Heute in den Feuilletons

KUNST MUSS HERRSCHEN

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.09.2009. Die NZZ bescheinigt den Veranstaltern des Frankfurter China-Symposiums multiple Biegsamkeit und dem Panel rückgratfreien Diskurs. Für die Chinesen war das Verhalten von Buchmessechef Boos ein Sieg, meint die SZ. Die FR stellt das "Freedom Theatre" aus Palästina vor. In der Welt erklärt Wolf Lepenies, warum Madame heute nicht mehr wie ihre Köchin schreiben möchte. Die FAZ wittert eine Krise des politischen Journalismus. Die taz gedenkt der Lehman Brothers.

NZZ, 15.09.2009

"Vorauseilenden Kleinmut" und "multiple Biegsamkeit" bescheinigt Andreas Breitenstein in seinem Bericht vom Franfurter China-Symposium den Verantwortlichen der Frankfurter Buchmesse. Aber auch das Panel selbst fand Breitenstein außergewöhnlich inkompetent und uncouragiert: "Immer wieder suchten Dai Qing und Bei Ling kritisch nachzuhaken, wurden aber meist abgeputzt. Beschämend war der rückgratfreie Diskurs insbesondere diesen beiden gegenüber, die für ihre Anliegen zu leiden bereit sind."

Besprochen werden die Designkunst-Ausstellung "Entre deux actes" in der Kunsthalle Baden-Baden, eine Schau zum Pavillon im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt, die Klanginstallation "Nox Borealis" der finnischen Komponistin Kaija Saariaho beim Lucerne Festival, Luc Bondys Buch "Am Fenster" und der Roman "Senyoria" von Jaume Cabre, den Brigitte Kramer auch in einem Kurzinterview befragt).

TAZ, 15.09.2009

Vor genau einem Jahr meldete die Investmentbank Lehman Brothers Konkurs an. Die taz widmet diesem Ereignis ihre ganze heutige Ausgabe.

Stephan Wackwitz erklärt, warum in New York so wenig von der Krise zu spüren ist: "Wer hier Probleme bekommt, ist innerhalb Wochenfrist eben nicht nur mehr hier. Sondern weg vom Fenster. Es gibt keinen Wohnraum, den sich Arbeitslose leisten könnten. Man muss dann einfach wegziehen, aufs Land, zu den Eltern, irgendwohin."

Auch einige Künstler äußern sich kurz, zum Beispiel Jonathan Meese: "Nach einem Jahr der Krisen ist es bombensicher: KUNST MUSS HERRSCHEN." Christiane Rösinger: "Ich bin wie Berlin: Immer in der Krise." Oder Alicia Kwade: "Lieber kurz dabei als gar nicht."

Trotzdem der Tom.

Perlentaucher, 15.09.2009

Er wolle sein Leid nicht sozialisieren, antwortet Christoph Schlingensief in einem Kommentar auf Ralf Bönts Perlentaucher-Artikel zu den jüngsten Selbsterfahrungsbüchern Krebskranker: "und trotzdem haben alle etwas gemeinsam: die angst. angst nicht mehr dazuzugehören, den 'erfolgreichen' lebensweg nicht mehr gehen zu können. und das teilt man dann mit menschen, die ihre familie oder ihren beruf oder ihre versorgungssysteme verloren haben. und bei millionen von büchern über liebe oder krieg, politik oder den neuesten automodellen, kochbüchern, usw... können 60 bücher mit krebserfahrungen nicht die absicht verfolgen, alle auf denselben 'horrortrip' zu schicken."

FR, 15.09.2009

Inge Günther stellt das "The Freedom Theatre" aus Palästina vor, das zur Zeit durch Deutschland tourt. "Als die 'Farm der Tiere', frei nach George Orwell, als Analogie auf die politische Korruption in den Autonomiebehörden inszeniert wurde, erlebte die Westbank ihren ersten Theaterskandal. 'Die palästinensischen Sicherheitsbehörden mochten es nicht', bemerkt Mer Khamis lakonisch. Die Zuschauer hatten ihre Oberkommandeure in den Orwellschen Schweinen wieder erkannt. Der Regisseur wurde sogar zwei Tage in Haft genommen. Palästinensische Politiker aus dem Bürgerrechtslager wie Hanan Aschrawi oder Mustafa Barghouti verteidigten indes die Freiheit von Meinung und Kunst und damit das Freedom Theatre."

Weitere Artikel: In Times Mager versteht Harry Nutt die Beschwerden über das "Duell" nicht: "Man hat Dressurreiten angesetzt und wundert sich in einer bis zur Empörung reichenden Bandbreite darüber, dass man kein Galopprennen gesehen hat." Bernhard Bartsch hofft, dass nach der Aufregung um das Frankfurter China-Symposium jetzt auch über die chinesischen Autoren selbst gesprochen wird. Die Sperre für Tibet-Flyer auf der Buchmesse wurde aufgehoben, informiert uns eine Meldung.

Besprochen werden Zhang Huans Inszenierung der Händeloper "Semele" in Brüssel, ein Konzert des Mahler Jugendorchesters in der Alten Oper Frankfurt und Bücher, darunter Adrian Nicole LeBlancs Reportageband "Zufallsfamilie" und Roberto Bolanos Roman "2666" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 15.09.2009

Jetzt diskutiert auch Frankreich über eine Rechtschreibreform, meldet Wolf Lepenies. Die Heftigkeit der Debatte erklärt Lepenies mit der republikanisch-aristokratischen Doppelfunktion der Schule, die den Citoyen und die geistige Elite formen soll: "Im 17. Jahrhundert herrschte, was l'orthographe anging, eine vordemokratische Gleichheit. Madame de Sevigne, die größte Briefschreiberin Frankreichs, schrieb nicht korrekter als ihre Köchin. Die Zentral-Monarchie drängte auch auf Vereinheitlichung des Sprachgebrauchs - aber erst die Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts setzt sie durch. Jetzt muss jedermann lernen, korrekt zu schreiben. Das heißt aber auch: Jeder Franzose hat die Chance, es zu lernen. Es ist außerordentlich mühsam, ein fehlerfreies, korrektes Französisch zu beherrschen. Wer diese Fähigkeit aber einmal erworben hat, ist nicht bereit, anderen die gleiche Mühe zu ersparen. Man setzt die eigene Distinktion nicht leichtfertig aufs Spiel."

Weitere Artikel: Das britische Außenministerium hat die Akten zum Jahr 1989 vorzeitig freigegeben, Thomas Kielinger glaubt, dass die britische Diplomatie damit ihren aus jener Zeit angeschlagenen Ruf polieren will und zeigen, dass sie mehr Realitätssinn besaß als die germanophobe Margaret Thatcher. Hendrik Werner deutet die Einschaltquoten zum TV-Duell.

Besprochen werden Marius von Mayenburgs Inszenierung von Hebbels "Nibelungen" an der Berliner Schaubühne, das neue Album "Immer da wo du bist bin ich nie" von Element of Crime und die RTL-Serie "Lipstick Jungle".

Weitere Medien, 15.09.2009

Helmut Heinen, Präsident des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger hat in einer Rede (dokumentiert bei bdzv.de) erneut ein Leistungsschutzrecht für die Presse gefordert, und er freut sich, die Politik auf seiner Seite zu wissen. Internet ist Diebstahl, meint er: "Dabei sollten wir im Übrigen nicht von einer 'Kostenlos-Kultur' sprechen. Dieser Begriff vernebelt den Sachverhalt. Es hat nichts mit 'Kultur' zu tun, wenn Inhalte von Fremden ausgebeutet werden! Content- beziehungsweise Inhalte-Diebstahl ist das richtige Wort. Oder Piraterie. Wir haben diese Forderungen erst vor wenigen Wochen sowohl der Bundeskanzlerin wie auch der Bundesjustizministerin Frau Brigitte Zypries in Berlin vorgetragen. Und wir freuen uns über die Aufgeschlossenheit aller großen Parteien, über entsprechende Regelungen konstruktiv nachzudenken."

SZ, 15.09.2009

Das Symposion am Samstag war nur der Anfang. Der Ärger mit China als Gastland der Buchmesse wird nicht aufhören, meint Thomas Steinfeld: "Die öffentliche Reue und das Schauspiel von Auszug und Wiedereinzug während des Symposiums mag, nur mit westlichen Augen, aus der Perspektive des 'Dialogs' betrachtet, ein Kompromiss gewesen sein. Aus dem Blickwinkel eines Staates hingegen, der unter kulturellem Austausch strikt Außenpolitik versteht und also jede diplomatische Geste als Ausdruck von Macht und Unterwerfung betrachtet, war das Verhalten von (Buchmessenchef) Jürgen Boos, so wenig er sich anders hätte entscheiden können, schlicht Feigheit, der eigene Auftritt aber ein Sieg." Schon hat die Messe den nächsten Schritt getan, und die Möglichkeit von Protesten gegen die chinesische Tibetpolitik stark eingeschränkt.

Weitere Artikel: Christopher Schmidt kommentiert die Entscheidung des Burgtheaters, seine für November geplanten Werkstatttage für junge Dramatiker in diesem Jahr auszusetzen - Grund ist mangelnde Qualität der eingereichten Stücke. Kia Vahland schickt Eindrücke von der Kunstbiennale in Istanbul. Lothar Müller mokiert sich über die "achterbahnartigen Plots" Dan Browns, die aber auch seinen neuesten Roman "The Lost Symbol" nicht daran hindern werden, zum Bestseller zu werden. Helmut Mauro kolportiert neueste Äußerungen von und Gerüchte um Christian Thielemann. Andrian Kreye schreibt zum Tod des Punk-Autors Jim Carroll. Thomas Steinfeld hat in Luzern einem Vortrag Carlo Ginzburgs über den Satz "Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig" des Apostels Paulus zugehört. Volker Breidecker gratuliert der Verlegerin Monika Schoeller zum Siebzigsten.

Besprochen werden erste Premieren an der Schaubühne und dem Gorki-Theater in Berlin, die Science-Fiction-Posse "District 9" des südafrikanischen Autors und Regisseurs Neill Blomkamp und die aus dem Nachlass herausgegebenen Erinnerungen des Historikers Arno Borst (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 15.09.2009

Marcus Jauer betrachtete die Journalismusmaschinerie, die in den Kulissen des "Duells" zwischen Merkel und Steinmeier auf Hochtouren leer lief. Vielleicht, überlegt er, ist diese Leere schlicht eine Krise des politischen Journalismus? "Sollte es die Wahlkampfstrategie von Angela Merkel gewesen sein, den politischen Journalismus zu umgehen, indem sie ihm nicht gibt, was er braucht, muss man sagen, dass das ganz einfach war. Die Langeweile ist dann nur Ratlosigkeit darüber, dass diese Nuss mit den alten Knackern nicht zu brechen ist."

Auf ganzer Linie gescheitert sieht Michael Hanfeld das Moderatorenquartett des "Duells", das sich nicht die Bohne für Politik interessiert habe: "Mit wem Steinmeier denn demnächst regieren will, wenn nicht mit der Union, das wenigstens hätte man fragen müssen und auch nach der im Wahlkampf zumindest als Phrase von allen Parteien hervorgehobenen Bildungspolitik. Oder nach den Umständen der sogenannten 'Opel-Rettung', die allem Anschein nach vor allem dazu führt, dass mit deutschem Steuergeld Arbeitsplätze in Russland gesichert werden. Eine winzige Anmerkung gab es dazu, mehr nicht."

Weitere Artikel: Jürgen Kaube erlebte vor dem Fernseher einen "fast wechselwirkungsfreien Austausch von Vorfabrikaten". In der Glosse zeigt sich Jürg Altwegg "fast erfreut", dass die Schweinegrippe nun doch ausgebrochen ist. Niklas Maak betrachtet das vor der Pleite aufgenommene Bild vom Hochhaus der Lehman Brothers bei Google Maps. Regina Mönch berichtet über den Streit um die Ausstellung "Unsere Opfer zählen nicht - die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg", die statt in der Werkstatt der Kulturen jetzt in den Weddinger Uferhallen gezeigt wird, weil die Leiterin der Werkstatt es rassistisch findet zu erwähnen, dass sich der Palästinenserführer Hadj Amin al-Husseini von Himmler zum SS-Gruppenführer ernennen ließ. Ernst Horst berichtet von einer Tagung an der Universität Zürich über das ökonomische Scheitern. Gina Thomas hat sich das neue Darwin Zentrum in London angesehen. Jom. schreibt zum Tod des Pflanzenpathologen Norman Borlaug.

Besprochen werden ein Konzert mit Bruckners Achter in Dresden (es spielte die Staatskapelle unter Christian Thielemann, Julia Spinola war einfach überwältigt von der "Aura des Außeralltäglichen"), Marius von Mayenburgs Inszenierung von Friedrich Hebbels "Nibelungen" an der Berliner Schaubühne, Neill Blomkamps Film "District 9" und Andreas Möllers Debütroman "Traumfang" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).