Heute in den Feuilletons

Jemand hat gepfuscht, sagt 219339

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.10.2009. TechCrunch berichtet über eine Revolution in der Suche: Google und Bing integrieren Twitter. Wird Henryk Broder Zentralrat? Per Tagesspiegel wirft er jedenfalls schon mal seine Kippa in den Ring. Die Berliner Zeitung vermisst Qualität im Netz und möchte mehr Kontrolle. Die Welt fragt: Wird sich Milan Kundera nun äußern? Die Zeit hat es erfahren: Deshalb sind wir!

Tagesspiegel, 22.10.2009

"Ich habe immer das getan, was ich tun wollte. Jetzt ist die Zeit gekommen, das zu tun, was ich tun sollte", schreibt Henryk M. Broder und erklärt, für den Vorsitz des jüdischen Zentralrats zu kandidieren, dessen jetzige Vertretung sich in einem "erbärmlichen Zustand" befinde: "Ich werde mich dafür einsetzen, dass Holocaustleugnung als Straftatbestand aufgehoben wird. Das Gesetz war gut gemeint, hat sich aber als kontraproduktiv erwiesen, indem es Idioten dazu verhilft, sich als Märtyrer im Kampf um die historische Wahrheit zu inszenieren. Unser aller Problem ist nicht der letzte Holocaust, dessen Faktizität außer Frage steht, sondern der Völkermord, der vor unseren Augen im Sudan stattfindet. Wir brauchen nicht noch mehr Holocaustmahnmale und Gedenkstätten, sondern eine aktive Politik im Dienste der Menschenrechte ohne politische Rücksichtnahme auf wirtschaftliche Interessen. Wer vom Kampf der Dissidenten in China und der Verfolgung der Baha?i im Iran nichts wissen will, sollte auch am 27. Januar und am 9. November zu Hause bleiben."

Aus den Blogs, 22.10.2009

(Via Gawker) Cracked.com zeigt, wie sie aussehen wird, die Hölle nach dem Internet:





Monika Ermert liest in Heise eine Mitteilung der Europäischen Kommission, die an verscheidenen Stellen das Urheberecht in Europa harmonisieren will: "Die Kommission erkennt an, dass Bibliotheken, Archive und Universitäten für 'ein weniger einschränkendes Urheberrechtssystem" eingetreten seien. Sie plädierten für einen 'Kern von Ausnahmen im öffentlichen Interesse'. Die Verleger argumentierten demgegenüber, dass der beste Weg zur Wissensverbreitung klassische Lizenzvereinbarungen und Verträge seien."

Thomas Knüwer kommentiert in Indiskretion Ehrensache die mögliche Einführung eines Leistungsschutzrechtes für Presseverlage durch die neue Regierung: "Käme es so, wären die Verleger und Verlagsmanager mit einer Lüge zum Wohle ihres wirtschaftlichen Überlebens durchgekommen. Denn seit Monaten behaupten sie, was schlicht nicht stimmt: Dass im Internet ihre Texte ebenso raubkopiert würden, wie Musik oder Filme. Auf Nachfrage von Stefan Niggemeier aber waren sie nicht in der Lage, irgendwelche konkreten Belege dafür zu liefern. Und natürlich können sie das auch gar nicht. Denn die Zahl der raubkopierten Artikel ist höchst überschaubar."

Der Modekonzern Ralph Lauren geht wirklich ein bisschen weit mit der Anorektisierung seiner Magermodelle, findet BoingBoing. Mehr auch hier über die Entschuldigung des Konzerns für das Ursprungsbild.


(Via Netzpolitik) Über das Urheberrecht in digitalen Zeiten denkt auch der Medienrechtler Till Kreutzer in einem Telemedicus-Interview nach: "Das urheberrechtliche Leitbild geht davon aus, dass der Urheber immer jemand ist, der alleine seine Werke aus seiner Persönlichkeit heraus schafft und dass er immer ein Interesse daran hat, die Kontrolle über sein Werk zu behalten. Wenn man das vergleicht mit der Kreativität der Massen, die in Open Source- und Open Content-Communities, im Web 2.0 und der Blogosphäre stattfindet, dann ist dieses extrem individuelle Leitbild der Person des Urhebers zu kurzgreifend. Natürlich findet auch das immer noch statt: Es werden nach wie vor Gemälde gemalt und Sinfonien komponiert. Aber das Urheberrecht kennt eben nur dieses eine Leitbild und das reicht heute nicht mehr."

Über eine Revolution in der Suchtechnologie berichtet Erick Schonfeld in TechCrunch: Google und Bing integrieren Twitter: "After months of negotiations and holding both off at bay, Twitter now has agreements with both Bing and Google to give them access to its full feed of public Tweets. Both search engines have been yearning to drink directly from Twitter?s the realtime firehose of micro-messages and all that they carry. A rudimentary version of Bing?s Twitter search is already live, and it will soon add public Facebook updates to its search results as well."

Berliner Zeitung, 22.10.2009

Mit einem Qualitätsseufzer muss Michael G. Meyer auf der Medienseite der Berliner Zeitung feststellen, dass es im Internet keinen richtigen Qualitätsjournalismus gibt und zitiert zustimmend einen Satz des Direktors der Landesmedienanstalt Nordrhein- Westfalen, Norbert Schneider: 'Man kann das ja nicht kontrollieren, zumindest nicht so, wie man es noch bei den analogen Medien konnte.'" (Seit es das Netz gibt, rufen Journalisten nach Zensur!)

FR, 22.10.2009

Harry Nutt verfolgt die Debatte um Peter Sloterdijk, den Sozialstaat und die Freiheit, in die sich gestern auch Karl Heinz Bohrer mit Aplomb eingeschaltet hatte. "Wirklich beklagenswert" findet Daniel Kothenschulte den "unreflektierten ästhetischen Effekt" von Günter Wallraffs Maskerade in seinem neuen Film "Schwarz auf Weiß": "Es ist ja nicht nur die Erinnerung an die üblen Minstrel-Shows, die zum Tabu weißer Schwarzendarsteller führte." Arno Widmann war mit einigen anderen "Weltintellektuellen" beim Bundespräsidenten. Peter Michalzik erinnert in Times mager daran, dass Schwarzgelb nicht als erstes auf die Idee gekommen ist, seine Seele gegen einen Schatten zu verkaufen. Sigrid Löffler schreibt zum Neunzigsten von Doris Lessing.

Auf der Medienseite meldet Gerd Höhler, dass die Türkei im Pressefreiheits-Ranking von Reporter ohne Grenzen weiter zurückgefallen ist.

Besprochen werden Kelly Reichardts "diskret-trauriger" Independentfilm "Wendy und Lucy", die Konzerte bei den Donaueschinger Musiktagen und eine dramatische Fassung von "Anna Karenina" in Mainz.

TAZ, 22.10.2009

Auf den Tagesthemenseiten erklärt die Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Sihem Bensedrine, warum die Zustände in Tunesien "schlimmer als im Iran" sind. "Die Touristen sehen nur eine Fassade. In Tunesien gibt es keinerlei politische Freiheiten... Europa unterstützt die Diktatur in Tunesien - vor allem Frankreich und auch Deutschland. Dabei ist die Situation in Tunesien wesentlich schlimmer als im Iran. Dort sind immerhin Demonstrationen möglich. In Tunesien ist jedwede öffentliche Aktion verboten. Die Überwachung durch die Polizei ist allgegenwärtig."

Im Kulturteil berichtet Anke Leweke über das Internationale Filmfestival in der koreanischen Hafenstadt Busan, wo besonders der Katastrophenfilm "Haeundae" von Yun Je-gyun, der von einem Tsunami erzählt, auf große Resonanz stieß. Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Carl Gustav Carus - Natur und Idee" in der Alten Nationalgalerie Berlin, der neue Filmstreich von Günter Wallraff "Schwarz auf weiß", für den er sich in den Somalier Kwami Ogonno verwandelt hat und als Schwarzer durch Deutschland reist, Kelly Reichardts Independentfilm "Wendy and Lucy" und der Comic "Blotch - Der König von Paris" von Christian Hincker, der eine Geschichte aus dem Pariser Kunst- und Intellektuellenmilieu von 1936 erzählt.

In tazzwei resümiert Ralph Bollmann den letzten Teil der Veranstaltungsreihe "Vielfalt der Moderne", in der auf Einladung von Horst Köhler Gelehrte jeden Kulturkreises, jeder Altersgruppe und jeden Geschlechts eben darüber diskutierten.

Und Tom.

Welt, 22.10.2009

Ein neu aufgefundenes Dokument belegt die Echtheit des Polizeiprotokolls, in dem Milan Kundera als Zuträger einer Denunziation genannt wird - womit seine Schuld aber nicht bewiesen sei, berichtet Hans-Jörg Schmidt aus Prag. Auch die Frau von Miroslav Dvoracek, der nach der Denunziation für 14 Jahre lang in einer Uran-Mine schuftete, hat Kundera kritisiert. "Wird Kundera nun sein Schweigen über die damaligen Vorgänge brechen? Ein Kommentator der (Prager Zeitung) Lidove noviny bedauerte, dass in dem einen Jahr seit dem ersten Verdacht gegen Kundera keinerlei Diskussion über das Maß der Verstrickung der tschechischen Eliten von einst in den Stalinismus zustande gekommen sei."

Weitere Artikel: Im Aufmacher ergründet Hajo Schumacher die Popularität der Piratenmetapher in Kunst, Kino und Politik. Kai Luehrs-Kaiser liest einige popularisierende Einführungen in die klassische Musik von bekannten Musikern wie Ingo Metzmacher und Daniel Hope. Eckhard Fuhr glossiert die Gründung einer weiteren Thomas-Mann-Gesellschaft, diesmal in Düsseldorf. Uta Baier unterhält sich mit dem August-Macke-Enkel Til Macke über eine Ausstellung von Mackes aus Familienbesitz im Kunsthaus Stade. Besprochen werden Filme Günter Wallraffs neue Undercover-Reportage als Somalier Kwami Ogonno (mehr hier, gerne hätten wir jetzt noch eine Wallraff-Recherche über das Leben unter einer Burqa). Maike Albath gratuliert Doris Lessing zum Neunzigsten.

Besprochen wird die Ausstellung "Mit Napoleon in Ägypten - Die Zeichnungen des Jean-Baptiste Lepere" in Köln.

NZZ, 22.10.2009

Kristina Bergmann gibt einen historischen Abriss der Minarette, den traditionellen Turmbauten einer Moschee, und will den Vorwurf entkräften, dass sie irgendetwas mit Terrorismus zu tun hätten: "Die meisten Muslime rümpfen die Nase, wenn der Financier einer Moschee kein Minarett errichten will - nach ihrem Verständnis würde eine solche Moschee armselig wirken. Wer am Freitag in einer großen Moschee beten geht, ist ein frommer, gutbürgerlicher Muslim. Konspirative oder terroristische Muslime treffen sich lieber im dunklen Abseits."

Besprochen werden heute gleich drei Filme, darunter Michael Hanekes Autorenfilm "Das weiße Band", in dem für Christoph Eggers Hanekes Standardthema im Mittelpunkt sieht: die Familie und ihre Gefährdungen, Sönke Wortmanns Literaturverfilmung "Die Päpstin", die für Alexandra Stäheli eine typische Constantin-Produktion ist: "üppige Historiendramen, in glänzenden Bildern mit einem seltsamen Zwang zur Halbgenauigkeit", und Michael Moores Systemkritik "Capitalism: A Love Story", bei der Moore sich "grotesk übernommen" hat, wie Susanne Ostwald findet. Marion Löhndorf gefällt David Hares moralisches Theaterstück zur Finanzkrise "The Power of Yes" am National Theatre in London. Eine Buchrezension gibt es zu P.D. James' Krimi "Ein makelloser Tod" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 22.10.2009

Gar nicht wohl ist Niklas Maak angesichts der Wiederkehr überwunden geglaubter Kunst-Ideologeme - nun im nur scheinbar neuen Gewand der Neurowissenschaften: "Im Zuge der Neurowissenschaften erlebt ein seltsamer Essentialismus seine Renaissance - und mit ihm eine eher düstere Prädeterminationsästhetik. Begriffe wie 'ideale Schönheit' tauchen wieder auf, dazu der Glaube, man könne zu einem Wesenskern 'großer' Kunst vorstoßen, der für alle Betrachter, gleich welcher Zeit oder welcher Herkunft, Bedeutung habe... Man fühlt sich in die fünfziger Jahre zurückversetzt, in denen Kunst- und Architekturtheoretiker wie Siegfried Giedion zeitgenössische Kunst als Antwort auf die 'Urphänomene des menschlichen Wesens' pries, nicht ohne festzustellen: 'Wir fragen wieder nach den ewigen Zusammenhängen.'"

Weitere Artikel: Gina Thomas war dabei, als der Schriftsteller Ian McEwan hoch droben im Drehrestaurant des Londoner Fernsehturms eine Rede vor deutschen und britischen Journalisten hielt. Einblick in die nun veröffentlichten Spitzelakten, die der mexikanisch Geheimdiensts über Gabriel Garcia Marquez geführt hat, nimmt Paul Ingendaay. Der rumänische Jurist Bogdan Iancu erklärt, warum die Securitate und ihre Strukturen in Rumänien keine Sache der Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart einer "'balkanisierten' Verfassungslandschaft" sind. Den Fund eines neuen Dokuments zur vermeintlichen Spitzeltätigkeit Milan Kunderas meldet Karl-Peter Schwarz - Eindeutigkeit jedoch sieht er in der Angelegenheit noch immer nicht hergestellt. Jürg Altwegg liest in französischen Zeitschriften Aufsätze über die Haltung der Franzosen zur Wiedervereinigung. Rüdiger Suchsland unternimmt einen Streifzug durchs iranische Kino der Gegenwart. Auf der Medienseite erläutert Arne Leyenberg, welche Bedeutung die von der neuen Koalition kritisch beäugte parteieigene Medienholdung für die SPD hat. Julia Voss schreibt zum Tod der Künstlerin Nancy Spero.

Besprochen werden eine Sönke Wortmanns Verfilmung der "Päpstin", ein Diane-Krall-Konzert in Frankfurt, das Album "Until the Freeze" der Black Crowes, die neue CD "Sigh No More" von Mumford & Sons (Myspace-Seite der Band), die Ausstellung "Schätze des alten Syrien" im Stuttgarter Landesmuseum und Bücher, darunter Dirk Heißerers Thomas-Mann-Studie "Die wiedergefundene Pracht" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 22.10.2009

Im Gespräch zwischen Volker Schlöndorff, der einmal die "Päpstin"-Verfilmung realisieren wollte und Sönke Wortmann, der es dann tat, rudert Schlöndorff in Sachen Kritik am sogenannten "Amphibienfilm" - also Produktionen, die für TV und Kino gleichzeitig gedacht sind - deutlich zurück. Aber am Kern des Problems hat sich, findet er, wenig geändert: "Ich bin der Letzte, der da als Dogmatiker auftreten will - in der Literatur haben ja auch Leute wie Balzac oder Dostojewski Fortsetzungsromane geschrieben, wir lesen sie in einem Guss. Ausgelöst wurde das Ganze durch eine praktische Überlegung: Müssen wir die Filmförderung nicht verteidigen gegen die Begehrlichkeit der Fernsehproduzenten, die aus jeder Fernsehserie vielleicht noch ein kinofähiges Zweistundenwerk zurechtschneiden - sodass es eines Tages überhaupt keine Grenze mehr gibt im Konzept zwischen Film und Fernsehen? Diesen Zustand haben wir in Deutschland sowieso praktisch erreicht, im Gegensatz zu anderen Ländern. In den USA und in Frankreich ist das sehr streng getrennt."

Weitere Artikel: Die ganze erste Feuilletonseite ist einem Geburtstagskind gewidmet: Asterix und Obelix feiern ihren Fünfzigsten. Eine Schar von SZ-Mitarbeitern gratuliert in kleinen Vignetten zu diesem und jenem im gallo-römischen Comic-Kosmos. Franziska Augstein stellt die deutschen Asterix-ÜbersetzerInnen vor. Enttäuscht zeigt sich Fritz Göttler vom jüngsten Asterix-Band "Asterix und Obelix feiern Geburtstag". Henning Klüver war mit dem Schriftsteller Antonio Tabucchi, dessen neuestes Buch ein Riesenerfolg in seinem Heimatland ist, das Tabucchi aber nur noch selten besucht und bei den Besuchen kaum wiedererkennt. Alexander Menden durfte in einem Londoner Hotelzimmer die neunzigjährige Marge Champion interviewen, die als "Bewegunsgmodell" des Walt-Disney-Films "Schneewittchen" aus dem Jahr 1937 gewesen ist.

Alexander Kissler erläutert die Kompromissangebote, die Papst Benedikt übertrittswilligen Anglikanern unterbreitet hat. Kurt Kister macht sich seine Gedanken zum Kohl-Film "Der Mann aus der Pfalz" und zur Bedeutung Kohls insgesamt und überhaupt ("einer der drei großen Kanzler Deutschlands"). "crab" resümiert - recht bösartig - Karl-Heinz Bohrers Beitrag zur Sloterdijk-Honneth-Debatte in der gestrigen FAZ. Burkhard Müller gratuliert der nobelkreisgekrönten Schriftstellerin Doris Lessing zum Neunzigsten.

Besprochen werden das erste Robbie-Williams-Konzert seit drei Jahren in London, neue Filme, darunter Marc Webbs "(500) Days of Summer" und Bücher, darunter Martin Seels philosophischer Aphorismenband "Theorien" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Zeit, 22.10.2009

Im Wirtschaftsteil versteckt gibt es ein Interview mit dem Vorsitzenden der Piratenpartei Jens Seipenbusch über Datenschutz, informationelle Selbstbestimmung und ignorante Parteien: "Politiker, die jetzt 50, 60,70 Jahre alt sind, sind weit davon entfernt, die Problematik, die wir eben diskutiert, überhaupt zu durchdenken. Die Regierenden sind zu alt."

Da kennt Seipenbusch die Feuilletons noch nicht: Adam Soboczynski deckt zum Beispiel einen "utopistischen Verblendungszusammenhang" auf: Das Web 2.0 ist überhaupt nicht demokratisch und höchstens so libertär wie Versailles: "Die irrige Annahme, Soziale Netzwerke stärkten demokratische Meinungsbildung, mag der hämischen Beobachtung entsprungen sein, dass dort bislang Mächtige desavouiert werden. Die Anbiederung der politischen Klasse an die Netzwelt, die emsige Twitterei von Bundestagsabgeordneten, der Facebook-Auftritt der Kanzlerin zeigt willfährige Knechte des Internets, keineswegs machtvolle Protagonisten. Berühmtheiten stellen sich darin aus, um Freier buhlend, wie die Nutten auf Ausfallstraßen."

Erwin Koch lässt sich als Besucher 219339 vom CERN-Physiker Rolf Landua noch einmal die Sache mit dem Urknall, den Quarks und dem Zufall erklären: "Eigentlich, damals beim Urknall, hätten sich Materie und Antimaterie vollständig annihilieren sollen, müssen.
Aber dem war nicht so?, ahnt 219339.
Dem war nicht so, sagt Landua. Die Symmetrie, die wir meinen, war nicht vollkommen.
Deshalb gibt es uns?
Deshalb sind wir! Deshalb sind die Elefanten, die Seepferdchen, die Viren, Bananen, unser Sonnensystem, die Milchstraße, sämtliche Galaxien.
Jemand hat gepfuscht, sagt 219339."

Weiteres: Claus Spahn hat bei den Musiktagen in Donaueschingen erlebt, wie Matthias Spalinger die Orchestermusiker aus anachronistischen Produktionsbedingungen zu befreien versuchte. Sieben Redakteure reichen ihre Erlebnisberichte von der Frankfurter Buchmesse nach. Horst Bredekamp bescheinigt der Theorie des italienischen Kunsthistorikers Roberto Zapperi, bei der Mona Lisa handele es sich um Giuliano de Medicis Geliebte Pacifica Brandani, "hohe Plausibilität". Tobias Timm besucht die Internationale Bauausstellung zu schrumpfenden Städten in Sachsen Anhalt und berichtet von Londoner Auktionen. Ulrich Stock porträtiert den Ethio Jazzer Mulatu Astatke.

Besprochen werden eine Ausstellung zu Carl Gustav Carus "Natur und Idee" in der Alten Nationalgalerie in Berlin, Kelly Reichardts Filmnovelle "Wendy und Lucy" und auf den Literaturseiten unter anderem Richard von Weizsäckers Erinnerungsschrift "Der Weg zur Einheit" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Im politischen Teil registriert Jörg Lau im Streit um Thilo Sarrazin nicht nur viel Unmut über den Umgang mit einem Unbequemen, sondern auch ein Gefühl der Befreiung: "Mit der alten völkisch-rechten Fremdenangst hat dieses Phänomen herzlich wenig zu tun. Der politisch-emotionale Druckausgleich findet diesmal eher auf der liberal-progressiven Seite der Gesellschaft statt. Nicht schon die Andersheit des Anderen ist das Anstößige, sondern sein Zurückbleiben (oder -fallen) im Modernisierungsprozess, wie es sich in religiösen Symbolen, traditionsverhafteten Familiensitten und Machismo äußert."