Heute in den Feuilletons

Melonen sind Symbole der Entwicklung

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.10.2009. Die Feuilletons sehen die schmähliche Entlassung Peter Ripkens, der den China-Gastland-Auftritt der Buchmesse koordinierte, als Bauernopfer - aber für oder gegen die Meinungsfreiheit? Die Welt fragt mit Derrida: Warum malte van Gogh zwei linke Schuhe? Die NZZ sondiert die Angst der Bertelsmänner vor Liz Mohn. Aggregat7 fragt: Warum sind in der Wikipedia Lokomotiven relevant, Bahnhöfe aber nicht?

FR, 20.10.2009

Nicht nur Dai Qing (mehr hier), sondern auch Bei Ling (mehr hier) wurde bei der Abschlussveranstaltung der Buchmesse abserviert, erfuhr Natalie Soondrum. "'Auch ich hatte Ende September, Anfang Oktober eine Einladung von Claudia Kaiser erhalten, um beim Farewell Empfang eventuell zu sprechen.' Wie Dai Qing sei auch er davon ausgegangen, er werde auftreten. 'Peter Ripken hatte mir empfohlen, nicht immer nur über Politik zu reden, sondern auch mal bei Auftritten meine Lyrik vorzustellen. Die Idee fand ich ausgezeichnet', sagt er im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau. (...) Am nächsten Tag habe Ripken ihn dann gegen 12 Uhr angerufen und ihm abgesagt, mit der Begründung, es gebe keine offiziellen Redebeiträge am Abend."

Auf der Medienseite berichtet Hannes Gamillscheg über einen schwarzen Tag bei der angesehenen lettischen Tageszeitung Diena, nachdem bekannt geworden war, dass der neue Eigentümer, die britische Familie Rowland [mehr hier und hier], einen Sparplan vorgelegt hat, "der die halbe Belegschaft in den Ausstand trieb. Chefredakteurin Nellija Locmele, Redaktionschefin Anita Brauna und Chefkommentator Pauls Raudseps verließen mit elf weiteren Journalisten die Zeitung."

Weitere Artikel: Bernhard Bartsch fasst - offizielle und inoffizielle - chinesische Reaktionen auf die Buchmesse zusammen. In Times Mager sinniert Judith von Sternburg über einen Schausteller, der sich als Pfarrer ausgegeben hat.

Besprochen werden (im Aufmacher) Sönke Wortmanns Verfilmung der "Päpstin" ("In der altertümlichen 'Hosenrolle' der Päpstin kehrt sie nun all diese äußere Attraktivität nach innen und vermittelt auf unwiderstehliche Weise den Charme des Intellekts", lobt Daniel Kothenschulte die ehemalige Ensslin-Darstellerin Johanna Wokalek in der Rolle der Päpstin), ein "Siegfried" in Hamburg, eine "Tristan und Isolde" in London, David Böschs Inszenierung von Grillparzers "Das Goldene Vließ" am Deutschen Theater Berlin, eine Markus-Lüpertz-Ausstellung in der Bundeskunsthalle in Bonn und Bücher, nämlich Jean Zieglers Band "Der Hass auf den Westen" und Georg Diez' Buch über den "Tod meiner Mutter" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 20.10.2009



Eines der philosophiegeschichtlich umstrittensten Kunstwerke ist das "kunsthistorisch wenig bedeutsame" (so Uta Baier) Van-Gogh-Gemälde "Schuhe", dem das das Kölner Wallraf-Richartz-Museum eine kleine Ausstellung widmet. Heidegger sah in den Schuhen, den Negativabdruck des Lebens einer Bäuerin, der Kunsthistoriker Meyer Schapiro ein Selbstporträt, bis dann Jacques Derrida mit seiner "Verite en peinture" kam: "Derrida wiederum zweifelt daran, dass das Bild überhaupt ein Paar Schuhe zeigt. Und in der Tat: dargestellt sind zwei linke Schuhe. Diese Beobachtung eröffnet ganz neue Möglichkeiten der Interpretation. Auch die nach Sigmund Freud, die Derrida lustvoll in Betracht zieht. Denn so betrachtet, könne ein Schuh männliches, der andere weibliches bedeuten. Die Vorstellung von der Malerei als Spiegel der Realität hat aus Derridas Sicht jedenfalls endgültig ausgedient. 'Diese Schuhe sind eine Allegorie der Malerei.'"

Sascha Lehnartz liest eine deprimierende Studie (mehr hier) über die kulturellen Praktiken der Franzosen: "Mit Ausnahme des Kinos, so stellt der Bericht fest, suchen Geringverdiener kaum noch Kulturstätten auf. Theater, Opernhäuser und Museen werden von Besserverdienenden nahezu monopolisiert. Unaufhaltsam scheint auch der Bedeutungsverlust des Buches für weite Teile der Bevölkerung zu sein." (Gibt es ähnliche Studie über die Deutschen?)

Weitere Artikel: Olaf Neumann unterhält sich mit dem Schauspieler Thomas Thieme über seine Rolle als Helmut Kohl in einem heute Abend laufenden Historienfilm des ZDF. Hannelore Crolly unterhält sich mit mit Donna Cross und Sönke Wortmann, der Autorin und dem Regisseur der "Päpstin"-Verfilmung. Kirchenexperte Gernot Facius bezweifelt, dass es so etwas wie eine Päpstin je gab. Wieland Freund liest eine weitere Folge der Science-Fiction-Satire "Per Anhalter durch die Galaxis" von Eoin Colfer.

Für den Forums-Essay liest Uwe Schmitt die kurz nach seinem Tod erschienen Memoiren Ted Kennedys (Auszüge).

TAZ, 20.10.2009

Björn Gottstein berichtet von den Musiktagen in Donaueschingen. Am besten haben ihm Mathias Spahlingers "etüden für orchester ohne dirigent" gefallen: "Die einzelnen Etüden heißen zum Beispiel 'verzweigung', 'äquidistanz' oder schlicht 'treppauf, treppab'. Spahliner geht es um die Selbstbestimmung des Musikers, darum, dass Musik entsteht, wenn alle aufeinander hören und den musikalischen Prozess gleichermaßen prägen. Im Verlauf des vierstündigen, vom Publikum frei begehbaren Stückes entstanden immer wieder Momente von fast magischer Schönheit, ein Kairos, in dem sich ein musikalischer Prozess erfüllte, aber auch Augenblicke des Suchens, des Stockens und der zerfließenden Ungewissheit."

Hannes Koch ruft zum "strategischen Verbrauch" auf, und zwar nicht nur bei Strom und Lebensmitteln, sondern auch bei Banken und Geldgeschäften: "Wer sein Geld in die üblichen Fonds einzahlt, braucht sich nicht zu wundern, wenn dieses schließlich zur Finanzierung aller möglichen Arten risikoreicher Wertpapiere missbraucht wird, die die Finanz- und Wirtschaftskrise verursachten."

Weiteres: Julia Große erzählt von ihrem verstörenden Ausflug zum britischen Landadel. In der tazzwei fragt Joachim Lottmann, warum Oskar Lafontaine so gehasst wird. Auf der Medienseite widmen sich Steffen Grimberg und Bernhard Hübner den Spar- und Kooperationsplänen bei SZ und Abendzeitung. Besprochen wird die Ausstellung der Berliner Künstlerin Berliner Künstlerin Peggy Buth im Württembergischen Kunstverein Stuttgart.

Und Tom.

NZZ, 20.10.2009

Auf der Medienseite zeigt sich Thomas Schuler besorgt, dass Liz Mohn, die Witwe des ehemaligen Bertelsmann-Chefs Reinhard Mohn, nach dem Tod ihres Mannes zur absoluten Machtfigur bei Bertelsmann aufgestiegen ist und ihre Macht auch einsetzt: "Doch während ihr Mann seine Mitarbeiter trotz allen Widersprüchen hinter sich wusste, misstrauen sie Liz. Das war bisher so, und dieses Misstrauen und die Angst vor ihr und ihren als emotional geltenden Entscheidungen werden nun aufgrund ihrer beängstigend großen Macht zunehmen. Liz Mohn versichert seit ihrer Machtübernahme im Jahr 2003, sie sei lediglich überwachend tätig und sorge dafür, dass Tradition und Unternehmenskultur gewährleistet blieben. Ehemalige leitende Manager wie Thomas Middelhoff, Mark Wössner und Gerd Schulte-Hillen haben mit ihrem Ausscheiden das Gegenteil bezeugt."

Weitere Artikel: Ebenfalls auf der Medienseite meldet Rainer Stadler, dass Kinder in Palästina lieber "Tom und Jerry" schauen als antijüdische Propaganda. Klaus Bartels widmet sich in seiner Sprachglosse dem "Kapitalismus".

Besprochen werden die Inszenierung der "Heiligen Johanna der Schlachthöfe" am Schauspielhaus Dresden durch den neuen Intendanten Wilfried Schulz (für Dirk Pilz zum Glück keine "billige Kapitalismus-Schelte"), die Aufführung von Giovanni Simone Mayrs Oper "Medea in Corinto" am Theater St. Gallen durch David Alden und Bücher, so die städtebauliche Comic-Studie "MetroBasel" des ETH-Studios Basel, John Updikes letzter Gedichtband "Endpunkt", Tymofiy Havrylivs Roman "Wo ist dein Haus, Odysseus?" Abdalrachman Munifs Saudiarabien-Chronik "Das Spiel von Licht und Schatten" sowie die Erstübersetzung von Peter Nadas' Debüterzählung "Die Bibel" von 1962 (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 20.10.2009

(Via Netzpolitik) In einem Essay für Aggregat7 fragt Pavel nach den Kriterien der deutschen Wikipedia: "Zeitungen sind nur relevant, wenn sie eine Vollredaktion oder eine Auflage von 50.000 Exemplaren haben. Dafür ist jedes gebaute Flugzeugmuster relevant, unter Umständen auch nicht gebaute Flugzeugmuster. Alle offiziellen Fluggesellschaften und alle offiziellen Flugplätze sind auch relevant, selbst wenn es sich nur um eine Wiese handelt. Lokomotivbaureihen sind relevant, Bahnhöfe und Zuglinien sind irrelevant. Handelsschiffe sind nur als Bauserienartikel relevant. Kriegsschiffe sind grundsätzlich relevant."

Es gibt nicht nur den (oder das?) Kindle: paidcontent.org berichtet über E-Reader Madness: The Nook, The Que, The Alex."
Stichwörter: Madness, Netzpolitik, Wikipedia, Kindle

SZ, 20.10.2009

Alex Rühle kommentiert den pünktlich am Tag nach der Buchmesse erfolgten Rausschmiss des für das China-Programm der Messe zuständigen Peter Ripken: "ein schmähliches Ende. Natürlich war sein Verhalten ungeschickt. Dennoch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er eine Art Bauernopfer darstellt. Er arbeitete jahrzehntelang für die Buchmesse, machte viele Autoren hierzulande erst bekannt, setzte sich für regimekritische Schriftsteller ein."

Weitere Artikel: Sonja Zekri besucht für eine Reportage Wassermelonenzüchter in Astrachan ("Melonen muss man sich leisten können. Melonen sind Symbole der Entwicklung und des Fortschritts"). Tobias Haberkorn liest einen offenen Brief des Nobelpreisträgers Jean-Marie Gustave Le Clezio an den Nobelpreisträger Barack Obama. Der Autor setzt sich für die Bewohner des britischen Chagos-Archipels im Indischen Ozean ein, die von den Briten nach Mauritius umgesiedelt wurden, um die Inseln an das amerikanische Militär zu vermieten - der Brief wurde gestern in Le Monde publiziert. Haberkorn verfolgte auch eine Münchner Tagung zum Thema "Wissenschaft und Politik". Kristina Maidt-Zinke berichtet von einer europäischen Literaturtagung auf Schloss Hainfeld in Kärnten. Roswitha Budeus-Budde wohnte der Verleihung der Jugendliteraturpreise auf der Frankfurter Buchmesse bei. Und der Philospzh Michael Hampe erinnert an John Dewey, der in diesen Tagen 150 Jahre alt würde.

Besprochen werden die Ausstellung "De Byzance a Istanbul" in Paris, Tankred Dorsts Moliere-Hommage "Ich soll den eingebildeten Kranken spielen" am Nationaltheater Luxemburg, der Animationsfilm "G-Force - Agenten mit Biss" (mehr hier), Martin Schläpfers erste Choreografien in Düsseldorf (er scheitete laut Eva-Elisabeth Fischers an Lutoslawskis monumentaler Dritter Sinfonie), ein "Siegfried" unter Claus Guth und Simone Young in Hamburg, eine Einspielung von Vivaldi-Arien mit Magdalena Kozena, eine Erwin-Wurm-Ausstellung in München.

Auf Seite 3 schreibt Renate Meinhof eine Seite-3-Reportage über den Streit zwischen Rolf Hochhuth und Claus Peymann ("Wolken, wundgerändert von Abendsonne. Hochhuth vor Tiergartenpanorama, sich langsam eine Krawatte bindend. Ganz hinten links eine Triumph-Schreibmaschine auf doppelt gehäkelter Unterlage...") Auf der Medienseite hält der Fernsehfilmredakteur Gebhard Henke fest, dass "Fernsehfilmredakteure keine Schmarotzer und Blutsauger" sind.

FAZ, 20.10.2009

Feuilletonaufmacherwürdig erscheint der FAZ Thomas Schadts Fernsehfilmporträt des Dr. Helmut Kohl. Michael Hanfeld ist begeistert von dieser Apotheose des Kanzlers als Mensch: "Und das ist das wahrhaft Überraschende an dem 'Mann aus der Pfalz'- ein Kanzlerbild wird entzaubert und ein Helmut Kohl vorgestellt, den kaum einer kennt."

Weitere Artikel: In der Glosse beurteilt Oliver Jungen den Abgang des Buchmessen-Gastland-Verantwortlichen Peter Ripken als "Bauernopfer nicht für, sondern gegen die Meinungsfreiheit". Der Wissenschaftshistoriker George Dyson erklärt, warum Leben ein "kollektiver Superorganismus" ist. Renate Klett berichtet vom Theaterfestival "Dialog" in Breslau. Jürg Altwegg schildert, was der Tod des Westschweizer Autors Jacques Chessex mit der Verhaftung Roman Polanskis zu tun hat - und warum die Schweiz jetzt nach einem "Mörder" fahndet, der nichts tat, als zu sprechen und dann zu gehen.

Besprochen werden vier Uraufführungen von Choreografien "In the Spirit of Diaghilew" in London, Claus Guths Inszenierung des "Siegfried" im Rahmen des Hamburger "Ring"-Projekts, ein Konzert Joshua Redmans mit seinem Trio in Mannheim, eine "Daniel Mauch"-Ausstellung im Ulmer Museum und Bücher, darunter Warlam Schalamows Erzählungen aus Kolyma in zwei Bänden (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).