Romane vorzugsweise im - damals deutschen - Breslau der 20er Jahre spielen. Thomas Burkhalter hat auf dem Alpentöne-Festival unter anderem das Schwyzerörgelispiel von Josef Stump und Balz Schmidig gehört. Und Gabriele Detterer streift durch Frankfurts Eastend.

FR, 17.08.2009

Sebastian Moll beschreibt, wie die konservativen Demagogen in den USA gegen Barack Obama und seine Gesundheitsreform agitieren: "An der aktuellen Situation ist neu, dass der Faschismusverdacht aus dem konservativen Lager kommt. Mehrfach verglich der Radio-Moderator Rush Limbaugh, unangefochtener Anführer der US-Konservativen, in der vergangenen Woche Obama mit Hitler und führte zum Beweis an, dass das Logo von Obamas Gesundheitsreform nur ein schwach verfremdetes Hakenkreuz sei. Die Anhänger Limbaughs brauchten nicht lange, um die Anregung aufzugreifen, und bald tauchten bei den "Town Hall"-Versammlungen zum Thema Krankenversicherung Obama-Plakate mit Hitler-Bärtchen auf."

Daniel Kothenschulte hat auf dem Fimfestival von Locarno eine echte Rarität gesehen: einen Tibet-Film aus Tibet. "The Search" von Pema Tseden: "In langen, unverstellten Einstellungen fängt dieser berührende Film die Gegenwart des Mythos da ein, wo dies am meisten verblüfft: Etwa unter der Disco-Kugel eines abgetakelten tibetischen Tanzlokals." Stefan Schickhaus berichtet vom Rheingau Musik Festival. Thorsten Herdickerhoff war auf dem Kurzfilmfestival von Weiterstadt.

Auf der Medienseite kündigt Ulrike Simon das neue Design von Spiegel Online an, das morgen freigeschaltet wird.

Besprochen werden Lola Arias' argentinischer Theaterabend "Mi vida despues" auf Kampnagel und der Edgar-Varese-Schwerpunkt bei den Salzburger Festspielen.

Welt, 17.08.2009

In einer Woche erscheint David Foster Wallaces Roman "Infinite Jest" in deutscher Übersetzung - 1547 Seiten. Wieland Freund porträtiert den amerikanischen Schriftsteller, der sich von einem Jahr erhängte, und beschreibt die Reaktionen von Schriftstellern und Kritikern auf das Erscheinen des Romans 1996. "Mit seinem Freund Jonathan Franzen, dem Autor der 'Korrekturen', der dem Gefühl, ausgerechnet am traurigen Ende der Gutenberg-Galaxis Schriftsteller zu sein, in einem berühmten Essay Ausdruck verlieh, kam Wallace überein, dass alles Schreiben ein Schreiben gegen die Einsamkeit sei, die die noch verbliebenen Autoren und Leser in einer fremden Welt empfänden. Zwar drehte sich das Literatur-Karussell weiter, der weiße Elefant des eigenen Buchs jedoch drehte jeweils nur noch eine einzige Runde, bevor er auf Nimmerwiedersehen im medialen Orkus verschwand. An die Stelle eines Kanons der Meisterwerke war bestenfalls die Lieblingsliste des Online-Kaufhauses Amazon getreten."

Kein Denkmal in Berlin erinnert an Mies van der Rohe. Beklagt wird dies vom Berliner Architekt Paul Kahlfeldt, berichtet Rainer Haubrich, der auch darauf hinweist, dass die Neue Nationalgalerie in keinem guten Zustand mehr ist. "Durch die Bauarbeiten am benachbarten Potsdamer Platz hat sich inzwischen die Bodenplatte des Bauwerks leicht geneigt. Während die Stahlkonstruktion die Spannungen aushält, sind viele Scheiben in den verglasten Fassaden gesprungen. ... Die Stahlträger wurden, abweichend von der ursprünglichen Farbe, inzwischen in tiefem Schwarz gestrichen, und wo Mies die Metallprofile mit einer Spezialpaste gegen Tauben geschützt hatte, wurden die heute üblichen Drahtnetze gespannt."

Weitere Artikel: Eckhard Fuhr stellt die Verwaltungsexpertin Barbara Kissler vor, die von Steinmeier als Schatten-Kulturstaatsministerin ins Wahlkampfteam geholt wurde. Lübecks Weltkulturerbe-Status bringt auch einige Verpflichtungen mit sich, antwortet Hendrik Werner einigen genervten Lübeckern, die ihre Straße für Touristen gesperrt haben. "Kreuzbrav", aber dennoch sehr überzeugend fand Matthias Heine die Inszenierung von Leo Tolstois Stück "Und das Licht scheint in der Finsternis" durch Volker Schlöndorff auf Schloss Neuhardenberg. Hannes Stein sah beim Gedenkkonzert an Woodstock nur alte weiße Hippies mit Sportwagen.

Berliner Zeitung, 17.08.2009

Spiegel Online wird überarbeitet. Ab morgen erscheint das Flaggschiff der deutschen Online-Medien in neuem Layout. Ulrike Simon erläutert die wichtigsten Neuerungen: "Spiegel Wissen (wissen.spiegel.de) verschwindet. Bestehen bleibt die Möglichkeit, bei Spiegel Online mit einer einzigen Suchabfrage auf sämtliche Beiträge im Archiv des Spiegels und Manager Magazins, auf Einträge im Bertelsmann-Lexikon und Wikipedia zuzugreifen."
Stichwörter: Wikipedia

SZ, 17.08.2009

Vierzig Tage ist es her, dass Marwa El-Sherbini von einem rechtsextremen Russlanddeutschen unter "Islamistin"-Rufen erstochen wurde. Für Seite 3 gehen Matthias Drobinski und Roland Preuß mit Aiman Mazyek, dem Generalsekretär des Zentralrats der Muslime in Deutschland, durch Dresden. Für ihn war es eine islamfeindliche Tat: "Aiman Mazyek ist ein freundlicher Mensch, Gegner der Fundis in den eigenen Reihen. Doch nun klingt er bitter. Geschieht ein Ehrenmord, sitzt der Islam insgesamt auf der Anklagebank, sagt er. Wird eine Muslima mit Kopftuch ermordet, gebe es bestenfalls pflichtschuldige Betroffenheit."

Weitere Artikel: Im Aufmacher des Kulturteils erklärt Jens-Christian Rabe, "was Dopingsünder und Finanzjongleure eint". Tobias Lehmkuhl erinnert an das Erscheinen der erfolgreichsten Jazzplatte aller Zeiten, Miles Davis' "Kind of Blue" vor fünfzig Jahren. Niklas Hofmann beklagt in den "Nachrichten aus dem Netz" "kübelweise chauvinistische Herabsetzungen", die in den Blogs über eine Spiegel-Redakteurin ausgeschüttet worden seien - sie hatte versucht, einen Spiegel-Artikel mit unklarer Tendenz über das "Netz ohne Gesetz" im Fernsehen zu erläutern und war dabei im Morgenfernsehen gescheitert. Thomas Steinfeld schreibt zum Tod des E-Gitarrenpioniers Les Paul. Susan Vahabzadeh unterhält sich mit Quentin Tarantino über seine "Inglorious Basterds", und der Regisseur bekennt seine Vorliebe für einige Filme aus der Nazizeit: "Mein liebster Film aus dieser Zeit ist 'Glückskinder' mit Lilian Harvey und Willy Fritsch - die Antwort auf Capras 'It Happened One Night' - ein wahnsinnig komischer Film, und Lilian Harvey ist so zauberhaft darin."

Besprochen werden einige neue DVDs, Volker Schlöndorffs Inszenierung von Leo Tolstois "Und das Licht scheint in der Finsternis" im Schloss Neuhardenberg - seine erste Theaterinszenierung überhaupt, Joseph Haydns Oper "L'isola disabitata" bei den Innsbrucker Festwochen und Bücher, darunter die Erinnerungen des Fernsehreporters Gordian Troeller (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 17.08.2009

Der polnische Autor Andrzej Stasiuk war Tausende Kilometer in Polen unterwegs. Recht ausführlich berichtet er von einem Themenpark in Lichen, er stellt aber erst einmal sehr grundsätzlich fest: "Wenn ich durch Polen fahre, habe ich oft das Gefühl, ich führe durch ein unbekanntes Land. Alles hat sich verändert: die Landschaft und die Gesichter der Menschen, ihre Kleidung und Autos, Häuser und Gärten. Eigentlich hat sich die ganze Welt verändert. Knapp zwanzig Jahre Kapitalismus haben die materielle Wirklichkeit in einem nie zuvor gekannten Ausmaß umgestaltet. Um sich zu vergegenwärtigen, wie diese Wirklichkeit früher war, ist man auf die Vorstellungskraft angewiesen - geblieben ist von ihr so gut wie nichts."

Weitere Artikel: Andreas Platthaus kommentiert eine New York Times-Recherche über die Yale University Press, die eine wissenschaftliche Studie über den Karikaturenstreit gegen den Willen der Autorin nicht nur ohne die umstrittenen Karikaturen, sondern gänzlich ohne Mohammed-Abbildungen veröffentlichte. In der Glosse schreibt Jürg Altwegg über Schweizer Alpengletscherbittgebete. Oliver Jungen berichtet enthusiasmiert vom Popkomm-Nachfolgefestival c/o Pop in Köln. In deutschen Zeitschriften liest Ingeborg Harms manches über (Neo)Bürgerlichkeit, gerade erhellend findet sie's aber nicht. Martin Kämpchen informiert über leicht veränderte - nämlich in der Mittelklasse verstärkte - Reisetätigkeit in Indien.

Rüdiger Suchsland porträtiert die Regisseurin Guo Xiaolu, die mit ihrem Film "She, a Chinese" in Locarno den Goldenen Leoparden gewonnen hat. "Vorbildlich" findet Dieter Bartetzko die nach einem Entwurf von Gesine Weinmiller gebaute "L-Bank" in Karlsruhe. Felicitas von Lovenberg stellt das Romandebüt des Theaterregisseurs Luc Bondy "Am Fenster" vor, das ab sofort in der FAZ vorabgedruckt wird. Geburtstagsglückwünsche gehen an die Schlagersängerin Vicky Leandros (60), den Drummer Ginger Baker (70) und den Kunsthistoriker Karl Arndt (80).

Besprochen werden ein Pearl-Jam-Konzert in Berlin, Volker Schlöndorffs Theaterregiedebüt mit Tolstojs "Und das Licht scheint in der Finsternis" im Schlosspark Neuhardenberg, Arash T. Riahis Spielfilm "Ein Augenblick Freiheit" und Bücher, darunter Abraham Vergheses Familiensaga "Rückkehr nach Missing" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).