Heute in den Feuilletons

Deeply casual

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.09.2009. Schon wieder eine Religion! Der Boston Globe informiert über den Dudeism, der bereits 50.000 Priester hat. Die SZ zeigt, wie Ai Weiwei eine Operation am Gehirn dokumentiert, nachdem die chinesische Polizei ihn krankenhausreif geschlagen hat. In der taz wendet sich Wolgang Sofsky gegen zu viel Staat. Die FR freut sich: Die Buchmesse lenkt ein, Tibet-Aktivisten dürfen Flugblätter verteilen. Die FAZ formuliert Vorbehalte gegen den "sadistischen Strippenzieher" Lars von Trier.

Weitere Medien, 16.09.2009

(Via Nerdcore) Der Film "The Big Lebowski" über den von Jeff Bridges so genial gespielten "Dude" Jeffrey Lebowski wird zu einer Art religiösem Phänomen, berichtet Joan Anderman im Boston Globe: "The film - which was released to mixed reviews and spent all of six weeks in theaters, barely recouping its $15 million budget - has spawned a vibrant subculture that draws both scholars and slackers to the fold. The Dude has been cited in hundreds of doctoral dissertations and academic papers over the past decade. There is a religion called Dudeism, boasting more than 50,000 ordained Dudeist priests, and a publication called the Dudespaper, 'a lifestyle magazine for the deeply casual.' Film producer Jeff Dowd, the actual person on whom the character of the Dude is based, has launched a second career making personal appearances as The Real Lebowski."
Stichwörter: Boston, Bridges, Jeff, Duden

Welt, 16.09.2009

Autor Rolf Schneider erklärt sich den großen Erfolg der Linkspartei auch mit Fehlern der Bürgerrechtler 1989. Sie haben einfach nicht genug Zähne gezeigt: "Polens Runder Tisch bereitete den allmählichen Machtwechsel vor, der dann auch erfolgte, mit aller Konsequenz, der in der völligen Niederlage der Kommunisten im Juli 1989 bestand. In der DDR rangen die alten kommunistischen Kräfte jetzt um ihr politisches Überleben, und der Runde Tisch bot sich ihnen als unverhoffte Chance. Allerlei Palaver fanden statt, auf allen administrativen Ebenen."

Weitere Artikel: Sven Kellerhoff hat die Studien des Münchner Instituts für Zeitgeschichte über die "Wehrmacht in der NS-Diktatur" durchgeackert und muss jetzt feststellen: "Die Wehrmacht als Institution war mit vollem Bewusstsein an allen Verbrechen des NS-Regimes beteiligt; die Verantwortung der obersten Generalität ist umfassend belegt." Vor der heutigen Veröffentlichung der Shortlist für den deutschen Buchpreis stellen vier Welt-Redakteure ihre persönliche Bestenliste vor. Uta Baier meldet, dass Kassel das Archiv des legendären Ausstellungsmachers Harald Szeemann kaufen will. Volker Blech berichtet, dass Dirigent Christian Thielemann und die Stadt München doch wieder miteinander verhandeln.

Besprochen werden Nicolas Joels Start an der Pariser Oper mit Gounods "Mireille", der neue Pixar-Film "Oben" und die auf RTL gezeigte BBC-Serie "Torchwood".

FR, 16.09.2009

Die Buchmesse bemüht sich offenbar sehr um den Eindruck, sie habe aus den Vorgängen um das Frankfurter China-Symposium gelernt, berichtet Claus-Jürgen Göpfert. "Plötzlich darf eine kritische Tibet-Initiative im Oktober doch ihre Flugblätter in den Hallen auf dem Frankfurter Messegelände verteilen. Zuvor hatte die Messeführung das noch abgelehnt. Mit der hanebüchenen schriftlichen Begründung: 'In engen Gängen, an Rolltreppen, mitten im Besucherstrom kann durch eine angeregte und im Prinzip gewünschte Diskussion ein hohes Gefahrenpotenzial durch sich aufstauende Menschen entstehen'. Plötzlich betont die gleiche Messeführung: "Der freie Informationsfluss und die Freiheit von Meinung und Rede sind das höchste Gut der Frankfurter Buchmesse'."

Weitere Artikel: In Times Mager findet es Ina Hartwig gut, dass Buchmessenchef Jürgen Boos zugibt, dass sein Projektleiter Peter Ripken einen Fehler gemacht hat. Thomas Schmid erinnert an den Tiroler Aufstand vor 200 Jahren und seine Folgen. Harry Nutt freut sich über das Literaturfestival in Berlin, das die arabische Welt zum Schwerpunkt hat: "Die arabische Welt gibt es nicht, und das Literaturfestival Berlin ist der Ort, auf dem die unterschiedlichen Lesarten von Mangel, Leerstelle und Vielfalt kenntlich gemacht werden." Christian Thomas gratuliert dem langjährigen Feuilletonredakteur der FR, Wolfram Schütte zum 70. Geburtstag.

TAZ, 16.09.2009

Der Soziologe Wolfgang Sofsky wendet sich in der Reihe "L'Etat c'est moi" gegen die gerade so populären Forderungen nach mehr Staat in der Wirtschaft: "Weshalb mäßig bezahlte Beamte ohne persönliche Haftung die privaten Produzenten und Konsumenten an Sachverstand, Verantwortung, Leistung, Transparenz und Initiative übertreffen sollen, bleibt ein Geheimnis der politischen Propaganda. Krisen sind keine Katastrophen. Behörden können ebenso wenig für Gerechtigkeit sorgen wie Märkte."

Im Feuilleton berichtet Knut Henkel, dass der kolumbianische Rockmusiker Juanes auf Kuba ein Friedenskonzert organisiert - regimekritische Bands dürfen aber nicht mitspielen. Besprochen werden Filme, darunter Andrzej Wajdas Aufarbeitung des Massakers von Katyn (mehr hier) und die Verfilmung von J. M. Coetzees Roman "Schande", sowie eine Prinz-Eisenherz-Gesamtausgabe.

Und Tom.

Freitag, 16.09.2009

Jakob Augstein repliziert im Freitag auf Thierry Chervels Polemik gegen den Freitag-Aufruf zum Abzug der deutschen Soldaten aus Afghanistan: "Wenn man über den Krieg nachdenkt, jeden Krieg, lohnt es sich, die realpolitische Perspektive von der moralischen zu unterscheiden. Wenn der Krieg in Afghanistan gewonnen würde, wäre es leichter, ihn auch moralisch zu rechtfertigen."

Aus den Blogs, 16.09.2009

Für Robin Meyer-Lucht in Carta war das Kandidatenduell vor allem die totale Niederlage des aktuell gepflegten politischen Journalismus im Fernsehen: "Das Kennzeichen dieses um sich greifenden Politikverständnisses ist ein TV-Journalismus ohne Demut. Ohne Demut davor, dass Politik in Wirklichkeit viel komplexer ist, als er es zu vermitteln vermag. Der TV-Journalismus tut so, als könnte er alles verstehen und vermitteln - und als gäbe es keine Welt darüber hinaus. Der TV-Journalismus totalisiert sich selbst. Dies ist die Atmosphäre von Christiansen, Will, Illner, Plasberg und co."

NZZ, 16.09.2009

Philippe Djian erzählt im Interview mit Jeannette Villachica, warum er Literatur zugänglicher machen will und mit "Doggy Bag" eine Soap in Buchform geschrieben hat: "Die Serie ist nur eine andere literarische Form; was zählt, ist die Stimme. Ich habe früher auch Abenteuerhefte gelesen, danach anderes, später Proust. Der Weg ist offen, wenn man überhaupt liest. In einer Gesellschaft ist der Schriftsteller genauso wichtig wie der Arzt oder der Wissenschafter. Als ich jünger war, sagte ich, wenn es mir nicht gut ging, nicht: 'Ich gehe zum Arzt', sondern: 'Ich gehe in die Buchhandlung.'"

Naomi Bubis berichtet über den juristischen Streit um Kafkas Nachlass. Die israelische Nationalbibliothek will verhindern, dass die beiden Erbinnen, die Töchter von Max Brods Vertrauten Esther Hoffe, weitere Schriften nach Deutschland verkaufen. Das Deutsche Literaturarchiv Marbach hat großes Interesse.

Besprochen werden zwei Ausstellungen zu Frauen in der Kunst in Wien und Paris, als tägliches Update aus Lucerne ein Konzert mit Haydn und Mozart unter Bernard Haitink, der Saisonauftakt mit Verdis "Simon Boccanegra" im Genfer Grand Theatre, Puccini-Inszenierungen in Bern und Basel sowie Anne Hogenhuis' bisher nur auf Französische erschienene Geschichte "Des savants dans la Resistance".

FAZ, 16.09.2009

Verena Lueken, die über die Vorführung von Lars von Triers Film "Antichrist" in Toronto berichtet, mag die Rolle nicht, die Trier dem Zuschauer auferlegt. Zum Beispiel in der Anfangsszene, in der ein Ehepaar zusammen schläft, während sein Kind in den Tod stürzt: "Wir erleben ein sadistisches Strippenziehen, und an den Strippen hängen die Figuren ebenso wie die Zuschauer. ... Wie groß ist eine Kunst, die den Zuschauer aller Empfindungsfreiheit, aller Reaktionsmöglichkeiten beraubt? Was ist von Bildern zu halten, in denen unsere Phantasie keinen Spielraum mehr hat, weil sie uns nur als Gefangene in die imaginären Spukwelten ihres Regisseurs ziehen?"

Thomas Thiel kann gar nichts anfangen mit den Geschäftsmodellen fürs Internet, die Chris Anderson in seinem Buch "Free" vorschlägt: "Wer den Werbemarkt wie Google beherrscht, kann es sich leisten, andere Produkte zu verschenken, gräbt damit aber gleichzeitig das Geschäftsmodell vieler anderer ab. Deutlich wird das am Beispiel von Craigslist, einem Internetangebot für kostenlose Kleinanzeigen, das amerikanischen Zeitungsverlagen seit seiner Gründung mindestens 30 Milliarden Dollar Wertverlust an der Börse eingebracht haben soll, selbst aber gerade einmal genug Gewinn zum wirtschaftlichen Überleben macht." Das beschreibt das amerikanische Magazin Wired in seiner neuesten Ausgabe ganz anders: Danach nimmt Craigslist in diesem Jahr über 100 Millionen Dollar ein und "sollte es jemals verkauft werden, würde der Preis in die Milliarden gehen".

Weitere Artikel: Auf dem Bauplatz des Berliner Schlosses wurden recht gut erhaltene Reste des Hohenzollernschlosses gefunden, und darunter sollen noch mal Siedlungsreste aus dem Spätmittelalter liegen, berichtet Andreas Kilb, der das alles in die von der FAZ so eifrig propagierte, dann beschlossene und nun durch das Urteil des Bundeskartellamts wieder in Frage gestellte neue Schlossattrappe - koste es, was es wolle - integriert sehen möchte. Die Stadt München ist jetzt "überraschend gesprächsbereit" was eine Vertragsverlängerung von Christian Thielemann angeht (nach dem Dauerfeuer der FAZ in den letzten Tagen überrascht uns die Überraschung). Die Kritiker der Nesawisimaja gaseta und des Kommersant sind total begeistert von Volker Schlöndorffs Inszenierung des Tolstoi-Dramas "Und das Licht scheint in der Finsternis", meldet Kerstin Holm. In der Glosse nimmt sich Joseph Hanimann Nicolas Joels Einstandsinszenierung an der Pariser Bastille von Gounods Oper "Mireille" vor. Niklas Maak begutachtet die neuesten Hybrid- und Elektroautos auf der Internationalen Automobilausstellung in Frankfurt. Michael Althen schreibt zum Tod von Patrick Swayze. Andreas Rossmann meldet erfreut, dass der Katschhof in Aachen mit "Ruhe und Klarheit" vom Düsseldorfer Atelier Fritschi Stahl Baum neu gestaltet wird.

Auf der DVD-Seite empfiehlt Michael Althen acht Filmklassiker, die Arthaus auf Blu-ray herausgegeben hat. Susanne Klingenstein empfiehlt Gerhard Schicks Dokumentarfilm über die deutsche Sprache in Jerusalem. Und Dominik Graf sieht Filme mit einer wunderschönen Barbara Rudnik: "Zum Gitarrensolo von 'Hey Joe' fährt die Kamera dann um die Showqueen-Flügel des Stars herum und enthüllt uns allmählich eine Barbara Rudnik, so schön, dass - wenn ich mich recht erinnere - eine etwa gleichaltrige englische Schauspielerin ein paar Jahre zuvor weinend aus einer gemeinsamen Kostümprobe gekommen war."

Auf der Medienseite stellt Ht. Googles neuestes Zeitungssponsoring-Projekt Fast Flip (mehr hier) vor.

Besprochen werden die Uraufführung von Martin Heckmanns Stück "Zukunft für immer" am Dresdner Staatsschauspiel und Kurt Brachartz' Buch "Für reife Leser" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 16.09.2009

Der chinesische Künstler Ai Weiwei hat sich bei einem Deutschlandaufenthalt nach Hirnblutungen operieren lassen und macht der chinesischen Polizei, die ihn im letzten Monat heftig geschlagen hat, Vorwürfe, ihn verletzt zu haben, berichtet Henrik Bork auf Seite 1 der SZ. Grund: "Er hatte sich für die Aufklärung des 'Tofu-Schulen'-Skandals eingesetzt. In mangelhaft gebauten Schulen waren bei dem Erdbeben in der zentralchinesischen Provinz Sichuan am 12. Mai vergangenen Jahres Tausende Schulkinder gestorben." Einige Fotos, mit denen Ai Weiwei seine Operation auf Twitter dokumentiert hat, werden im Feuilleton gezeigt. "Was zunächst wie Exhibitionismus anmutet, ist jedoch nicht nur Bestandteil seiner künstlerischen Strategie, sondern folgt einer Logik der Evidenz, welche darauf abzielt, sich gegen Zensur, Willkür und körperliche Gewalt der chinesischen Behörden zu wehren", erläutert Kunstkritiker Holger Liebs dazu.

Weitere Artikel: Holger Liebs unterhält sich mit Thomas Demand, der mit viel Aufwand existierende Orte wie das Oval Office nachbaut, leicht verfremdet und dann fotografiert - ihm wird eine große Ausstellung in der Berliner Neuen Nationalgalerie gewidmet. Tobias Kniebe schreibt den Nachruf auf Patrick Swayze. Arnd Wesemann hat erlebt, wie die Choreografin Sasha Waltz vor dem Berliner Kulturausschuss eine bescheidene Erhöhung ihrer Subventionen verlangte und vorerst abschlägig beschieden wurde. Jens Bisky besucht die Bundesgartenschau in Schwerin. Harald Eggebrecht berichtet, dass die Stadt München nun doch wieder mit Christian Thielemann über sein Engagement bei den Münchner Philharmonikern verhandeln will. Lothar Müller gratuliert dem südafrikanischen Autor Breyten Breytenbach zum Siebzigsten.

Besprochen werden Gounods Oper "Mireille" in Paris, Steve Jacobs' Verfilmung von Coetzees Roman "Schande" (mehr hier) mit John Malkovich, eine Dramatisierung von Emile Zolas Roman "Das Geld" in Düsseldorf und Bücher, darunter Paolo Giordanos Roman "Die Einsamkeit der Primzahlen" (mehr in der Bücherschau ab 14 Uhr).