Heute in den Feuilletons

Ein Typ zum Fürchten

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.10.2009. In der SZ erklärt Robert Crumb, warum er die Bibel in seiner Comic-Version nicht mit zusätzlichem Humor würzen musste. Nicht nur der Mensch, auch die Demokratie kommt aus Afrika, staunt die FR. Der PEN Club lehnt die Google Book Search ab, meldet Heise. Die NZZ beklagt die Verwilderung der Zustände in Italien. Stefan Niggemeier analysiert ein Lehrstück über den Qualitätsjournalismus.

Welt, 26.10.2009

Nix online heute im Kulturteil der Welt. Hier die linklose Zusammenfassung: Der 67-jährige Bernd Neumann bleibt Kulturminister, meldet Rainer Haubrich, der sich in der Glosse außerdem darüber freut, dass das Berliner Schloss nun wirklich gebaut wird, aber auch hofft, dass es inhaltlich ins 21. Jahrhundert weist. Thomas Vitzthum hat sich bei Gregor Gysis Talkshow mit Hape Kerkeling im Deutschen Theater Berlin amüsiert. Eine Meldung auf der Vermischten-Seite informiert uns, dass eine arabische Journalistin wegen ihrer Arbeit für eine libanesische Fernsehsendung, in der offen über Sexualität gesprochen wurde, in Dschiddah zu 60 Peitschenhieben verurteilt wurde, ein Teilnehmer der Show wurde gar zu fünf Jahren Gefängnis und 1000 Peitschenhieben verurteilt.

Besprochen werden Placido Domingos Debüt als Bariton in Verdis "Simon Boccanegra" an der Berliner Staatsoper, die Uraufführung von Schorsch Kameruns "Konzert zur Revolution" (zur Erinnerung an die Münchner Räterepublik 1919) an den Münchner Kammerspielen, Aufführungen bei den Donaueschinger Musiktagen und die Ausstellung der Sammlung Brukenthal im Pariser Museum Jacquemart-Andre.

FR, 26.10.2009

"Nicht nur der Mensch kam aus Afrika, sondern womöglich auch noch die Verfassung", mutmaßt Arno Widmann und erzählt von der Charta von Manden, die König Soundiata Keita zu Beginn des 13. Jahrhunderts seinem Land gegeben hatte und die von der Unesco kürzlich in das Weltkulturerbe aufgenommen wurde: "Jedenfalls eine Verfassung, die festlegte, dass Kriegsgefangene nicht versklavt werden durften. Ein Vergleich mit der englischen Magna Charta aus dem Jahre 1215 zeigt deutlich, wie viel weiter und radikaler die Autoren der Charta von Manden darüber nachgedacht hatten, was menschliche Freiheiten sind."

Weiteres: Jürgen Otten hat bei Verdis Oper "Simon Boccanegra" unter Daniel Barenboim in Berlin einen großartigen Tenor gehört: "Was echte, wirkliche Tragik ist, das erst erfahren wir durch Placido Domingo in der Titelfigur." Mehr Politik "als in den gesamten Koalitionsverhandlungen" hat Peter Michalzik an einem Theaterwochenende in München erlebt, bei der "Sicherheitskonferenz" von Rimini Protokoll und Schorsch Kameruns "Konzert zur Revolution". Harry Nutt scheint ganz gut mit Bernd Naumann als Kulturstaatsminister leben zu können: "Neumann reüssierte nicht als Schöngeist mit kulturpolitischen Visionen, sondern mit ordnungspolitischer Beharrlichkeit." In Times mager verarbeitet Christian Thomas den gestrigen Marathonlauf in Frankfurt.

Spiegel Online, 26.10.2009

Etwas verspätet tragen wir eine Meldung aus Spiegel Online nach. Seyran Ates hat sich nach Drohungen anlässlich ihres neuen Buchs "Der Islam braucht eine sexuelle Revolution" aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. "Die Juristin und Schriftstellerin plädiert darin für die Abschaffung der in islamisch geprägten Ländern weit verbreiteten arrangierten Ehe und spricht sich für einen offenen Umgang mit dem Thema Homosexualität aus sowie für mehr Selbstbestimmung für muslimische Frauen", schreibt Reinhard Mohr.

TAZ, 26.10.2009

Das Feuilleton gehört heute Gabriele Goettle. Sie besucht Imma Harms, die nach etlichen fundamentallinken Jahren in Berlin und bei der taz nun in einer Landkommune in Brandenburg lebt: "Imma, die uns erst am nächsten Tag um 11 erwartet, bittet erstaunt, aber mit umstandsloser Freundlichkeit ins Haus, improvisiert gastlich ein Frühstück, erklärt, wie man mit dem Auftragen von einfacher Buttermilch Fensterscheiben in blickdichte Milchglasscheiben verwandeln kann und erzählt uns nach und nach die Geschichte ihrer jetzigen Existenzform."

Auf der Meinungsseite kommentiert Daniel Bax den heute in Dresden beginnen Prozess um die Ermordung der Ägypterin Marwa El Sherbini. Viel zu lange sei die Tat nur als Kuriosum wahrgenommen worden. "Erst als die Reaktionen aus dem Ausland nicht mehr zu überhören waren, änderte sich diese Wahrnehmung. Doch da überwog in vielen Medien schon die diffuse Angst vor möglicher 'muslimischer Rache' das Entsetzen über den Mord. Kaum jemand sah einen Zusammenhang zwischen dem Mord und dem Meinungsklima gegenüber Muslimen hierzulande."

Und Tom.

Aus den Blogs, 26.10.2009

Am Wochenende hat sich der Internationale PEN in Linz gegen die Google Book Search ausgeprochen, meldet Heise Online: "Das Vorgehen von Google erfolge ohne Einverständnis der Autoren und sei mit den weltweit anerkannten Grundsätzen im Urheberrecht nicht zu vereinbaren, entschied der PEN bei seiner Jahrestagung im österreichischen Linz. Die Resolution war vom deutschen PEN eingebracht worden, wie die Abteilung mit Sitz in Darmstadt am gestrigen Freitag bekannt gab."

Die ARD brachte neulich einen Film über eine angebliche Wunderpaste auf Vitamin B12-Basis, die Neurodermitis und Psoriasis besser lindern könne als die viel teureren Medikamente der Phama-Industrie und von dieser deshalb verhindert wurde. Die Medien sind dieser Geschichte eins zu eins aufgesessen, bevor Blogger nachrercherchierten. Ein Lehrstück über den gern besungenen "Qualitätsjournalismus", meint Stefan Niggemeier: "Ich frage mich, ob der Film in diesem Maße berechtigten Widerstand produziert hätte, ob die ARD-Leute auch dann Fehler hätten einräumen müssen, ob in der Süddeutschen und auf Spiegel Online schließlich doch noch so kritische Artikel über Regividerm stehen würden, wenn es keine Blogger gegeben hätte, die zweifelten und recherchierten statt zu glauben und abzuschreiben."

NZZ, 26.10.2009

Franz Haas rollt noch einmal die gegenwärtige politische Situation unter Berlusconi auf und dokumentiert die Meinungsmache gegen die Schrifsteller Corrado Augias und Claudio Magris, die pauschal mit dem Wort "culturame" verunglimpft werden. Ein Wort, "das nach Faschismus riecht", so Haas. Insgesamt verschärfe sich die Lage: "Bedenklich häufen sich in letzter Zeit stümperhafte Terroraktionen und verbissene Aufrufe im Internet zur Anwendung von Gewalt. Die Aufforderung 'Töten wir Berlusconi' in Facebook hat vor einigen Tagen innerhalb weniger Stunden 14 000 Anhänger und 'Freunde' gefunden. Die Verwilderung der Zustände wird von den Gegnern wie von den Jüngern Berlusconis betrieben, am wirksamsten allerdings von denen, die die besten Instrumente haben und nicht von moralischen Skrupeln belästigt werden."

Weiteres: Marc Zitzmann sieht Lüttich architektonisch aufblühen dank des neuen TGV-Bahnhofs Liege-Guillemins, des neuen Einkaufszentrums Mediacite, des wiedereröffneten Musee de la vie wallone und des neugeschaffenen Museumskomplexes Grand Curtius, die alle innerhalb der letzten 12 Monate fertiggestellt wurden.

Besprochen wird die Aufführung der Schostakowitsch-Oper "Lady Macbeth von Mzensk" an der Wiener Staatsoper durch Dirigent Ingo Metzmacher und Regisseur Matthias Hartmann sowie die Inszenierung von Robert Woelfs Variation auf "Jekyll und Hyde" am Theater Basel in der Regie von Alexander Nerlich.

SZ, 26.10.2009

Titus Arnu unterhält sich mit Robert Crumb über sein monumentales neues Werk - das erste Buch des Alten Testaments als Comic: "Ich habe ziemlich stark kürzen müssen. Die Arbeit war aber nie langweilig, die Bibel ist ja stellenweise bizarr. Gerade das Alte Testament steckt voller unterhaltsamer, grotesker Geschichten. Es war gar nicht nötig, meine Comic-Version mit krassen Erfindungen und Kraftausdrücken zu garnieren - der Originaltext ist schließlich seltsam und brutal genug. Der Gott des Alten Testaments ist ein Typ zum Fürchten."

In den "Nachrichten aus dem Netz" schreibt Niklas Hofmann über den Niedergang der zum Murdoch-Konzern gehörenden Sozialen Website MySpace, die seltsamerweise nur noch bei Schwarzen in den USA populär ist (mehr dazu in einem Interview des Online-Magazins The Root). Bernd Graff testete Windows 7, das auf einer alten Kiste problemlos lief, aber er zweifelt an der Zukunftsfähigkeit derartiger Betriebssysteme. Gemeldet wird, dass der iranische Blogger Hossein Derakhshan, der vor einem Jahr unvorsichtigerweise in den Iran gereist war, im Gefängnis offenbar gefoltert wurde (die ganze Geschichte im Blog The Lede der New York Times). Susan Vahabzadeh verfolgte eine Tilda-Swinton-Retro mit persönlichen Auftritten und Werkstattgesprächen der Schauspielerin in Wien. Der Wirtschaftsjournalist Werner Vontobel bezweifelt nach Lektüre von Peter Sloterdijks in Cicero (leider nicht online) veröffentlichtem Manifest "Aufbruch der Leistungsträger" den ökonomischen Sachverstand des Philosophen.

Besprochen werden die Ausstellung "The sacred made real" über Velazquez und seine Zeit in der National Gallery London, ein Beethoven-Konzert der Münchner Philharmoniker unter ihrem Noch-Chef Christian Thielemann, Giuseppe Verdis "Simon Boccanegra" unter Daniel Barenboim mit Placido Domingo an der Berliner Staatsoper, Franz Grillparzers Stück "Das Goldene Vließ", inszeniert von David Bösch am Deutschen Theater Berlin, die Ausstellung "Erben des Imperiums in Nordafrika - Das Königreich der Vandalen" in Karlsruhe, einige neue DVDs und Bücher, darunter Peter Guralnicks pophistorische Recherche "Sweet Soul Music".

Auf der Medienseite wird gemeldet, dass eine saudische Journalistin nach einer Sendung, in der über Sex gesprochen wurde, zu 60 Peitschenhieben verurteilt worden ist.

FAZ, 26.10.2009

Michael Pawlik legt den rechtlich kniffligen Fall auseinander, bei dem der Vater eines vergewaltigten und ermordeten Mädchens den der Tat Verdächtigen, gegen den in Deutschland die Ermittlungen eingestellt wurden, nach Frankreich entführte, wo ihm nun - eventuell - eine langjährige Haftstrafe droht; Pawlik selbst plädiert in der Angelegenheit auf "Bewunderung für die subtile Eigenlogik des Rechtsdenkens". In der Glosse informiert Dirk Schümer über Kritik an der ausgabenfreudigen Königsfamilie in den Niederlanden. Paul Ingendaay teilt mit, dass bei Granada jetzt zwar die Gebeine von Bürgerkriegstoten exhumiert werden, die des Dichters Garcia Lorca jedoch nicht. Kerstin Holm schildert Korruption, Angst und politischen Druck auf kritische Stimmen im Gegenwarts-Russland. Andreas Rossmann schreibt zum Tod von Karin Hempel-Soos, die lange Zeit der gute Geist der Bonner Kultur war. Geburtstagsgratulationen gehen diese Woche an die Rockmusikerin Grace Slick (von "Jefferson Airplane", 70), die Fotografin Herlinde Koelbl (70), den Komiker John Cleese (70) und den Schauspieler Carlo Pedersoli, bekannter als Bud Spencer (80).

Besprochen werden die prunkvolle Inszenierung von Verdis "Simon Boccanegra" an der Berliner Staatsoper mit Placido Domingos Debüt als Bariton ("letztlich enttäuschend steril" fand Julia Spinola das alles), Lutz Försters getanztes Selbstporträt nach einer Choreografie von Jerome Bel, eine "Chu Yun"-Ausstellung im Frankfurter Portikus, Kelly Reichardts Film "Wendy and Lucy" und Bücher, darunter Tristan Egolfs postum veröffentlichter Roman "Kornwolf" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).