Heute in den Feuilletons

Wie derbes Handschuhleder

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.09.2009. Desaster, Fiasko. Gesichtsverlust. Entschuldigungen. Fast alle Zeitungen berichten vom China-Symposion der Frankfurter Buchmesse. Der Turmsegler erzählt Episoden aus Wolfgang Koeppens letzter Lebensstation im jüdischen Altenheim von München. Die SZ reagiert säuerlich auf das "Internet-Manifest". Die Welt fragt: Wie geht's weiter mit dem Berliner Schloss? Im Perlentaucher reklamiert Ralf Bönt ein Recht der Gesunden auf Verdrängung der Krankheit.

FR, 14.09.2009

Als reinstes "Desaster" tituliert Arno Widmann das China-Symposium der Frankfurter Buchmesse, das im Tumult endete: "Am Ende, als es noch einmal ernst wurde auf dem Symposium, das so etwas wie die Auftakt-Veranstaltung der Frankfurter Buchmesse sein sollte, versagte nicht nur der Leiter der Buchmesse Jürgen Boos, sondern der Skandal des Tages war, dass Herbert Wiesner, der Generalsekretär des deutschen PEN, sich weigerte, auf Fragen aus dem Publikum einzugehen. Darunter die ihn unmittelbar betreffende, warum nämlich er diese Veranstaltung nicht nutze, um die Lage der in chinesischen Gefängnissen einsitzenden Autoren zur Sprache zu bringen."

Weiteres: Die parallele Entwicklung von Krieg und Kino sieht Daniel Kotheschulte in Samuel Maoz' Venedig-Siegerfilm bewiesen. In Times mager knöpft sich Christian Schlüter das Forum Deutscher Katholiken und seine Erklärung zum Islam vor. Michael Barsuhn korrigiert einige Punkte im Film "Berlin 36".

Besprochen werden das Hans Zenders Konzert "Adonde?/Wohin?" und Barbara Webers Inszenierung von Goethes "Wahlverwandschaften" am Berliner Maxim Gorki Theater.

Aus den Blogs, 14.09.2009

Benjamin Stein erzählt im Turmsegler Episoden aus Wolfgang Koeppens letzter Station im jüdischen Altenheim München, die ihm Verleger Siegfried Unseld finanzierte: "so bekam Koeppen ein Appartement mit zwei Zimmern und einer kleinen Terrasse und dazu eine Sekretärin. Sie soll nicht sehr helle gewesen sein, was wohl eine Voraussetzung dafür war, tagelang mit gezücktem Block neben Koeppen auszuharren, dem zunehmend Altersdemenz zusetzte und der weit davon entfernt war, noch ein großes Werk zu diktieren, wie Unseld hoffte.

- Wo bin ich denn?
- Im jüdischen Altersheim, Herr Koeppen.
- Soso - Aber ich esse keine Zwiiiiiebeln!

Die Tagesdosis seines geliebten Rotweins bekam er über die Sonde eingeflößt, was ihn glücklich stimmte und ihn auch mal versonnen bis entschieden - wenn auch vergebens - nach einer 18jährigen verlangen ließ."

Die Blogosphäre ist sehr erregt über einen Zwischenfall bei der "Freiheit statt Angst"-Demo (mehr hier), wo ein Polizist einem Demonstranten mehrfach ins Gesicht schlug, aber es gab am Samstag noch eine andere Demo in Berlin und einen anderen Zwischenfall, berichtet Arvid Vormann im Blog Freeirannow: "Heute wie jedes Jahr fanden sich einige Hundert Islamisten und Nazis zusammen, um den von Khomeini ausgerufenen so genannten Al-Quds-Tag mit einer Demonstration zu begehen. Es ging wie immer um die Auslöschung Israels und die Polizei drückte beide Augen zu. Hier ein Ordner mit Hisbollah-T-Shirt, dort einer mit dem Konterfei des Judenmörders Nasrallah auf dem feisten Wanst zu sehen, alles kein Problem für die Ordnungshüter. Derweil brauchten die Gegendemonstranten ihre vorbereitete Musik-CD gar nicht auszupacken. Lieder mit hebräischen Texten waren von der Einsatzleitung spontan verboten worden."

TAZ, 14.09.2009

"Seltsam mutlos" findet Cristina Nord die Entscheidung der venezianischen Jury, ihr Resümee des Festivals selbst fällt dennoch positiv aus. Christoph Schröder porträtiert den Verleger Joachim Unseld, der die neuen Cover der Frankfurter Verlagsanstalt von Neo Rauch gestalten ließ und jetzt auch die Leitung des Frankfurter Literaturhauses übernahm. Julian Weber verweist auf eine morgen beginnende Tagung zur Zukunft der Popbranche. Auf tazzwei verfolgt Jürn Kruse den Weg Charlotte Roches von den Feuchtgebieten ins Herz des öffentlich-rechtlichen Biedersinns, die Talkshow "3 nach 9", wo sie jetzt moderiert.

Tom.

Welt, 14.09.2009

Rainer Haubrich berichtet über den neuesten Stand in Sachen Berliner Schloss, nachdem das Bundeskartellamt die Auftragsvergabe an Frank Stella für nichtig erklärt hat. Sollte Stella - dessen Entwurf die Jury so überzeugt hatte, dass sie keinen zweiten Preis vergab - nicht bauen dürfen, bliebe nur einer der vier dritten Preisträger, zu denen der klagende Hans Kollhoff gehört, der naturgemäß mit der Entscheidung des Bundeskartellamts "sehr zufrieden" ist. Einen besonders aparten Lösungsvorschlag haben die Grünen angeboten: "Unerwartete Schützenhilfe erhielt Kollhoff von den Grünen, die sich am Freitag dafür aussprachen, dem klagenden Berliner Architekten eine Mitarbeit an der Realisierung des Stella-Entwurfs anzubieten. Der Grünen-Politiker Wolfgang Wieland, der als Beobachter seiner Bundestagsfraktion in der Schlossjury war, sieht darin auch eine Chance, doch noch 'zu der geforderten und von Stella nicht gelieferten Agora' im Humboldtforum zu kommen."

Weitere Artikel: Die ausgeladenen Dissidenten durften nun doch beim China-Symposium in Frankfurt sprechen, meldet Uwe Wittstock, der dann die ganze, für die Buchmesse so peinliche Angelegenheit noch einmal nachzeichnet. Und in einem Kommentar auf der Forumsseite meint Wittstock: "Wer mit einem so mächtigen Gegenüber wie China verhandelt, sollte sich seiner politischen Grundsätze sicher sein." Annie Leibovitz muss zwar immer noch ihren Kredit zurückzahlen, bekommt aber die Chance, das Copyright an ihren Bildern zurückzukaufen, berichtet Hannes Stein. Eckhard Fuhr war bei den Feierlichkeiten zur Ausstellungseröffnung "50 Jahre 'Blechtrommel'" in Lübeck. Sven Felix Kellerhoff wüsste zwar auch gern, wieviele Todesopfer genau es an der innerdeutschen Grenze gab, möchte diese Frage aber nicht als Wahlkampfthema behandelt sehen. Peter Zander resümiert das Filmfestival in Venedig und freut sich, dass gleich zwei deutsche Wettbewerbsbeiträge ausgezeichnet wurden (Shirin Neshats "Women without men" und Fatih Akins "Soul Kitchen". Daneben steht ein Interview mit Akin, der sehr besorgt ist, er könnte schon vom "System" verschluckt worden sein. Zu Dan Browns am Mittwoch erscheinenden neuen Buch gibt es bereits Sekundärliteratur, berichtet Wieland Freund. Hannes Stein schickt einen Brief vom Broadway. Manuel Brug war bei der ersten "echten" Premieren im neuen Opernhaus von Oslo. Bas. schreibt zum Tod des Fotografen Willy Ronis.

Auf der Magazinseite schreibt Ulli Kulke über die Ausstellung "Dem Leben hinterher - Fluchtorte jüdischer Verfolgter" im Museum Blindenwerkstatt in Berlin.

NZZ, 14.09.2009

Der Historiker Robert Jütte stellt aus nicht ganz ersichtlichem Anlass klar, dass es tatsächlich Bucheinbände aus Menschenhaut gibt. "In Meyers Großem Konversation-Lexikon (1908) kann man lesen: 'Menschenhaut ist mehrfach zur Herstellung von Leder benutzt worden. In der Zittauer Ratsbibliothek befindet sich eine vollständige gegerbte M., die von einem Räuber stammt. Sie ist weiß und fühlt sich wie derbes Handschuhleder an.'"

Weitere Artikel: Susanne Ostwald bilanziert sehr zufrieden Venedigs Filmfestspiele, auch mit den beiden Hauptgewinnern, Samuel Maoz' "Lebanon" und Shirin Neshats Drama "Zanan bedoone mardan" (Frauen ohne Männer), ist sie einverstanden. Allerdings hätte sie sich von Festivalleiter Marco Müller eine geschicktere zeitliche Verteilung der guten Werke gewünscht, die fast alle am Schluss des Festivals liefen. (Hier alle Preisträger.) Andrea Köhler berichtet von der lautstarken Vermarktung des neuen Thrillers von Dan Brown "The Lost Sysmbol", der vom Buchhandel als Konjunkturpaket sehnsüchtig erwartet wird. Samuel Herzog schreibt zum Tod des französischen Fotografen Willy Ronis, dem wir "Les amoureux de la Bastille" verdanken.

Besprochen werden die Uraufführung von Marcel Luxingers "Tell the Truth" am Schauspiel Basel, Mahlers Zehnte mit Riccardo Chailly in Lucerne und Gunther von Hagens neueste Leichenschau in Zürich.


Perlentaucher, 14.09.2009

In der FAZ (hier) und im Freitag (hier) wurde gegen die Krebsbücher von Christoph Schlingensief (hier) und Georg Diez (hier) polemisiert. Der Autor Ralf Bönt reklamiert im Perlentaucher ein Recht auf Verdrängung: "Krebs, wie jede andere schwere Krankheit auch, ist nicht, wie Kämmerlings schreibt, der große Gleichmacher. Krankheit ist immer der große Vereinzeler. Für den Kranken ist es oft die schwierigste Herausforderung und die bitterste Erfahrung, akzeptieren zu müssen, dass der Gesunde und auch der andere Kranke, dass überhaupt jeder Andere, sei es der Lebensgefährte oder ein Blogger in der Nacht, nur begrenzt bereit ist, mitzugehen."

SZ, 14.09.2009

Recht säuerlich kommentiert Johannes Boie in den "Nachrichten aus dem Netz" das "Internet-Manifest" einiger prominenter Blogger: "In den 17 Thesen des 'Internet-Manifestes' formulieren die Autoren ihren Anspruch an Journalismus im Internet. Der Text liest sich wie ein Ratgeber für Verleger und Chefredaktionen." Boies Artikel steht leider nicht online, aber hier kann man ihn für 3,21 Euro kaufen.

Weitere Artikel: Auf Seite 3 berichtet Renate Meinhof von dem Frankfurter China-Symposion der Buchmesse, bei dem die offiziellen Chinesen auszogen, als die Regimekritiker Bei Ling und Dai Qing den Saal betraten, und wieder einzogen, nachdem sich Buchmessenchef Jürgen Boos bei Ihnen entschuldigt hatte. Wieder im Feuilleton zieht Jens Bisky eine recht freundliche Bilanz des Wirkens von Kulturstaatsminister Bernd Neumann. Und Stephan Speicher zeichnet ein Profil der SPD-Kandidatin für das Amt, Barbara Kisseler. Susan Vahabzadeh ist in ihrem Venedig-Resümee einverstanden mit den Festivalpreisen für den israelischen Film "Lebanon" und für Fatih Akins neuen Film "Soul Kitchen". Volker Breidecker war dabei, als Alexander Kluge den Adorno-Preis entgegennahm. Helmut Mauro meldet, dass der in München umstrittene Christian Thielemann jetzt zumindest vertretungsqeise die Dresdner Staatskapelle dirigiert. Johannes Willms schreibt zum Tod des Fotografen Willy Ronis. Der Soziologe Heinz Bude reflektiert über den Begriff der Gerechtigkeit im aktuellen Wahlkampf. Und Gustav Seibt liest einen Essay über Deutschland des sich mild über Habermas und Heinrich-August Winkler mokierenden britischen Historikers Perry Anderson in der Zeitschrift Mittelweg.

Besprochen werden Erica von Moellers Film "Fräulein Stinnes fährt um die Welt", einige neue DVDs, Konzerte des Festivals "Klangspuren" in Tirol und Bücher, darunter Aravind Adigas neuer Roman "Zwischen den Attentaten" (mehr hier) und Alexander Waughs Geschichte der Familie Wittgenstein (Leseprobe).

FAZ, 14.09.2009

In Israel streitet man um den Kafka-Nachlass, berichtet Jakob Hessing. Max Brod hatte Manuskripte mit nach Palästina genommen und dann seiner Sekretärin vermacht, die Forschern systematisch den Zugang verweigert hätte. Jetzt starb die Dame und der Journalist Ofer Aderet recherchierte für Ha'aretz, was aus den Manuskripten geworden ist (seine Artikel finden Sie hier, hier, hier, hier und hier). Ein Teil war offenbar - gegen israelisches Recht - nach Deutschland verkauft worden: "Aderets Enthüllungen machten Furore und riefen die Jerusalemer Nationalbibliothek auf den Plan. Denn Hoffe hatte nicht nur das Andenken ihres verstorbenen Geliebten verletzt, sondern auch das israelische Gesetz: Seit 1955 muss die Ausfuhr von historisch wertvollen Kulturgütern mit dem israelischen Staatsarchiv abgesprochen werden, aber Hoffe hat das nie getan."

Oliver Jungen ärgert sich zwar über den Auftritt des ehemaligen chinesischen Botschafters in Deutschland Mei Zhaorong beim Frankfurter China-Symposium zwar unerhört, fand es am Ende aber doch okay, dass die Veranstaltung nicht abgebrochen wurde: "Im Übrigen gehört zur Kulturdiplomatie die Wechselseitigkeit: Man wird sich wohl doch alles anhören müssen, was man im Zweifel der Gegenseite ins Gesicht sagen will."

Weitere Artikel: Irmy Schweiger berichtet über weitere Veranstaltungen auf dem Symposium. Christian Thielemann erklärt im Interview mit Julia Spinola, dass wenn der Münchner Stadtrat ihn nicht für die Philharmoniker haben will, er auch an die Met, nach Covent Garden, zum Gewandhaus oder dem Philharmonia Orchester gehen kann; und Dresden wäre auch sehr schön, danke. In der Glosse nimmt Kerstin Holm den neuen Generalplan für die Moskauer Stadtentwicklung aufs Korn. Michael Althen ist nicht unzufrieden mit den Preisen in Venedig (so viel mit deutschem Geld produzierte Filme!), hätte gern aber auch einen Preis für Brillante Mendozas Film "Lola" gesehen. Ingeborg Harms wirft einen Blick in deutsche Zeitschriften. Gerhard Stadelmaier meldet, dass die "Werkstatt-Tage" für junge Autoren am Wiener Burgtheater mangels Qualität abgesagt wurden. Felicitas von Lovenberg kündigt als nächsten Vorabdruck in der FAZ eine Novelle von Siegfried Lenz an.

Besprochen werden die Dramatisierung von Zolas Roman "Das Geld" am Düsseldorfer Schauspielhaus, Choreografien auf den Spuren von Balanchine am Amsterdamer "Het Muziektheater" und Bücher, darunter Ilija Trojanows und Juli Zehs Streitschrift "Angriff auf die Freiheit. Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).