Heute in den Feuilletons

Wenigstens eine Herta, die gewinnt

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.10.2009. In der NZZ beschreibt Yu Hua China als einziges großes Gebirgsdorf. In der FR konstatiert der Literaturblogger Han Han: Wenn es Nordkorea nicht gäbe, sähen wir ganz schön alt aus. Welt und FAZ besichtigen Ai Weiweis große Ausstellung in München. Die SZ besucht Claudio Magris in Triest. Die taz erfährt, was es kostet, Walt Whitman zu übersetzen. Und der Nobelpreis für Herta Müller bewegt nun auch Rumänien und Berlin.

NZZ, 10.10.2009

In Literatur und Kunst erklärt der Schriftsteller Yu Hua, wie China funktioniert: Als Gebirgsdorf. Wobei Gebirgsdorf in seinem chinesischen Sinne Shanzhai verstanden werden muss, als arme Gegend, Räuberlager und Billig-Kopie: "Das 'Gebirgsdorf'-Phänomen ist allgegenwärtig, nicht einmal die Politik - lange Zeit absolut tabu - blieb verschont. Während der Tagungen des Nationalen Volkskongresses meldete sich im Internet ein selbsternannter Gebirgsdorf-Parlamentarier mit einem eigenen Gesetzentwurf zu Wort, in dem es um Versicherungsfragen, Altersversorgung der Bauern, Einkommensteuer und anderes ging. Dieser Gebirgsdorf-Abgeordnete des Nationalen Volkskongresses, der offenbar über ein Höchstmass an schwarzem Humor verfügte, war sogar wirklich aus einer 'Wahl' hervorgegangen. Er erklärte, im Interesse einer echten Teilhabe an den Regierungs- und Parlamentsgeschäften habe seine Familie eine 'Wahlversammlung' einberufen, auf der er - einstimmig - zum Gebirgsdorf-Abgeordneten gewählt worden sei."

Weitere Artikel: Ludger Lütkehaus führt durch die chinesische Literatur. Matthias Messmer entdeckt in China einen gravierenden Mangel an Wahrheit.

Für das Feuilleton versammelt Markus Bauer enthusiastische bis vereinnahmende Reaktionen in Rumänien auf Herta Müllers Nobelpreis. Andreas Ernst berichtet von der schwierigen Lage der Homosexuellen in den Ländern des Balkans. Thomas Macho räsoniert über seinen Stil als Nachahmung. Kerstin Stremmel schreibt zum Tod des Fotografen Irving Penn. Besprochen werden eine Ausstellung zu Renoirs Spätwerk im Pariser Grand Palais und Avraham Burgs zionismuskritisches Plädoyer "Hitler besiegen" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 10.10.2009

Bernhard Bartsch stellt die junge Literatenszene in Peking vor, die sich in privaten Buchhandlungen trifft und nicht zuletzt auch in Blogs veröffentlicht. Ein Star unter den Literatur-Bloggern ist der 27jährige Han Han, der im Gespräch erklärt: "'Ich versuche, immer an die Grenze zu gehen und sie jedes Mal ein bisschen weiter hinauszuschieben', sagte Han. 'Ich habe das Glück, schon seit einigen Jahren berühmt zu sein, weshalb ich mir mehr erlauben kann als viele andere.' Zwar will auch er sich nicht auf Frontalkämpfe mit dem Regime einzulassen, aber mit 'Batman-Journalismus' könne man auch in China für das Gute kämpfen. 'Meiner Meinung nach ist Pressefreiheit im Moment das wichtigste Thema in China, denn ich glaube an die Macht von Informationen', meint Han. 'Heute sind viele Chinesen stolz darauf, dass es bei uns schon viel besser ist als in Nordkorea, aber wenn es Nordkorea nicht gäbe, sähen wir ganz schön alt aus.'"

Weitere Artikel: Tobi Müller schildert das Phänomen des Klassik-Elektronik-Crossovers vor, das in letzter Zeit erstaunlich interessante Ergebnisse zeitigt. Marcia Pally erlebt im Aufzug, wie schnell in den USA Einwandererkinder zu Amerikanern werden. In einer Times Mager findet Christian Thomas, dass es sich wirklich nicht gehört, den Mond zu beschießen.

Besprochen werden ein Frankfurter Konzert zum achtzigsten Geburtstag des HR-Sinfonieorchesters, die Ausstellungen des unter den Titel "Images Recalled - Bilder auf Abruf" gestellten Foto-Festival Mannheim-Ludwigshafen-Heidelberg und die Ausstellung "Sprachen des Futurismus" im Martin-Gropius-Bau in Berlin (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

nachtkritik, 10.10.2009

Über eine interessante Diskussion aus Halle berichtet Esther Slevogt im führenden deutschen Theaterblog Nachtkritk. Dirk Laucke erarbeitete ein Stück mit berüchtigten Hallenser Fußballfans, die die Fans einer gegnerischen Mannschaft gern mit "Juden Jena"-Rufen empfangen, die nun auch im theater zu hören sind. Und "während die Lokalpolitik in Halle, kräftig von der Presse sekundiert, Laucke vorwirft, Antisemitismus unwidersprochen ein Forum verschafft zu haben, beschuldigen die Ultras Laucke jetzt, sie in diese Szene hineingeredet zu haben. Sie selbst würden ja längst nicht mehr 'Juden Jena' rufen, aber Laucke habe darauf bestanden, dass dies im Stück vorkommen soll. Allerdings braucht man nur einmal rein körperlich den schmalen Dirk Laucke gegen die teilweise sehr massiv gebauten Spieler zu setzen, um sich zu fragen, ob es tatsächlich möglich ist, diese nahkampferprobten jungen Männer zu irgendetwas zu bewegen, was sie nicht selber wollen."
Stichwörter: Antisemitismus, Jena

Welt, 10.10.2009

Die Ai Weiwei-Aussstellung im Münchner Haus der Kunst ist eröffnet. Uta Baier schreibt: "All das, was ihn bekannt machte, ist jetzt in München zu sehen, und das meiste ist schon vorab erklärt und beschrieben worden. Doch all das Wissen reicht nicht, um die Arbeiten Ais auch zu verstehen. Die riesigen Hallen im Haus der Kunst sind gerade groß genug für die hundert Baumreste, die Tempelstützen und all die Fotos, die Ai von Chinesen, von sich und seinem Leben gemacht hat. Hier zeigt einer sein Innerstes, hier trauert einer unter den Zerstörungen der eigenen Kultur."

Weitere Artikel: Eckhard Fuhr begrüßt die nun wahrscheinliche Aufnahme der Kultur und der deutschen Sprache in die Reihe der Staatsziele des Grundgesetzes. Wolfgang Scheida sammelt rumänische Reaktionen zum Literaturnobelpreis für Herta Müller. Sascha Lehnartz verfolgt die französische Debatte um den Kulturminister Frederic Mitterrand, der in seinen Memoiren zugibt, mit Strichjungen geschlafen zu haben. Michael Stürmer gratuliert der Berliner Humboldt-Universität zum Zweihundertsten.

Die Literarische Welt bringt ein Porträt Martin Amis' über Roman Polanski, das den Nachteil hat, von 1979 zu sein. Uwe Wittstock staunt über den großen Beitrag der Rumäniendeutschen zur deutschen Literatur. Besprochen wird unter anderem Lewis Lockwoods große Beethoven-Biografie "Beethoven - Seine Musik. Sein Leben".

TAZ, 10.10.2009

Kirsten Küppers und Dirk Knipphals erzählen, wie die deutsche Übersetzung von Walt Whitmans Klassiker "Leaves of Grass" entstand. Sie haben den Übersetzer Jürgen Brocan ebenso wie seinen Lektor und den Verleger Michael Krüger besucht. Was man erfährt, ist instruktiv, dürfte jedoch nur zu allem Entschlossene zur Nachahmung ermutigen: ""Als Brocan die letzte Fassung nach München schickt, ist es April geworden, vier Monate später als geplant. Aber er hat es geschafft. Er sagt: 'Ich war fix und fertig, einfach völlig kaputt. Ausgelaugt, auch körperlich.' Ein Schrotthaufen... " Und Michael Krüger: "'Als das Buch kam, habe ich vor Freude darüber gestrahlt. Dass ich das noch erleben kann!' Er macht sich wohl Gedanken darüber, was dauerhaft bleiben wird von seinem Tun. Diese Übersetzung könnte dazugehören. Der Verleger zündet sich eine Zigarette an, steht einmal auf, setzt sich wieder hin. Dann sagt er: 'Der Stolz auf das Buch ist größer als der Schmerz über das Geld, das man dabei verliert.'"

Weitere Artikel: Ralf Sotscheck und Harry Rowohlt unterhalten sich in einem recht langen Gespräch über das Übersetzen, die Polyneuropathie, Griechenland-Urlaube und den ganzen Rest. Zu seinem neuen Film, dem Palmenpreisgewinner "Das weiße Band" befragt Dietmar Kammerer den Regisseur Michael Haneke. Jutta Lietsch berichtet über die Bestseller-Produktion in China. Dirk Knipphals beendet seine Kolumne zum neuen Kindler mit der Hoffnung auf einen Kindler-App fürs iPhone. Peter Unfried schreibt über Maxim Biller und dabei auch über dessen jüngstes Buch "Der gebrauchte Jude". In der "Leuchten der Menschheit"-Kolumne geht es um den "Haiderismus" ein Jahr nach Jörg Haiders Tod. Ambros Waibel spricht mit Anti-Maffia-Anwalt Raffaele Cantone - Autor des Buchs "Allein für die Gerechtigkeit" - über dessen Kampf gegen die Camorra .

Besprochen werden und Bücher, darunter Frank Schätzings neuer Thriller "Limit" und Yiang Xianhus Interviews "Die Rechtsabweichler von Jiabiangou" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

Berliner Zeitung, 10.10.2009

Harald Jähner artikuliert die Gefühle des Berliners zum Literaturnobelpreis: "Man muss Herta Müller nicht gelesen haben, um als Berliner stolz auf den Nobelpreis zu sein. Wenigstens eine Herta, die gewinnt..."

SZ, 10.10.2009

Thomas Steinfeld ist nach Triest gefahren, den dort lebenden diesjährigen Friedenspreisträger Claudio Magris zu besuchen. Heraus kommt das Porträt eines vielseitigen Alteuropäers: "Er ist ein Journalist, der seit über dreißig Jahren für den Corriere della Sera schreibt. Er ist ein Dichter. Er ist ein Politiker, obwohl es vielleicht doch eher ein Zufall war, der ihn in den neunziger Jahren für eine Weile zum Senator machte - er habe nie einer Partei angehört, sagt er, und sei plötzlich der einzige Kandidat der linken Liste gewesen. Und obwohl er nun wirklich auch Professor ist, arbeitet er sehr unakademisch - im Kaffeehaus nämlich, genauer: im Cafe San Marco, einem Ort, in dem man, wie Claudio Magris erklärt, keine Predigten halten, keine Versammlungen abhalten und auch nicht dozieren kann; in der Bahn, auf Reisen."

Weitere Artikel: Der dissidentische chinesische Künstler Ai Weiwei erzählt in Handy-Fotos die Geschichte seiner Protest-Reise in die Provinz Sechuan. Er war nach Chengdu gefahren, um an die Kinder zu erinnern, die beim Erdbeben in der Region in Schulen ums Leben kamen, weil die korrupte Verwaltung billig und schlecht gebaute Gebäude bauen ließ. Er wurde dort verhaftet und brutal geschlagen. Jörg Häntzschel hat in New York Spike Jonzes Verfilmung von Maurice Sendaks als unverfilmbar geltendem Kinderbuchklassiker "Where the Wild Things Are" gesehen - und zeigt sich überrascht, wie gut der Film trotz eines langen "Nervenkriegs" zwischen Studio und Regisseur gelungen ist. Reinhard J. Brembeck meldet, dass Christian Thielemann München nun endgültig verlassen wird: Er hat nunmehr einen Vorvertrag mit der Staatskapelle Dresden unterschreiben. In Mailand hat Henning Klüver den Schriftsteller Roberto Saviano bei einem Theaterabend in Mailand erlebt, bei dem der Autor in dramatisierten Versionen eines Bandes mit neuen Essays und Artikel auftrat.

Im Aufmacher der SZ am Wochenende denkt Evelyn Roll anlässlich des Falls Sarrazin über bewussten "Tabubruch" als Medienstrategie nach. Petra Steinberger meditiert über das wachsende Unglück der immer erfolgreicheren Frauen in westlichen Gesellschaften. Andreas Bernard zeichnet ein genaues und - darf man das sagen - fast liebevolles Porträt des Autors Rainald Goetz, in dem dessen neues Buch "Loslabern" eher Anlass als Gegenstand ist. Gerhard Matzig feiert das Ikea-Regal "Billy" als "Kunstwerk der Moderne". Auf der Historienseite erinnert sich Albert Wucher, Jahrgang 1920, an den Zweiten Weltkrieg. Joachim Käppner unterhält sich mit dem Rick Atkinson, Autor historischer Sachbücher, über das Verschwinden der Zeitzeugen. Der Schriftsteller Colum McCann erzählt eine Geschichte über seinen jüngst verstorbenen Kollegen Frank McCourt. Im Interview spricht der in Italien lebende britische Autor Tim Parks über "Macht", aber auch darüber, was Engländer immer schon ins Ausland gezogen hat: "Die Leute konnten echten Sex erleben, das ist schon mal ein guter Grund, ins Ausland zu gehen."

Besprochen werden das Saisoneröffnungskonzert der br-Sinfoniker unter Mariss Jansons mit Werken von Lutoslawski und Tschaikowsky und Bücher, darunter Stephan Thomes Roman "Grenzgang" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 10.10.2009

Niklas Maak berichtet beeindruckt von der Ausstellung Ai Weiweis im Münchner Haus der Kunst, der darin auch eine riesige Wand aus Schulranzen aufgebaut hat, die an die Kinder erinnern soll, die beim Erdbeben von 2008 in schlampig gebauten Schulen ums Leben gekommen sind: "Im Internet hatte Ai eine Namensliste veröffentlicht; er wies darauf hin, dass diese Kinder nicht Opfer einer Naturkatastrophe, sondern Opfer politischer Missstände, nämlich der Korruption beim Bau öffentlicher Gebäude, geworden waren. Womit er für einen politischen Skandal sorgte: Auch wegen Ai hatte man in Peking zugeben müssen, dass 5335 Kinder in den Tofu-Schulen gestorben waren. 'Man hatte die Schulranzen der toten Kinder liegengelassen', sagt Chris Dercon, Leiter des Münchner Hauses der Kunst, 'aber jemand hatte die Namensschilder entfernt.'"

Noch einmal eine ganze Seite widmet die FAZ den Reaktionen in Rumänien auf den Nobelpreis für Herta Müller. Der Siebenbürgener Autor Frieder Schuller zitiert unter anderen den Philosophen Andrei Plesu: "Für Herta Müller hätte auch ein Nobelpreis der Menschlichkeit erfunden werden müssen." Hans Herbert Gruenwald weiß auch von gehässigen Stimmen früherer Securitate-Offiziere zu berichten, die über die Summen spekulieren, für die Müller aus Rumänien freigekauft werden musste.Tobias Rüther unterhält sich mit der Chefredakteurin der Hermanstädter Zeitung, Beatrice Ungar, die Herta Müller für eine ganz und gar deutsche Autorin hält.

Weitere Artikel: Jürg Altwegg erkennt in der Pariser Aufregung um die Sexreisen des französischen Kulturministers Frederic Mitterand auch einen zunehmend im Netz ausgetragenen Klassenkampf gegen die Elite des Landes, der unterstellt werde, dass sie "jeden Angeklagten aus den eigenen Reihen blind und mit Erfolg verteidigt". Dirk Schümer nimmt Abschied von Venedig, wo er gelernt hat, dass der "Dauerbeschuss sozialer Gewichtung" nicht mit Herzlichkeit verwechselt werden dürfe. Jürgen Dollase preist den Berliner Koch Tim Raue als Solitär der Aromenkonstruktion. Martin Otto war auf einer Historikertagung über "Staatsmänner im Krieg". Oliver Jungen schreibt zum Tod des Schriftstellers Raymond Federman. Hans Berndorff verfasst den Nachruf auf den Gräzisten Hugh Lloyd-Jones.

Besprochen werden Stücke von John Cassavetes und Marius von Mayenburg in Mannheim, eine neue CD von Cecilia Bartoli mit Arien aus der neapolitanischen Kastratenschule, das Album "God and Guns" von Lynyrd Skynyrd und die Klaviertrio-Aufnahme "Out of Track" von Giovanni Mirabassi.

In Bilder und Zeiten trifft Sandra Kegel den Schriftsteller und Sinologen Stephan Thome, mit dem sie sich über seinen Überraschungserfolg "Grenzgang" und unser Verhältnis zu China unterhält. Hubert Spiegel besucht den Szenenbildner Klaus-Peter Platten, der den "Tatort" mit Kommissariaten versorgt. Kerstin Holm geht über die Art Moscow.

In der Frankfurter Anthologie stellt Kathrin Fehlberg Stefan Georges Gedicht "Du schlank und rein wie eine flamme" vor:

"Du schlank und rein wie eine flamme
Du wie der morgen zart und licht..."