Heute in den Feuilletons

Ethik auf der Höhe der Zeit

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.10.2009. In der FAZ stellt Karl-Heinz Bohrer im Streit zwischen Peter Sloterdijk und den Verbliebenen der Frankfurter Schule die Freiheit zurück an ihren Platz (über der Gleichheit). Die NZZ glaubt nicht an die Segnungen des Neuro-Enhancement. Laut Carta plant die neue Regierung ein Leistungsschutzrecht für Presseverlage. Die Prager Zeitung Lidove Noviny kommentiert neu aufgefundene Dokumente, die die Vorwürfe gegen Milan Kundera bekräftigen.

Aus den Blogs, 21.10.2009

"Koalition plant Leistungsschutzrecht für Verlage", meldet Carta und zitiert aus dem Entwurf des Koalitionsvertrags: "Verlage sollen im Online-Bereich nicht schlechter gestellt sein als andere Werkmittler. Wir streben daher die Schaffung eines Leistungsschutzrechts für Presseverlage zur Verbesserung des Schutzes von Presseerzeugnissen im Internet an."

Wir verweisen zu diesem Thema nochmal auf eine Recherche von Matthias Spielkamp, die auch im Perlentaucher auszugsweise veröffentlicht wurde. Dort erläutert der Medienrechtler Udo Branahl, wie ein Leistungsschutzrecht aussehen könnte und kommt zum Schluss, dass es ein "Bruch mit sämtlichen kontinentalen Freiheitstraditionen" wäre: "Jemand, der eine Nachricht als Erster verbreitet, hätte eine Monopolstellung und könnte die Verbreitung von Informationen verhindern."

Weitere Medien, 21.10.2009

Die Prager Zeitung Lidove Noviny ist in den Besitz eines bislang unentdeckten Dokuments gelangt, das den Vorwurf gegen den Schriftsteller Milan Kundera erhärtet, 1950 im stalinistischen Prag den Antikommunisten Miroslav Dvoracek an das Regime verraten zu haben. Es handelt sich um das Manuskript eines Vortrages des damaligen stellvertretenden Ministers für Nationale Sicherheit, Jaroslav Jerman, aus dem Jahr 1952. Darin wird die Festnahme Dvoraceks als Beweis dafür gelobt, "wie es durch das Verdienst unserer Bürger zur Enthüllung unserer Feinde kommt". Jerman zitiert in dem Vortragsmanuskript das schon vor einem Jahr vom Magazin Respekt veröffentlichte Polizeidokument, das Kundera verdächtig erscheinen lässt, Dvoracek ans Messer geliefert zu haben. Auf diese Weise, so der Historiker Petr Koura in der Lidove Noviny, ist "praktisch ausgeschlossen, dass es sich bei der Polizei-Darstellung (der Vernehmung Kunderas) im März 1950 um ein nachträglich gefälschtes Dokument handelt". Kunderas Schuld werde laut dem Historiker aber auch durch das neue Dokument nicht eindeutig bewiesen. In einem zusätzlichen Kommentar fordert die Lidove Noviny Kundera "zum x-ten Male" auf, über die Sache zu reden.
Stichwörter: Kundera, Milan

FR, 21.10.2009

Nick Cave spricht im Interview über seinen Roman "Der Tod des Bunny Munro": Es geht um einen Vertreter, dem "etwas fehlt". Natalie Soondrum erzählt in Times Mager von dem Kuss, der sie auf der Frankfurter Buchmesse beeindruckt hat. Antje Hildebrandt gratuliert dem Grips-Theater zum Vierzigsten. Robert Kaltenbrunner beschreibt die Erfolge der Genossenschaftsidee im Wohnungsbau.

Auf der Medienseite informiert Ulrike Simon über Prozesse des Rechtsanwalts Johnny Eisenberg gegen die Bild-Zeitung und deren Chefredakteur Kai Dieckmann, die Eisenberg alle gewann. Dietmar Ostmann erzählt, wie Fox News Obama das Leben schwer macht.

Besprochen wird Mark Edmundsons Buch über Freuds letzte Jahre (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 21.10.2009

Für Klaus Walter sind Sonic Youth am Ende bzw. museumsreif. Besprochen werden Sönke Wortmanns Verfilmung der "Päpstin", das Videospiel "Brütal Legend", Stefan Koldehoffs Buch über den Umgang mit Raubkunst "Die Bilder sind unter uns" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Auf der Meinungsseite beschreibt Georg Seeßlen die vier Schreckgespenster des "Mittelklasse-Intellektuellen". Für taz zwei besucht Marco Lauer einen Schweizerkurs für Deutsche.

Und Tom.

Welt, 21.10.2009

Vor der am Donnerstag startenden Internationalen Demokratiekonferenz in Leipzig erinnert Gerhard Gnauck an die Revolutionen in Osteuropa und erkennt in ihnen den "Gründungsakt eines Europas der Bürgergesellschaft". Hendrik Werner kommentiert in der Randspalte die Meldung, dass Elke Heidenreich ihre Internet-Sendung "Lesen!" aufgibt: "Das ist bedauerlich, war aber absehbar." Hollywood-Format attestiert Hanns-Georg Rodek Sönke Wotmanns Historien-Drama "Die Päpstin": Der Film hat "das Geld (über 20 Millionen Euro), besitzt den Atem, kreiert die Aura". Lars Kreye gingen bei der Verleihung des ersten feministischen Preises für Pornofilme die Augen auf: "Wer gedacht hat, Feministinnen stehen auf Softpornos, ist an desem Abend im falschen Film."

Besprochen werden Martin Schläpfers Einstand als Düsseldorfer Tanzchef mit seiner Choreografie "b.01", ein Band mit Zeichnungen von Neo Rauch, eine Aufführung von Verdis "Giovanna d'Arco", ein Konzert von Fleedwood Mac, in München und das ARD-Drama "Frau Böhm sagt Nein".

NZZ, 21.10.2009

Uwe Justus Wenzel reagiert skeptisch auf den Vorstoß einiger Wissenschaftler, "Neuro-Enhencement" in der Gesellschaft positiv zu besetzen. Sieben Wissenschaftler der Medizin, Philosophie, Ethik und der Rechtswissenschaft verfassten im aktuellen Magazin "Gehirn und Geist" ein entsprechendes "Memorandum" für Gehirn-Doping. Für Wenzel klingt das Ganze mehr nach "Zombies mit frisierten Gehirnen" und einer Ethik, die beliebig ist: "Zwar fänden die Autoren es 'höchst problematisch, wenn zunehmend nur die Nutzer von Neuro-Enhancement privilegierte Zugänge zu bestimmten Arbeitsplätzen und anderen Positionen erhielten'. Aber davor, ins soziale Hintertreffen zu geraten, sollen 'Enhancement-Unwillige' nur geschützt werden, 'solange' sich die Neuro-Pharmazeutika 'nicht als physisch wie psychisch' unbedenklich erwiesen haben. Mit solcher Güterabwägung bewegt sich die angewandte als angepasste - und darum überflüssige? - Ethik auf der Höhe der Zeit, die von ihren Niederungen ebenso schwer zu unterscheiden ist wie der Gebrauch vom Missbrauch der Pharmaka." Im "Forschung und Technik"-Teil der NZZ steckt Lena Stallmach das Feld der Meinungen in der Wissenschaftsdebatte ab.

Besprochen werden die Donaueschinger Musiktage (Peter Hagmann arbeitet sich an "zwei sehr dominanten, unter dem Strich aber hilflosen Versuchen" einer modernen Orchesteraufführung ab), eine Ausstellung der Judaica-Sammlung des Züricher Unternehmers Rene Braginsky an der Universität Amsterdam, die Aufführung der Rossini-Oper "Tancredi" im Theater an der Wien durch Steven Lawless und Bücher, darunter Dieter Richters Kulturgeschichte "Der Süden. Geschichte einer Himmelsrichtung", Wolf Haas' neuer Krimi "Der Brenner und der liebe Gott" sowie Thomas von Steinaeckers Kolonialismusroman "Schutzgebiet" (mehr in der Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 21.10.2009

Der Literaturwissenschaftler und Merkur-Herausgeber Karl-Heinz Bohrer wirft sich in die Schlacht zwischen Peter Sloterdijk (hier dann die Replik auf Honneth) und Frankfurter Schule (Honneth und Menke) und macht keinen Hehl daraus, dass ihm an einem Staat, der Gleichheit herstellen will, ganz und gar nicht gelegen ist: "Die Polemik gegen Sloterdijks Theorem der 'Selbst-Werdung' verfehlt den Punkt, auf den es ankommt: die Notwendigkeit sozialer Ungleichheit, die Notwendigkeit mangelnden 'Respekts'. Auch Menkes Versuch, die Priorität des Gleichheitsprinzips vor dem die Ungleichheit schaffenden Freiheitsprinzip immerhin gedanklich zu demonstrieren, nicht bloß politisch zu fordern, läuft auf eine Begriffsglauberei hinaus, bei der selbst das Zentralwort seines interessanten Buches 'Kraft' nicht weiterhilft, ganz zu schweigen von der für die Frankfurter Ideologiekritik charakteristischen Taktik, der Gegenseite 'schlechtes Denken' vorzuwerfen."

Weitere Artikel: Kerstin Holm schildert die Aufregung, die ein pseudonym aller Wahrscheinlichkeit nach vom Kreml-Ideologen Wladislaw Surkow verfasster, ziemlich nihilistischer Roman in Russland verursacht. In der Glosse denkt Jochen Hieber nicht ganz im Ernst über Für und Wider eines Alkoholverbots in Zügen nach. Christina Hucklenbroich kann nur mitteilen, dass offizielle Stellen keine klare Meinung dazu haben, ob die Schweinegrippe-Impfung für Schwangere anzuraten ist oder nicht. Von den Tagen für Neue Musik in Donaueschingen berichtet Julia Spinola.

Besprochen werden die Uraufführung der Erfolgsstück-Fortsetzung "Linie 2" am Grips-Theater, die Ausstellung "The Lens and the Mirror" im Metropolitan Museum in New York, ein Konzert von The xx (Website) in Köln und Bücher, darunter Andreas Urs Sommers Traktat "Die Kunst der Seelenruhe" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 21.10.2009

Im Aufmacher widmet sich Thomas Steinfeld einigen melancholischen Selbstbetrachtungen der Schweizer, die ihrer einstigen Rolle als neutrales Land nachtrauern: "Es gab kein anderes Land, das diese notwendige Aufgabe hätte erfüllen können. Und wenn die Schweiz davon profitierte - wer wollte es ihr verdenken? Mit der Auflösung der weltpolitischen Blöcke verschwand nun aber auch die Funktion des Maklers."
(In Eurozine hat der schwedische Journalist Arne Ruth gerade beschrieben, wie zweifelhaft der Mythos von der "Neutralität" in Schweiz und Schweden ist. )

Weitere Artikel: Johannes Boie berichtet vom Strangerfestival in Amsterdam, wo man der zumeist jugendlichen Laienkultur im Internet auf die Spur zu kommen versuchte. Till Briegleb schildert den gesamthamburger Widerstand gegen die Übernahme des Gängeviertels durch einen Investor. Jörg Hantzschel beschreibt neue Kulturbauten von Rem Kohlhaas und Norman Foster für das an baulichen Attraktionen arme Dallas (Bilder hier und hier). Alexander Menden unterhält sich mit Anish Kapoor über seine Einzelausstellung in der Royal Academy of Arts, welche eine seltene Ehre darstellt. Und Michael Stallknecht verfolgte ein Kolloquium zum Zehnjährigen des "Kollegs Friedrich Nietzsche" in Weimar

Besprochen werden die Verfilmung der "Päpstin", Brechts "Johanna" in der Regie von Tilmann Köhler in Dresden, das neue Album der Band Rammstein, die Musiktheater-Installation "Batsheba - Eat The History" des Kölner Komponisten Manos Tsangaris in Donaueschingen und Bücher, darunter Jens Hackes Studie "Die Bundesrepublik als Idee - Zur Legitimationsbedürftigkeit politischer Ordnung" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Auf der Medienseite porträtiert Gerti Schön die amerikanische Journalistin Nikki Finke, die mit ihrem Blog Deadline.com halb Hollywood in Atem hält, weil sie die bisher allmächtigen PR-Leute der Branche links liegen lässt.