Heute in den Feuilletons

Irritierende Schnalz- und Knackgeräusche

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.09.2009. Im Standard fragen Adam Krzeminski und Martin Pollack: Warum schweigen die Österreicher zum 1. September? In der Jungle World erklärt Karl Rössel, Kurator der Ausstellung "Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg", warum historische Redlichkeit auch die Darstellung der Kollaboration gebietet. Die FAZ findet "Die Kunst ist super" nicht bleifrei. In der FR erklärt Peter Schneider, warum er sich nicht nur nicht mit Springer versöhnen, sondern sogar ein neues Tribunal verkrachen will. Springer würdigt die neue deutsche Käsekultur.

FR, 04.09.2009

Schriftsteller und Altachtundsechziger Peter Schneider möchte sich nicht nur nicht mit Springer versöhnen, er fände es sogar höchste Zeit für ein ordentliches Tribunal über die Manipulationskraft der Bewusstseinsindustrie: "Die größte Gefahr für die Unabhängigkeit des Denkens und der Meinungsbildung geht von dem zunehmenden Konzentrationsprozess der Medien aus. Dieser verläuft nicht so plan, wie ihn sich die 68er vorstellten. Selbstverständlich gibt es nicht - und gab es wohl nie - das diktatorische Votum eines Springer oder Murdoch, das den verschiedenen bunten Kindern im Medien-Imperium eine politische Linie vorschreibt. Es hat sich als besser und ertragreicher für das Imperium erwiesen, wenn die Kinder miteinander konkurrieren. Allerdings müssen alle Kinder mit ihren jeweils verschiedenen Produkten und Leidenschaften zum Wohl der Firma beitragen und Profit machen."

Weitere Artikel: Daniel Kothenschulte hat in Venedig mit Todd Solondz' "Life During Wartime" das "erste Meisterwerk des Festivals" gesehen. Mit der Wahl ohne Wahl befasst sich Peter Michalzik in Times mager. Jörg Plath informiert, dass heute die Frist für Stellungnahmen zu Googles Book Settlement abläuft.

Besprochen werden das Konzert von Lou Reed und Laurie Anderson in Frankfurt, bei dem Reed "herrlich atonale Gitarrenfeedbacks" ins Publikum schleuderte, während Anderson den Engel der Geschichte beschwor, und Raffaele Cantones Buch über seinen Kampf gegen die Mafia (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Jungle World, 04.09.2009

Bernd Beier unterhält sich mit Karl Rössel, dem Kurator der Berliner Ausstellung "Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg", die aus der Werkstatt der Kulturen verbannt wurde, weil sie die Kollaboration des Muftis von Jerusalem mit den Nazis dokumentiert. Rössel würdigt die bisher kaum wahrgenommenen Kriegsopfer in der Dritten Welt, aber er sagt auch: "Es gehört einfach zur historischen Redlichkeit, dass man nicht so tut, als hätte es überall nur Antifaschisten und Befreiungskämpfer und Opfer gegeben, vielmehr gab es rund um den Globus auch Kollaborateure, es gab auch überzeugte Faschisten, es gab Freiwillige in der Waffen-SS auch aus Ländern der Dritten Welt, es gab eine arabische Legion der deutschen Wehrmacht und eine indische, und es gab zahllose Politiker aus verschiede­nen Kontinenten, die in Nazideutschland im Exil waren.

Weitere Medien, 04.09.2009

Warum schweigen die Österreicher so durchdringend zum 1. September?, fragen Adam Krzeminski und Martin Pollack im Standard (wir entdecken den Artikel mit ein paar Tagen Verspätung): "Der Krieg, der am 1. September 1939 mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Polen begann, war auch ein Krieg der Österreicher. Er spielte sich nicht nur in weiter Ferne ab, in den besetzten Gebieten, in den Tiefen Russlands, sondern auch an der sogenannten Heimatfront - wo KZ-Häftlinge vor den Augen gleichgültiger Einheimischer an ihre Arbeitsstätten getrieben wurden."

NZZ, 04.09.2009

Der Sinologe Helwig Schmidt-Glintzer hat ein Buch über "Chinas Angst vor der Freiheit" geschrieben. Die NZZ veröffentlicht einen Auszug: "In der Ungewissheit der Massenlaune aber liegt der größte Unsicherheitsfaktor. Der seit Jahren erzwungene Verzicht auf einen öffentlichen Diskurs wirkt als Belastung und traumatisiert gerade die wachen Geister. Das Beschweigen der jüngeren Vergangenheit ist mit Händen zu greifen, wenn etwa Studenten auf der Suche nach Informationen über die Ereignisse in Peking im Juni 1989 nur Auskünfte und Literatur in englischer Sprache finden. (Das World Wide Web lässt sich nicht auf Dauer aussperren.)"

Weitere Artikel: Thomas Grob erinnert an den vor 200 Jahren geborenen polnischen romantisch-revolutionären Dichter Juliusz Slowacki, der "Zeugnissen nach ein wenig angenehmer Zeitgenosse: nervös, reizbar, unstet - und einzelgängerisch" war, aber trotzdem mehr Aufmerksamkeit verdient hätte. Marco Frei feiert Mahlers vor hundert Jahren komponierte Neunte Sinfonie. Roger Friedrich besucht Mario Matascis Galerie in Tenero und dessen eigene Kunstsammlung in Riazzino.

Besprochen werden ein Haydn-Konzert der Berliner Philharmoniker beim Lucerne Festival und ihre Einspielung von Brahms-Sinfonien auf CD.

Auf der Medienseite verfolgt Peter Studer die Diskussion über Google Street View in der Schweiz. Der Datenschutzbeauftragte hat damit gedroht, ein Verbot zu erwirken, wenn Google die Persönlichkeitsrechte nicht besser schützt. Studer findet das ganz richtig: "Solange die vollmundigen Datenschutzversprechen des Datengroßversorgers Google nicht annähernd perfekt funktionieren."

Welt, 04.09.2009

Ursula Heinzelmann hat ein Buch über neue deutsche Käsekultur und -kulturen geschrieben. Im Gespräch mit Michael Miersch lobt sie die Freiheit und Kreativität deutscher Käsemacher: "In Frankreich und Italien sind Erzeuger viel mehr an die Region und Tradition gebunden. Wenn sie etwa an der Loire Ziegen halten, dann machen sie ganz automatisch Crottin de Chavignol. Da es bei uns diese Traditionen und diese regionale Festlegung kaum gibt, müssen gute Käser sich selbst etwas einfallen lassen. Kollegen aus Frankreich beneiden sie darum zuweilen."

Weitere Artikel: Gabriela Walde hat die von Udo Kittelmann neu arrangierte Sammlung im Hamburger Bahnhof besucht und ist erfreut über neue Nuancen und Korrespondenzen. Reinhard Wengierek schreibt zur Neueröffnung des verwaisten Berliner Schlossparktheaters durch Dieter Hallervorden, der dort seriöses Theater im Sinne Kehlmanns machen will (mit Inszenierungen, in denen "Faust sein Gretchen nicht im Striptease-Lokal trifft"). Matthias Heine mokiert sich über neueste deutsche Theaterstücke mit englischen Titeln wie "2beornot2be". Manuel Brug freut sich aus Anlass des beginnenden Bonner Beethovenfests über eine anhaltende Konkjunktur des Komponisten und empfiehlt Einspielungen der Sinfonien durch Paavo Järvi und die Deutsche Kammerphilharmonie. Cosima Lutz besucht den tschechischen Trickfilmer Jan Svankmajer, dem in Ludwigshafen eine Ausstellung gewidmet ist. Hanns-Georg Rodek schreibt den Nachruf auf den Schauspieler Dirk Dautzenberg.

Besprochen wird eine Ausstellung über den großen Journalisten der Weimarer Republik Theodor Wolff in Berlin.

Aus den Blogs, 04.09.2009

Cory Doctorow empfiehlt in BoingBoing die Fotografien Sergey Maximishins. Hier aus seinem Portfolio ein möglicherweise nicht autorisiertes Porträt Putins.



Burda startet eine Konkurrenz zu Google News, meldet Carta: "Nachrichten.de soll kontinuierlich über 500 journalistische Websites ressortbezogen auswerten. Anders bei Google News sollen nicht nur Kurzauszüge, sondern auch ganze Texte übernommen werden. Die Publisher sollen bei Texten von mehr als 1.500 Zeichen Länge 50 Prozent der Werbeeinnahmen aus dem Umfeld ihrer Texte erhalten."

TAZ, 04.09.2009

Susanne Messmer stellt eine Anthologie chinesischer Experimentalmusik vor, die darauf pfeift, von "gesellschaftlichem Nutzen" zu sein: "Diese dysfunktionale Musik glänzt meist nicht mit Rhythmen oder Melodien. Weder ist sie tanzbar, noch kann man sie wegen der diversen irritierenden Schnalz- und Knackgeräusche als Soundtrack für Alltägliches wie Hausarbeit oder Autofahren einsetzen." (Hier einige Hörproben)

Weiteres: Cristina Nord berichtet etwas mitgenommen von den Filmfestspielen in Venedig. Klaus Walter hat sich in Frankfurt das Konzert von Laurie Anderson und Lou Reed angehört. In der tazzwei unterhält sich David Denk mit dem Schauspieler Henry Hübchen.

Und Tom.

SZ, 04.09.2009

Jörg Häntzschel stellt mehr oder minder große Pläne vor, aus der 700 Meter südlich von Manhattan gelegenen Insel "Governor's Island" etwas zu machen: "Aus dem Schutt der abgerissenen Sechziger-Jahre-Bauten wollen sie künstliche Berge bauen, die ... ein ähnliches Erlebnis und sogar einen noch grandioseren Blick bieten sollen als die nahe Freiheitsstatue. Der Park soll die Qualitäten der Insel verstärken: 'Die meisten erleben ihren Besuch wie einen Mini-Urlaub. Die Sicht, der Geruch des Meers, der Wind, die Ruhe: Das soll der Park erlebbar machen.' Es wird einen 'Hängematten-Hain' geben, Feuchtgebiete und ein Tal, das 'The Canyon' heißt. 'Es muss etwas sein, um die Anreise zu rechtfertigen. Was wir bieten müssen, ist zweieinhalb Stunden Genuss.'"

Weitere Artikel: Fritz Göttler liest Texte von Elfriede Jelinek (in der aktuellen Cargo-Ausgabe) und Daniel Kehlmann (in der aktuellen Zeit) über Lars von Triers Film "Antichrist" und ist von Jelineks Analyse sichtlich, von der Kehlmanns weniger fasziniert (Zitate von beiden hier). Johannes Willms schildert, wie sich Frankreich seiner schmählichen Geschichte der Judendeportation zu erinnern beginnt. In der Reihe "Zeitgemäße Physiognomie" stellt "mau" den "Klassik-Juror" vor. Reinhard J. Brembeck porträtiert die seit nunmehr sechzig Jahren existierende Gesellschaft der Freunde von Bayreuth.

Besprochen werden das Deutschland-Konzert von Laurie Anderson und Lou Reed in Frankfurt, die Ausstellung "Wir sind Maske" im Museum für Völkerkunde in Wien, die Fotoausstellung "Die Kanzler - Von Adenauer bis Merkel" bei C/O Berlin, eine Einspielung von Pergolesis "Stabat Mater" durch das London Symphony Orchestra unter Claudio Abbado, Andreas Dresens neuer Film "Whisky mit Wodka" und neue Taschen- und andere Bücher, darunter Natascha Wodins Roman "Nachtgeschwister" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 04.09.2009

Eher unappetitlich findet Niklas Maak den Umgang des neuen Hamburger-Bahnhof-Direktors Udo Kittelmann mit der Sammlung Flick: "Kittelmann eröffnet seine Neuordung unter dem Titel 'Die Kunst ist super!'. Was bedeutet das - super, so wie eine Hose super sitzt? Super wie Super 8? Wie Super Bleifrei? Mit einem entschlossen unterbelichteten Titel über die Problematik der Flick-Sammlung hinwegzutäuschen ist, wenn es ein Trick sein sollte, ein sehr schlechter. Super war im Fall der Flick Collection wenig - weder die Art, wie hier eine doch durchwachsene Sammlung in ein öffentliches Museum hineingezerrt wurde, noch das Verhalten des Sammlers im Umgang mit der Familiengeschichte."

Weitere Artikel: Nur halb zufrieden zeigt sich Michael Althen beim Festival in Venedig mit John Hillcoats Cormac-McCarthy-Verfilmung "The Road" - und Todd Solondz' "Life During Wartime" löst sich für seine Begriffe allzu schnell in misanthropische "Selbstgefälligkeit" auf. In seiner Kolumne denkt Eduard Beaucamp über Künstler als Kunstkritiker nach. Andreas Rossmann berichtet über neue Pläne und Vorschläge zur Restaurierung des beim Einsturz des Kölner Archivs Beschädigten. In der Glosse geht es um die Zuspitzung des Streits zwischen Libyen und der Schweiz. Olaf Sundermeyer warnt davor, die - ohnehin eher bescheidenen - Erfolge der NPD im Osten überzubewerten. Nils Minkmar gratuliert dem "Haus der Kulturen der Welt" zum Zwanzigsten.

Besprochen werden das einzige gemeinsame Deutschlandkonzert von Laurie Anderson und Lou Reed in der Frankfurter Jahrhunderthalle, eine Aufführung von Antonio Salieris Oper "La Grotta di Trofonio" in Winterthur, Nora Ephrons Köchinfilm "Julie & Julia" mit Meryl Streep und Bücher, darunter Katherine Mansfields unter dem Titel "Rosabels Alptraum" neu aufgelegte Erzählungen (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).