Heute in den Feuilletons

Organisiertes Gebrechen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.10.2009. Die taz lässt sich von Heinrich August Winkler über die Ideale des Westens informieren. Der Tagesspiegel legt die wiedervereinigte Nation auf die Couch der Psychoanalytikerin Vera Kattermann. Die NZZ erklärt, warum es keine geschichtspolitische Wende ist, wenn die Russen den "Archipel Gulag" zur Pflichtlektüre in Schulen machen. Die SZ polemisiert gegen die China-Verteidiger Martin Roth und Wiebke Becker. Golem bringt ein Riesengespräch mit dem DRM-Papst Bill Rosenblatt, der erklärt, wie Microsoft das Google Book Settlement erfolgreich torpedierte.

TAZ, 02.10.2009

Anlässlich des Erscheinens seines neuen Buchs "Geschichte des Westens" spricht der Historiker Heinrich August Winkler über westlich Werte, die etwas an Glanz verloren haben: "Wenn Obama die Gründungsideen der Vereinigten Staaten mit einer scharfen Selbstkritik des Westens verbindet, kann er diesem Projekt seine Strahlkraft zurückgeben. Dann fällt es wieder leichter, an den transatlantischen Ursprung der westlichen Werte zu erinnern. Es stört mich schon lange, dass die EU selbstgefällig von europäischen Werten redet. Diese Werte sind zu einem erheblichen Teil in Nordamerika ausformuliert worden, erst danach begann ihre Karriere in Europa. Auch daran möchte ich mit meinem Buch erinnern."

Weitere Gespräche gibt es mit dem französischen Politikprofessor Marc Lazar über die Erschöpfung der europäischen Linken und mit der ehemaligen Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley über die DDR und "innere Haltung". Außerdem: Thomas Hübener erklärt, wie die schwedische Sängerin Sally Shapiro mit ihrer Italo-Disco-Stimme - "alles, was Amy Winhouse nicht ist" - ein Revival dieser Richtung befeuert. Dirk Knipphals unterwirft den neuen Kindler einer vierten Testrunde.

Besprochen werden die große Schau "Kunst und Kalter Krieg" im Berliner Deutschen Historischen Museum zu unterschiedlichen künstlerischen Entwicklungen in den beiden deutschen Staaten nach 1945, die Ausstellung "Koscher & Co." im Berliner Jüdischen Museum und Bücher, darunter Norbert Scheuers neuer Roman "Überm Rauschen", der französische Krimi "Ein Morgen wie jeder andere" von Christian Pernath, eine Biografie des Medienmoguls Rupert Murdoch und eine Streitschrift des amerikanischen Strafverteidigers Steven T. Wax "Kafka in Amerika", worin er schildert, wie der Krieg gegen den Terror die Bürgerrechte bedroht (mehr dazu in unserer Bücherschau ab 14 Uhr)

Und Tom.

FR, 02.10.2009

Bis August 2010 schreibt Ulrich Beck einmal im Monat auf, was ihm im Vormonat aufgefallen ist, und liefert die soziologische Deutung gleich mit. Unter anderem fragt er sich, worum es im Afghanistan-Einsatz geht, zum Beispiel nicht um den Sieg über die Taliban im Namen der Frauenrechte: "Nein, es geht wohl eher um einen Paradigmawandel des Militärischen, nämlich darum, wie in der sich selbst gefährdenden Zivilisation und damit in der Unwiderruflichkeit der Weltinnenpolitik globale Risiken, die existentiell alle bedrohen, aber nicht mehr klar lokalisiert und identifiziert werden können, 'präventiv', das heißt, ohne dass die Zivilisationskatastrophe eintreten kann, bekämpft oder minimiert werden können." Alles klar?

Weitere Artikel: Hans-Jürgen Linke kommentiert die Entscheidung des Bundessozialgerichts, dass Dieter Bohlen ein Künstler sei und somit Anspruch auf die KSK hat. Besprochen werden der Roman "Grenzgang" (mehr hier) von Stephan Thome (der übrigens den "aspekte"-Literaturpreis erhält), ein Liederabend des Countertenors David Daniels in Frankfurt, eine Retrospektive des Künstlers Jack Goldstein, ebenfalls in Frankfurt und Karin Beiers ausschließlich mit Frauen besetzte "Lear"-Inszenierung in Köln.

Welt, 02.10.2009

Tokio Hotel haben ein neues Album veröffentlicht, aber spricht irgendwer über die Musik? "Seit 20 Jahren, sagt Bill Kaulitz, sei er fremd auf Erden. Erst in der Provinz von Sachsen-Anhalt und erst recht im deutschen Popbetrieb, wo ältere Männer über Haare reden statt über fantastische Musik", schreibt Michael Pilz.

Weitere Artikel: Rainer Haubrich hat die Mitschrift eines Gesprächs gelesen, in dem Mies van der Rohe erzählte, wie das Bauhaus wirklich geschlossen wurde. Museen aus Dresden und Chemnitz müssen Raubkunst aus dem Besitz der Familie von Lehndorff zurückgeben, berichtet Uta Baier. Gabriela Walde findet es ziemlich schofelig, dass kein Museum die Werner-Tübke-Ausstellung zeigen wollte, die jetzt im "engen Kunstraum einer Bank" gezeigt wird. Dieter Bohlen ist laut Bundessozialgericht ein Künstler und muss deshalb in die KSK einzahlen, lesen wir in einer Meldung. Der Drehbuchautor Fred Breinersdorf erzählt die Geschichte der Anna Letenska, einer tschechischen Schauspielerin, die von den Nazis ermordet wurde und über die er einen Film gedreht hat. Hannes Stein sah und hörte Luc Bondys Inszenierung der "Tosca" an der New Yorker Met. Im politischen Teil berichtet Mariam Lau, dass sich Thilo Sarrazin für seine Äußerungen über Berliner Türken und Araber entschuldigt hat.

In der Literarischen Welt verkündet Hannes Stein den diesjährigen Welt-Literaturpreisträger: Philip Roth. Tilman Krause trifft den chinesischen Schriftsteller Dai Sijie in Paris. Besprochen werden unter anderem Walter Laqueurs Erinnerungen "Mein 20. Jahrhundert", Tymofiy Havrylivs Roman "Wo ist dein Haus, Odysseus?", einige Bücher über China und das Hörbuch "Lyrikstimmen".

Tagesspiegel, 02.10.2009

Henryk Broder darf den Besinnungsaufsatz zum 3. Oktober schreiben. Niemand kommt gut dabei weg, auch die Ossis nicht: "Heute sieht es danach aus, als würden sie sich und den Westdeutschen übel nehmen, dass sie tatsächlich an die Hand genommen und ins Wirtschaftswunderland geführt wurden. Sie agieren wie trotzige Kinder, die sich beweisen wollen, dass sie ihre Eltern nicht brauchen - aber erst nachdem sie eine Playstation, eine Stereoanlage, einen Computer und einen iPod bekommen haben."

Im Kulturteil wird die wiederveinigte Nation von der Psychoanalytikerin Vera Kattermann auf die Couch gelegt: "Ist die Nation auch seelisch zusammengewachsen? Betrachtet man das kulturelle Handeln, so finden sich kaum mehrheitsfähige Entwürfe einer deutschen Nachwende-Identität. Das gescheiterte Ausschreibungsverfahren für das Berliner Einheitsdenkmal, die eindimensionalen Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Bundesrepublik, das Ausblenden einer ostdeutschen künstlerischen Position in der Ausstellung '60 Jahre - 60 Werke': Bei der symbolischen Integration fällt die Bilanz ernüchternd aus."

Stichwörter: Einheitsdenkmal, Integration, Ipod

NZZ, 02.10.2009

Alexander Solschenizyns Großwerk 'Archipel Gulag' über das Leben im Gefangenenlager zur Stalinzeit wird demnächst im russischen Literatur- und Geschichtsunterricht gelesen, berichtet Ulrich M. Schmid und macht gleichzeitig klar, dass er darin keinen Startschuss für eine kritische Aufarbeitung der eigenen Geschichte in Russland sieht, sondern den "Versuch, eine bestimmte Deutung der Stalinzeit zu kanonisieren und damit die Vergangenheit des 'Staats' erzählbar zu machen, ohne dabei das 'Vaterland' aus den Augen zu verlieren. Dieser Masterplot schildert im Wesentlichen die tragische Geiselhaft des russischen Volks in den Händen von Stalins Schergen. Der 'Archipel Gulag' eignet sich also hervorragend dazu, Täterschaft auszublenden und eine allgemeine Selbstviktimisierung zu propagieren."

Besprochen werden eine Ausstellung über den Neoimpressionisten Georges Seurat im Kunsthaus Zürich, die Ausstellung "Schillers Schädel - Physiognomie einer fixen Idee" in Weimar und zwei neue Einspielungen von Beethovens Violinkonzert in D-Dur durch die jungen Interpretinnen Lisa Batiashvili und Patricia Kopatchinskaja.

Aus den Blogs, 02.10.2009

Ilja Braun resümiert in einem ausführlichen Hintergrundartikel auf irights.info die urheberrechtlichen Debatten der letzten Jahre. Ein Leistungsschutzrecht, so erläutert er, würde es Verlagen gestatten, "gegen unerlaubte Nutzungen im Internet auch ohne die Zustimmung der Urheber rechtlich vorzugehen und gegebenenfalls Schadensersatzforderungen geltend zu machen oder auch Gebühren zu erheben. Auf diese Weise möchten die Printverleger, die sich mit eigenen Webangeboten schwer tun, am wirtschaftlichen Potenzial des Internets partizipieren."

Golem bringt ein ellenlanges Gespräch, das Matthias Spielkamp mit dem Papst des Digital Rights Managements (DRM) Bill Rosenblatt geführt hat. Er hat eine Theorie zur Frage, warum das Google Book Settlement vorläufig gescheitert ist: Es liegt an dem Anwalt Gary Reback, der früher gegen Microsoft prozessierte und nun von Microsoft engagiert wurde, um gegen Google vorzugehen, "Jemand wie er spricht das US-Justizministerium an und sagt: Schaut euch das an, das ist eine große Bedrohung des Wettbewerbs, hier sind einige Belege, die zeigen, dass wettbewerbsfeindliches Verhalten vorliegt. Ihr solltet den Deal verhindern. Die Kartellabteilung des US-Justizministerium ist nicht gerade der eifrigste Verfolger von Wettbewerbsidealen. Man muss sie schon ganz schön anschieben, damit etwas passiert. Dass das Department of Justice (DoJ) nun aktiv geworden ist, ist ein direktes Ergebnis davon, dass Reback sich eingeschaltet hat."

Die Kulturtechnik des Schreibens wird nochmals revolutioniert, meldet Stan Schroeder in Mashable. Apple hat ein Patent auf eine Technik ehalten, die das Schreiben auf größeren Bildschirmen erlaubt: Therefore, Apple's new patent describes a far more sophisticated multitouch input method, allowing for use of all ten fingers, complex movements and, yes, proper typing. Built-in sensors should be able to distinguish various hand configurations, detect when the user wants the cursor to move, and enable various types of input (typing, manipulating 2D objects, and handwriting). We can't say all of this is definite proof that an Apple tablet is coming, but it's painfully easy to imagine all of this applied on such a device."

FAZ, 02.10.2009

In Großbritannien sind die Akten zur Reaktion der britischen Politik auf den Fall der Mauer und die Wiedervereinigung veröffentlicht worden. Gina Thomas stellt fest, dass Margaret Thatcher und das Außenministerium die Sache durchaus unterschiedlich angingen. Und sie zeigt sich fasziniert von "Randbemerkungen". Da schreibt etwa der außenpolitische Sekretär Charles Powell: "'Die deutsche Stunde hat geschlagen: Sie werden ihr Schicksal bestimmen.' Dazu Margaret Thatcher am Rand: 'Nationalismus, n'est-ce pas?' Einige Zeilen tiefer geht Powell auf Kohls Ärger über die britische Vorgehensweise ein. Sie wirke auf ihn wie der Versuch, die Flutwelle aufzuhalten, die ihn zum ersten Kanzler eines frisch vereinten Deutschland emportragen werde, einer künftigen Weltmacht. Diesmal merkt Frau Thatcher an: 'Gewaltiger Nationalismus'."

Weitere Artikel: Richtig findet Patrick Bahners das Gerichtsurteil, das muslimischen Schülerinnen und Schülern das Gebet in der Schule außerhalb des Unterrichts erlaubt - und fatal findet er die Kritik am Urteil von rechts und von links. Tobias Rüther ist sehr beredt der Ansicht, dass alle jetzt besser erst einmal schwiegen zu dem, was möglicherweise passiert in der Bundespolitik - und "Floskeln" wie die von der "sozialen Kälte" mag er erst recht nicht mehr hören. In der Glosse kann Edo Reents in ähnlicher Stimmungslage keine reflexhaften Meinungen mehr ertragen, wie etwa die, "dass amerikanische Fernsehserien viel besser seien als deutsche und dass den Kindern nicht mehr so viel vorgelesen werde". In seiner Kunst-Kolumne beklagt Eduard Beaucamp "West-Seilschaften" in der deutschen Kunstszene. Günter Paul macht uns mit dem Ardipithecus ramidus bekannt, einem Menschenvorfahren, der sich viel früher als bisher gedacht auf die Beine machte. Auf der Medienseite unterhält sich Michael Hanfeld mit Oliver Pocher, dessen neue Show heute erstmals auf Sat.1 läuft.

Im Aufmacher von Bilder und Zeiten begibt sich Mark Siemons auf eine Tour d'Horizon durch die chinesische Gegenwartsliteratur und stellt fest: "Was Goethe einmal gegenüber Eckermann als Kennzeichen der chinesischen Romane hervorhob - dass bei ihnen 'alles klarer, reinlicher und sittlicher zugeht' als bei uns -, scheint sich geradezu ins Gegenteil verkehrt zu haben. Chinesische Romane sind heute Schauplatz wüstester Exzesse, und jegliches Maß durch die sie umgebende Natur haben die handelnden Personen offenbar längst hinter sich gelassen." Jordan Mejias hat sich im neu eröffneten Walt Disney Family Museum (Website) in San Francisco umgesehen. Katharina Teutsch besucht zu dessen vierzigstem Geburtstag den Berliner Fernsehturm. Siggi Seuß unterhält sich mit der heute in Israel lebenden Nili Goren, die in einem Versteck in Amsterdam die Nazi-Besetzung überlebte - und durch die Briefe, die ihr Vater ihr in das Versteck schickte, berühmt wurden.

Besprochen werden ein von Christoph Loy inszenierter "Tristan" in London, die Jack-Goldstein-Ausstellung im Frankfurter Museum für Moderne Kunst, die Ausstellung "La Pittura di un Imperio" in Rom, ein Ballettprogramm, mit dem das Stuttgarter Ballett auf Tournee geht, und Bücher, darunter Silvia Bovenschens Kriminal- und Gesellschaftsroman "Wer weiß was" und - in Bilder und Zeiten - Norbert Scheuers Roman "Überm Rauschen" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 02.10.2009

Alex Rühle fasst sich an den Kopf, wenn er deutsche China-Verteidigungen von Martin Roth (hier) und Wibke Becker (in der FAS) lesen muss: "Becker zeichnet die westlichen Kritiker als rüpelhafte Grobmotoriker, wo doch die Chinesen 'im Begriff der Harmonie einen angemessenen Umgang des Miteinanders gefunden haben. Man übt Kritik lieber subtil statt geradewegs heraus.' Das sollte man dringend mal all den drangsalierten Regimegegnern erklären, Ai Weiwei mit seiner Kopfverletzung, Liu Xiaobo, dem PEN-Präsidenten, der seit zehn Monaten inhaftiert ist: Sorget euch nicht, das sind nur Zeichen eines harmonisch-subtilen Miteinander."

Weitere Artikel: Reinhard J. Brembeck stellt Dror Freilers Orchesterstück "Belagerungszustand" vor, das das br-Orchester im letzten Jahr aufzuführen sich weigerte (angeblich, weil es zu laut sei) - und nun doch spielt. Das Problem sieht Brembeck freilich eher in der Israel-Kritik des Stücks, und ein wenig heikel klingt auch das Credo des Komponisten, der nicht so sehr hasst wie denkende Zuhörer: "Wenn man aber so laut spielt, dass die Zuhörer nicht denken können, dann können sie zuhören." Alexandros Stefanidis und Kai Strittmatter reisen durch das Griechenland vor der Wahl - und erleben einen Staat als "organisiertes Gebrechen". Von der "X. Biennale de Lyon" (Website) berichtet Catrin Lorch. Alexander Menden meldet, dass Richard Prince' Nacktfoto der jungen Brooke Shields nun aus der Londoner "Pop Life"-Ausstellung entfernt wurde (mehr dazu im Tages-Anzeiger). Tobias Lehmkuhl war dabei, als in Berlin der Internationale Literaturpreis an den Autor David Alarcon und seine Übersetzerin Friederike Meltendorf vergeben wurde.

Im Aufmacher der feiertagshalber vorgezogenen SZ am Wochenende verteidigt Willi Winkler das Händeschütteln auch in Zeiten der Schweinegrippe. In einem ganzseitigen Reportage-Text berichtet Stefan Klein aus Afghanistan. Gerhard Matzig gratuliert dem Berliner Fernsehturm zum Vierzigsten. Auf der Historienseite erzählt der Augenzeuge Wilfried Romer vom Blut-und-Boden-ideologisch verseuchten Leben auf dem Land während des Zweiten Weltkriegs. Im Interview erklärt Frank Schätzing, dass es keine Formel für "Bestseller" gibt und was für ihn das Wichtigste ist: "Wenn ich etwas nicht komplett verstanden habe, dann schreibe ich auch nicht darüber."

Besprochen werden neue Bücher, darunter auch das erstmals veröffentlichte autobiografische "Rote Buch" von C.G. Jung. Christoph Türcke meint im Feuilleton-Aufmacher dazu: "Seine Gegner werden genügend Material dafür finden, dass er nicht nur schizoid, sondern manifest schizophren war." (Mehr dazu in der New York Times und in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).