Heute in den Feuilletons

Wie viele blaue Vierecke?

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.10.2009. Die Kritiker sind sich einig: Fassbinders Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod" ist kein Skandal, jedenfalls nicht in der Inszenierung Roberto Ciullis. Für den Guardian muss der Gedenkjournalismus enden, wenn der Journalismus nicht enden soll. In der Berliner Zeitung erklärt Herfried Münkler den Niedergang der SPD mit dem Mangel an Aufsteigern. Die Welt trauert um den intelligenten Graupapagei Alex.

Weitere Medien, 05.10.2009

Dan Gillmor stellt in einem Blog des Guardian 22 Regeln für einen neuen Journalismus auf. Regel Nummer 1 könnte unsere Feuilletons in Verlegenheit bringen: "We would not run anniversary stories and commentary, except in the rarest of circumstances. They are a refuge for lazy and unimaginative journalists." Es gibt auch schon eine deutsche Übersetzung des kleinen Manifests bei Ole Reißmann.
Stichwörter: Guardian, Journalismus

TAZ, 05.10.2009

Regine Müller fand Roberto Ciullis Inszenierung dreier Fassbinder-Stücke ziemlich lang. "In Mülheim gelingt Regisseur Roberto Ciulli immerhin klarzustellen, dass Fassbinder kein antisemitisches Stück geschrieben hat. Doch hat er es mit spitzen Fingern angefasst und weicht in der Verfremdung dem heißen Kern des Stücks doch nur aus."

Weitere Artikel: Benjamin Ortmeyer zeichnet einen Jenaer Streit um den Reformpädagogen Peter Petersen nach, der sich für die Nazis begeisterte - nach ihm wurde in der Stadt 1991 ein Platz benannt. Jürgen Vogt schreibt zum Tod der Sängerin Mercedes Sosa. In tazzwei berichtet Cigdem Akyol über den Droste Verlag, der aus Angst vor Islamisten einen Krimi Gabriele Brinkmanns über Ehrenmorde zurückzog.

Und Tom.

Welt, 05.10.2009

Stefan Keim wundert sich, dass Fassbinders umstrittenes Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod", das Roberto Ciulli zusammen mit zwei anderen Einaktern des Autors aufführte, so glatt über die Bühne ging: "Auch vor der Mülheimer Premiere äußerten der Zentralrat der Juden und die jüdische Gemeinde Kritik. Doch schon bei einer Diskussionsmatinee waren die Theaterleute unter sich. Vielleicht war es mehr eine Pflichtübung als wahre Entrüstung, eine Erinnerung an den historischen Moment, als erstmals nach dem Holocuast jüdische Bürger in Deutschland gemeinsam die Stimme erhoben."

Auf der Magazinseite unterhält sich Michael Miersch mit der Ornithologin Irene M. Pepperberg, deren Graupapagei Alex im recht zarten Alter von 31 Jahren gestorben ist - mit Alex hatte sie bewiesen, wie intelligent Papageien tatsächlich sind: "Als er anfing, Gegenstände richtig zu benennen, zunächst Papier und Schlüssel, zwei Dinge, die ihn sehr interessierten, waren wir schon ziemlich überrascht. Später brachten wir ihm Konzepte wie Farbe, Form und Zahl bei. Betrachtete er ein Tablett mit verschieden geformten, farbigen Holzplättchen, konnte man ihn fragen: Wie viele blaue Vierecke? Und er gab die richtige Antwort."

Weitere Artikel: Sven-Felix Kellerhoff sieht die Berufung Günther Heydemanns als Chef des Leipziger Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung, das bisher vor allem für seine Querelen bekannt wurde, als letzte Chance für das Institut. Hildegard Strausberg schreibt zum Tod von Mercedes Sosa. Uwe Wittstock gratuliert der Zeitschrift Titanic zum Dreißigsten und Uta Baier gratuliert A.R. Penck zum Siebzigsten.

Besprochen werden die Ausstellung "Alexander der Große und die Öffnung der Welt" in Mannheim und Michael Thalheimers Ödipus- und Antigone-Inszenierung in Frankfurt.

FR, 05.10.2009

So richtig begeistert ist Peter Michalzik zwar nicht von Michael Thalheimers Inszenierung des Antike-Doppels "Antigone" und "Ödipus" in Frankfurt, dennoch scheint sie etwas Wichtiges zu leisten: "Ein langes Luftholen ging durch das Frankfurter Schauspielhaus. Das Parkett atmete Theaterluft. Erleichterung, Freude, Zustimmung, alles noch etwas verhalten. Wie verkrampft das Verhältnis zwischen Stadt und Theater die letzten Jahre hier war, man merkte es so richtig erst am Donnerstag bei der Eröffnungspremiere der neuen Spielzeit."

Außerdem: In Times Mager betrachtet Judith von Sternburg einen sterbenden Papagei auf dem Bürgersteig. Auf der Medienseite schreibt Thomas Schuler zum Tod von Reinhard Mohn (man wünscht sich, er hätte die "Kritiker", die er zitiert, beim Namen genannt).

Besprochen werden Roberto Ciullis Inszenierung des Fassbinder-Stücks "Der Müll, die Stadt und der Tod" im Mülheimer Theater an der Ruhr (ob dies "ein antisemitisches Stück ist, fragt nach dieser Aufführung keiner mehr", meint Stefan Keim), die neue CD der Kings Of Convenience, Michel van der Aas Musiktheater "After life" in Amsterdam, einige lokale Ereignisse und Norbert Scheuers Roman "Überm Rauschen" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 05.10.2009

Für den Politologen Herfried Münkler hat sich die SPD mit ihrem Projekt des sozialen Ausgleichs in eine Sackgasse verrannt. Grund für ihren Niedergang ist nun "das Fehlen breiter, auf sozialen Aufstieg ausgerichteter Schichten. Letzteres hat nicht nur mit dem demografischen Wandel in Deutschland, sondern auch mit der Verfestigung einer Unterschicht auf Sozialhilfeniveau zu tun, die sich in parallelgesellschaftlichen Strukturen eingehaust hat."

NZZ, 05.10.2009

In einem ganzseitigen Artikel macht sich Nikos Tzermias daran, eine historische Erklärung für die seit Jahrzehnten andauernde Krise in Italien zu liefern. Als Sinnbild italienischer Denkweise dient das 'motorino': "Der Erfolgsschriftsteller Andrea Camilleri schrieb unlängst, dass für seine Landsleute das 'motorino', das kleine Motorrad, das Ideal zu sein scheine. Man könne sich darauf fortbewegen, ohne jegliche Verkehrsregel beachten zu müssen. Für Camilleri ist der Berlusconismus gerade auch deshalb bedenklich, weil er Ausdruck dieses Defekts der ewigen Schlaumeierei, des 'furbismo', ist."

Weiteres: Knut Henkel schreibt zum Tod der argentinischen Sängerin Mercedes Sosa. Besprochen werden eine Ausstellung über die Frankfurter Schule im Jüdischen Museum in Frankfurt am Main, die Inszenierung von Pierre Carlet de Marivaux' "Triumph der Liebe" durch Barbara Frey in Zürich (Barbara Villiger Heilig sieht sie mit "Entzücken"), ein Konzert des Mailänder Sinfonieorchesters in der Züricher Tonhalle sowie das Jubiläumsheft des Magazins Du zur 800. Ausgabe.

Spiegel Online, 05.10.2009

Henryk M. Broder bespricht Maxim Billers Buch "Der gebrauchte Jude": "Gleich auf den ersten Seiten seines Buchs bringt er sich mit Thomas Mann, Woody Allen, Heinrich Böll, Peter Handke, Franz Kafka und Philip Roth in Verbindung. Er meint es mitnichten ironisch, diese Giganten sind nicht seine Vorbilder, sondern seine Verwandten. Sie sind wie er, er ist wie sie. Nur Lumpen sind bescheiden, und wer von seinen Eltern Maxim genannt wurde, kann der Vorsehung nicht aus dem Wege gehen. Ich weiß, wovon ich rede: Mein zweiter Vorname ist Modest."

Aus den Blogs, 05.10.2009

Burkhard Müller-Ullrich verteidigt Thilo Sarrazins Äußerungen in umstrittenen Interview der Lettre International (Auszug1 und Auszug 2): "Sarrazin behauptet, dass in Berlin vierzig Prozent aller Geburten in der Unterschicht stattfinden, und erklärt damit, dass das Niveau an den Schulen kontinuierlich sinkt, anstatt zu steigen. Stimmt die Aussage etwa nicht? Sind es vielleicht zehn Prozent statt vierzig? Und steigt das Niveau vielleicht anstatt zu sinken? Man kann die Probe mit all den Reizsätzen machen, die jetzt zitatweise herumgereicht werden: Die Araber und Türken hätten einen zwei- bis dreimal höheren Anteil an Geburten, als es ihrem Bevölkerunganteil entspreche. Große Teile seien weder integrationswillig noch integrationsfähig. Wahr oder falsch?"

FAZ, 05.10.2009

Von der beim Publikum noch nicht recht erfolgreichen "Cologne Conference" (Website), die hochwertiges Fernsehen präsentierte, berichtet Oliver Jungen. Jordan Mejias ist sich ziemlich sicher, dass die Letterman-Affäre durch das Öffentlichmachen der Erpressung des Late-Night-Stars in der eigenen Sendung noch nicht ausgestanden ist. In der Glosse erklärt Regina Mönch, dass das in Berlin nun erlaubte muslimische Schulgebet auch schon zu Ausgrenzung angeblich nicht-Scharia-konform Betender durch strenggläubige Mitschüler geführt hat. Gina Thomas bezweifelt stark, dass die britische Zeitung Evening Standard (Website) jetzt als Gratisblatt mehr Geld verdienen wird. Dieter Bartetzko schreibt zum Tod der argentinischen Sängerin Mercedes Sosa. Zum Geburtstag gratuliert wird der Schauspielerin Sigourney Weaver (60), dem Autor Peter Ackroyd (60), dem Künstler A.R. Penck (70), dem Literaturwissenschaftler Ulrich Ott (70), dem Physiker Hans-Peter Dürr (80) und der Schauspielerin Liselotte Pulver (80).

Besprochen werden zur Frankfurter Saisoneröffnung "Ödipus" und "Antigone" in der Regie von Michael Thalheimer (Gerhard Stadelmaier findet's gelungen und freut sich vor allem, dass es in Frankfurt jetzt wieder Theater nach seinem Geschmack gibt), "Cabaret" und "Stadt aus Glas" in den Nebenspielstätten des Frankfurter Schauspiels, Roberto Ciullis Mülheimer Inszenierung von Rainer Werner Fassbinders umstrittenem Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod" (derart "entschärft" wie bei Ciulli, macht die Aufführung, bedauert Andreas Rossmann, in jedem Fall wenig Sinn), ein Konzert der Band "Maplewood" in Frankfurt und Bücher, darunter Rene Girards Studie "Das Ende der Gewalt" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 05.10.2009

Vasco Boenisch hat in Mülheim Roberto Ciullis Inszenierung von Fassbinders "Der Müll, Die Stadt und der Tod" gesehen und ist beeindruckt: "Dieser 'reiche Jude' stilisiert sich offensiv als Opfer, kokettiert gleichsam damit, hat also ein ebenso gestörtes Verhältnis zur eigenen Geschichte wie wir Zuschauer. Simone Thoma gibt ihn so aufgekratzt wie erschöpft, eine zerrissene Person. Nicht triumphierend, sondern tieftraurig fragt er: 'Bin ich ein Jud, der Rache üben muss an kleinen Leuten?!'"

Weitere Artikel: Im Feuilletonaufmacher entwickelt Andrian Kreye eine Theorie des "gaming the system", also einer Überlistung bestehender Systeme zum eigenen Vorteil, die bisher bestimmten Pilzen, Orchideen, Berlusconi, Apple und Google gelungen ist. "Das Album 'Humanoid' ist ziemlich gut geworden", konstatiert Helmut Mauro über die neue CD von Tokio Hotel, auch wenn die Band auf "das eklige obertonarme Boygroup-Falsett" vorerst nicht verzichten mag. Jean-Michel Berg mokiert sich in den "Nachrichten aus dem Netz" über Microsofts Versuch, die Kunden per viralem Marketing ("Feire eine Party") von Windows 7 zu überzeugen. Gemeldet wird, dass der Droste Verlag aus Angst vor Ärger mit Islamisten einen Krimi der Autorin Gabriele Brinkmann (Pseudonym W. W. Domsky) zurückzieht, in dem es um Ehrenmord geht. Henning Klüver berichtet von einer deutsch-italienischen Tagung über die Politik Berlusconis in Trient . Peter Burghardt schreibt zum Tod der argentinischen Sängerin Mercedes Sosa. Holger Liebs gratuliert A.R. Penck zum Siebzigsten.

Reinhard Mohn ist als Medien-Tycoon bedeutend genug, dass seiner auf der Seite 3 der SZ gedacht wird - Hans-Jürgen Jakobs schreibt den Nachruf. Auf der Medienseite bedenkt Caspar Busse die Konsequenzen für den Bertelsmann-Konzern.

Besprochen werden ein Konzert des Charles Lloyd New Quartett beim Enjoy-Jazz-Festival in Heidelberg, neue DVDs und Bücher, darunter Eva Menasses Erzählungsband "Lässliche Todsünden" und Frank Schätzings neuer Thriller "Limit" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).