Heute in den Feuilletons

Im Müllschlucker des Todessterns

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.08.2009. David Foster Wallaces Kolossal-Roman "Unendlicher Spaß" erscheint auf Deutsch. In der FAZ erklärt Übersetzer Ulrich Blumenbach, was Wallace mit der Sprache macht. In der FR berichtet Ai Weiwei von seiner Verhaftung durch Schergen des Systems. In Slate protestiert Christopher Hitchens gegen die Zensur der Mohammed-Karikaturen durch die Yale University Press. Das Blog Free Iran Now weiß, warum Ägypten eine iranische Briefmarke mit dem Bild der ermordeten Ägypterin Marwa Al-Sherbini zensiert. Und es zeichnen sich Diskussionen über Tarantino ab: Erteilt er eine Lizenz zum Sadismus oder ist sein Film ein Exorzismus?

Aus den Blogs, 18.08.2009

Das Blog Free Iran Now übernimmt von memri.org folgende Meldung über die ägyptisch-iranischen Beziehungen: "Iran recently issued a stamp commemorating Marwa Al-Sherbini, an Egyptian woman who was murdered in Germany for wearing the hijab. In response, the Egyptian authorities have ordered the postal service to ban the entry of mail bearing this stamp. It should be mentioned that Iran has also issued stamps commemorating Sadat?s assassin, Khaled Islambouli, and Muslim Brotherhood leader Sayyed Qutb."

In Deutschland wurde Quentin Tarantinos neuer Film "Inglourious Basterds" fast einhellig begeistert aufgenommen. In Amerika zeichnet sich so etwas wie eine moralische Debatte über den Film ab. Für Jeffrey Wells in seinem Blog Hollywood Elsewhere erteilt Tarantino sich und seinem Publikum eine Lizenz zum Sadismus. Er macht es fest an einer Szene, wo einem Nazi mit einem Baseballschläger der Kopf zertrümmert wird - zur schäkernden Freude eines im Komfort der Nachgeschichte antifaschistisch gestimmten Publikums: "Dies ist eine der ekelhaftesten Gewaltszenen, die ich in meinem ganzen Leben je durchgestanden habe. Moralisch ekelhaft, meine ich.... Danach fühlte ich für Brad Pitt und seine Boys nichts als Abscheu. Ich hatte verstanden, dass sie Abschaum waren. Und wenn sie gestorben wären, okay. Kratzt mich nicht. Ich glaube nicht, dass das die Reaktion ist, auf die Tarantino abzielt."

In starken Worten wendet sich Christopher Hitchens in Slate gegen die Entscheidung der Yale University Press, ein wissenschaftliches Buch über die Mohammed-Karikaturen herauszubringen, und auf den Abdruck der Karikaturen sowie aller anderen historischen Mohammedabbildungen zu verzichten: "It was bad enough during the original controversy, when most of the news media - and in the age of 'the image' at that - refused to show the cartoons out of simple fear. But now the rot has gone a serious degree further into the fabric. Now we have to say that the mayhem we fear is also our fault, if not indeed our direct responsibility. This is the worst sort of masochism."

(Via turi2) Über einen angeblichen Datenschutzskandal ausgerechnet bei einem Tochterunternehmen des Spiegels berichtet das Spiegelblog.

Stefan Niggemeier sieht eine Chance in der Ankündigung vieler Verlage, ihre Inhalte von nun an zahlbar zu machen: "Verlage, die Inhalte kostenpflichtig machen wollen, werden gezwungen zu überlegen, was ihre Angebote besser macht als die der Konkurrenz oder wenigstens einzigartig. Sie werden Andersartigkeit als Chance entdecken müssen und nicht mehr auf bloße Reproduktion des Vorhandenen setzen können."

TAZ, 18.08.2009

Alessandro Topa hält es für falsch, den Iran weiterhin als Mullah-Regime zu bezeichnen: "Und dies nicht nur deshalb, weil einige der schärfsten Gegner des vermeintlichen 'Mullah-Regimes' selbst Mullahs sind: Die gegenwärtigen Entwicklungen lassen sich nur dann angemessen historisch einordnen und interpretieren, wenn sie im Horizont eines langjährigen Prozesses elitärer Machtverlagerung gesehen werden, der die politisch-ökonomische Führung Irans aus den Händen greiser Kleriker in jene von Elitesoldaten in ihren Mittfünfzigern überführt."

Weiteres: In ihrer Bilanz des Filmfestivals von Locarno konstatiert Isabelle Reicher einen gravierenden Mangel als Highlights. In ihrer Kolumne aus London widmet sich Julia Große dem Moderne-feindlichen Prince Charles. Besprochen werden John Grisham Verschwörungsthriller "Der Anwalt" und Barbi Markovics Roman "Ausgehen" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Auf der Meinungsseite bestreitet der Basken-afffine Schriftsteller Raul Zelik, dass die ETA keinen Rückhalt in der Bevölkerung hat. Auch lasse sich ihr Terror nicht nur mit ethnischem Chauvisnismus erklären: "Wie der nordirische Konflikt hat auch der baskische einen politischen Kern, der sich mit polizeilichen Mitteln nicht beseitigen lässt. Spanien und Europa täten gut daran, diese andere Seite des Terrors zur Kenntnis zu nehmen. Der faktische Ausnahmezustand, der heute im Baskenland herrscht, macht es nur wahrscheinlicher, dass die ETA auch noch einen 60. Jahrestag mit Attentaten 'zelebriert'."

Und Tom.

FR, 18.08.2009

Der chinesische Künstler Ai Weiwei wollte letzte Woche für den den Schriftsteller und Zivilrechtler Tan Zuoren aussagen, der wegen "Anstiftung zur Untergrabung der Staatsgewalt" angeklagt war, weil er Nachforschungen zur Zahl der Kinder angestellt hat, die beim Erdbeben in Sichuan in unsicher gebauten Schulgebäuden umgekommen waren. Doch Ai Weiwei schaffte es nicht in den Gerichtssaal, berichtet Bernhard Bartsch. "Ai, der in den vergangenen Monaten mit Hilfe von Freiwilligen selbst eine Liste der getöteten Kinder erstellt hatte, wollte vor Gericht für Tans Verteidigung aussagen. Doch dann drangen am 12. August, in der Nacht vor dem Prozess, gegen drei Uhr früh rund 30 Polizisten in Ais Hotelzimmer ein. 'Ich habe sie nach ihren Ausweisen und ihren Durchsuchungsbefehlen gefragt, aber keine bekommen', erzählt Ai. 'Dann wurde ich geschlagen und beleidigt.' Der Polizist habe ihm gesagt: 'Wenn wir wollen, können wir Dich totprügeln", berichtet Ai. "Wenn Beamte sich uns gegenüber so benehmen, was machen sie dann erst mit all den Leuten vor Ort, die nicht vernetzt sind?'"

Über dem Text ist der Fragebogen abgedruckt, den Ai Weiwei jeden ausfüllen lässt, der sich an seinem Projekt "Bürgeruntersuchung" beteiligt. Eine der Fragen lautet: "Was sind Tatsachen? Sind sie wichtig?"

Weitere Artikel: An der Copacapana soll ein prächtiges neues Museum für Bild und Ton errichtet werden, berichtet Wolfgang Kunath. Womit es bespielt werden soll, scheint allerdings noch niemand zu wissen. Jürgen Otten war beim Kammermusikfestival in Stavanger. In Bayreuth legt der Mann die Jacke ab, erzählt Judith von Sternburg.

Besprochen werden Choreografien beim Berliner Tanz im August, Per Pettersons Roman "Ich verfluche den Fluss der Zeit" sowie einige lokale Ereignisse.

Tagesspiegel, 18.08.2009

Der Schauspieler Christoph Waltz, der in Quentin Tarantinos "Inglourious Basterds" den SS-Mann Hans Landa spielt, meint im Interview über seinen Regisseur: "Tarantino bietet uns eine neue Möglichkeit, die sogenannte Wirklichkeit zu betrachten, und eröffnet eine neue Perspektive auf die Welt - es ist der künstlerische Prozess schlechthin. Die Forschung bestätigt ja zunehmend, dass erst die Perspektive die Wirklichkeit bestimmt. Das ist die Quintessenz dessen, was Kino kann."

NZZ, 18.08.2009

Von Dresdens schönem Schein hat sich Dorothea Dieckmann bei ihrem Besuch der Stadt an der Elbe nicht blenden lassen: "'Barockwrack an der Elbe', 'Restestadt' und 'Festsaal von gestern' nannte sie Durs Grünbein, und Uwe Tellkamp erhebt in seinem Roman 'Der Turm' die Melodie des Verfalls zum Leitmotiv der sozialistischen Jahrzehnte: 'Dresden... in den Musennestern / wohnt die süße Krankheit Gestern'. Wattig umhüllen Dresdens Süße und Sanftheit die Brandwunden. Die Kultur der Kaffeesachsen und Kuchenspezialisten, die Weichheit des Sandsteins, des Dialekts, des Lichts und des Klimas, die von Italien beeinflusste Architektur, die nach der Restaurierung vor allem von der Kulisse des Weichbilds profitiert - all das fließt, eingebettet in die Tallandschaft, immer noch und wieder zu einem Gesamteindruck von dolce vita zusammen. Ebenso wie die Tradition höfischer Obrigkeitstreue sorgt die Geografie der Schönen am Fluss für eine provinzielle Abschottung."

Weitere Artikel: Günter Seufert besucht das armenische Dorf Vakifli am berühmten Musa Dagh und lässt sich noch einmal erzählen, wie die Dörfler vor den osmanischen Truppen auf den Berg flüchteten, bis sie von einem französischen Kriegsschiff gerettet wurden. Marc Zitzmann berichtet von einem recht extremen Fall der Zensur in Bordeaux: Dort wurden drei Museumsmitarbeiter von einer Kinderschützerin angezeigt, mit Bildern von Christian Boltanski, Nan Goldin, Robert Mapplethorpe oder Cindy Sherman Kinderpornografie verbreitet zu haben.

Besprochen werden Peter Stamms Roman "Sieben Jahre", Isaac Rosas Roman "Das Leben in Rot" und Maeve Brennans Erzählungen "Der Morgen nach dem großen Feuer" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Welt, 18.08.2009

Hanns-Georg Rodek sieht die Rachefantasien Quentin Tarantinos und seiner "Inglourious Basterds" als "Exorzismus an jenem Ort, wo zwölf Jahre der Teufel herrschte" und beruhigt zugleich ein Publikum, das vor den Gewaltszenen des Films zurückscheuen könnte: "Der Name Tarantino mag seit 'Pulp Fiction' für Gewaltexzesse stehen, doch im Grunde wird bei ihm zu 80 Prozent gequasselt und höchstens zu 20 Prozent massakriert."

Weitere Artikel: Thomas Lindemann erzählt, wie es beinahe zu einem Skandal um den staatstragenden Punkmusiker Campino gekommen wäre. Ulrich Weinzierl schwärmt von Alfred Brendels an drei Nachmittagen in Salzburg abgehaltener "Schule des Hörens", für die er sich sogar (allerdings nur in illustrativer Absicht) wieder an den Bösendorfer setzte. Hendrik Werner liest mit viel Zustimmung die Twitter-Kritik des außerdem als Computer- und Globalisierungskritiker tätigen David Golumbia in "The Cultural Logic ofComoutation" (Auszug). Gabriela Walde resümiert die vom neuen Preußenstiftungschef Michael Eissenhauer geplanten oder geraede nicht geplanten Rocharden zwischen Gemälde- und Neuer Nationalgalerie in Berlin.

Besprochen werden außerdem erste Konzerte des Lucerne Festivals und eine DVD-Box mit ARD-Rockpalastnächten.

SZ, 18.08.2009

Stephan Speicher resümiert Diskussionen über die Berliner Gemäldegalerie und ihre künftige Funktion. Thomas Steinfeld schreibt einen Abgesang auf die Post, die einmal ein Amt war und Lenin gar als Vorschein einer sozialistischen Wirtschaftsordnung galt. Gemeldet wird, dass Rowohlt und der Spiegel sich in einem eigentlich schon vergessenen Rechtsstreit (richtig, es ging um eine vorzeitige Besprechung des letzten Kehlmann-Romans) gütlich geeinigt haben. Eva-Elisabeth Fischer porträtiert den in Frankreich arbeitenden israelischen Choreografen Emanuel Gat.

Besprochen werden eine Retrospektive der Bildhauerin Isa Genzken in Köln, die romantische Komödie (ja, trotz des Titels) "Zack and Miri Make a Porno" (mehr hier), ein Liederabend von Patricia Petibon bei den Salzburger Festspielen, die Ausstellung "Radical Nature - Art and Architecture for a Changing Planet 1969 - 2009" in London, Ereignisse des Hamburger Sommerfestivals in der Kampnagel-Fabrik in Hamburg, darunter Egon Flaigs "Weltgeschichte der Sklaverei" (mehr hier), die von dem Historiker Jürgen Zimmerer wegen einseitiger Kritik am Islam kritisiert wird.

FAZ, 18.08.2009

Ulrich Blumenbach, der in den letzten sechs Jahren David Foster Wallaces Kolossal-Roman "Unendlicher Spaß" ins Deutsche übertragen hat, schwärmt vom Sprachreichtum des Originals, der auch ihm selbst ganz neue Horizonte eröffnet hat: "Wallace ist für mich der Han Solo der Literatur. Er bringt eine 'Allergie gegen die einschränkenden Realitäten der Gegenwart' mit, wie es in 'Unendlicher Spaß' einmal heißt. Er stemmt sich gegen die Beklemmungen von Schlagwort und Klischee. Sein Roman stellt eine kaum fassbare Ausweitung der Literatursprache dar, denn Wallace zündet im Müllschlucker des Todessterns eine Supernova, die den Raum der Sprache herz- und hirnerweiternd ausdehnt."

Weitere Artikel: Andreas Platthaus erklärt, warum die Comic-Verlage manches, das nicht dort hingehört, unters neuerdings beliebte Dach des Genres "Graphic Novel" stecken. In Salzburg hat Christian Wildhagen mit Gewinn die pianogestützten Vorlesungen Alfred Brendels über Humor, Witz und Ironie in der Musik gehört. Niklas Maak sieht in einem Kommentar den Umzug der Berliner Gemäldegalerie auf die Museumsinsel nach jüngsten Äußerungen des neuen Generaldirektors der Staatlichen Museen Michael Eissenhauer zwar "vorerst", aber keineswegs für immer vertagt. In der Glosse geht's um die Stimme von Thomas Pynchon. Über den gelungenen "Um- und Ausbau" des Leipziger "Ariowitsch-Hauses" zum neuen jüdischen Kultur- und Begegnungszentrum freut sich Arnold Bartetzky. Karen Krüger schreibt zum Tod der türkischen Architektin Mualla Anhegger-Eyüboglu.

Besprochen werden ein arg missglücktes Konzert von Marianne Faithfull zur Eröffnung der Ruhrtriennale, die Ausstellung "The Conspiracy/Die Verschwörung" in der Kunsthalle Bern, das neue Album "Dolophine Smile" von The Fine Arts Showcase, und Barbi Markovics Thomas-Bernhard-Umschrift "Ausgehen" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).