Heute in den Feuilletons

Solcher Drang nach Klarheit

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.11.2009. In den USA kündigen die ersten Journalisten, weil sie nicht akzeptieren, dass das Onlineangebot ihrer Zeitung zahlbar wird, meldet die New York Times. Illegale Downloader kaufen mehr Musik als solche, die nie illegal Musik herunterladen berichtet der Independent. Die NZZ macht sich Sorgen über die Narcocultura in Mexiko. In der Welt erklärt Francis Fukuyama, warum Demokratie auch in nicht-westlichen Gesellschaften die beste Regierungsform ist. Slate fühlt sich bei der Lektüre von Hannah Arendts Schriften an antisemitische Propaganda erinnert. Der Chronicle of Higher Education will keinen Heidegger mehr lesen.

Weitere Medien, 02.11.2009

(Via Jeff Jarvis) So etwas würde in Deutschland nie passieren. Der Kolumnist Saul Friedman verlässt seine Zeitung Newsday, weil ihre Inhalte im Netz zahlbar gestellt werden, berichtet Richard Perez-Pena in der New York Times: "That did not sit well with Mr. Friedman, a freelancer who wrote Gray Matters, a weekly column on aging. He explained his departure in a note to Jim Romenesko's media blog. In an interview, Mr. Friedman said, 'My column has been popular around the country, but now it was really going to be impossible for people outside Long Island to read it.' That includes him; living outside Washington, he is not a subscriber to Newsday or Cablevision."

(Via Mashable) Musikfreunde, die Musik illegal herunterladen geben zugleich mehr Geld für legal gekaufte Musik aus, als solche, die niemals illegal downloaden, berichtet der Independent unter Berufung auf eine Umfrage: "The survey, published today, found that those who admit illegally downloading music spent an average of £77 a year on music - £33 more than those who claim that they never download music dishonestly. The poll, which surveyed 1,000 16- to 50-year-olds with internet access, found that one in 10 people admit to downloading music illegally." Mehr dazu auch bei Cory Doctorow.

NZZ, 02.11.2009

Alex Gertschen berichtet vom andauernden "Drogenkrieg" in Mexiko, den Präsident Calderon seit Ende 2006 gegen die Kartelle führt. Der Krieg sei dabei auch ein kultureller, denn die "narcos" - Personen, die mit Drogen Geld verdienen - stünden für eine eigene Lebensweise und "Kultur der schnellen Aufsteiger", die vor allem bei ärmeren Schichten positiv besetzt sei und mittlerweile zum Alltag gehöre, wie Gertschen beim Kulturwissenschaftler Alan Sanchez liest: "Als die neureichen Landeier, und das waren die 'narcos' bis dahin fast ausschließlich, in den siebziger Jahren in der Hauptstadt Culiacan aufgetaucht seien, habe die breite Bevölkerung sie wie 'Heilande' wahrgenommen. Indem die 'einfachen Leute' Werte und Bräuche der 'narcos' übernahmen, befreiten sie sich zumindest symbolisch von ihrem trostlosen Schicksal. Die Idee, dass der Drogenhandel eine soziale Verpflichtung hat, ist seither integraler Bestandteil der 'narcocultura' geworden. Aus diesem Antrieb und aus kaltem Kalkül sind Drogengelder in den Bau von Strassen, Schulen oder Bewässerungsanlagen geflossen; für die berüchtigten Spenden an die Kirche hat sich der sonderbare Begriff der 'narcolimosnas' (Drogenalmosen) eingebürgert."

Weiteres: Gottfried Schatz, Professor emeritus für Biochemie, erzählt vom Sonnenlicht als Lebenselixier unseres Planetens - angefangen beim Einzeller vor vier Milliarden Jahren bis hin zur potentiellen Kernfusion in der Zukunft.

Besprochen werden die Ballettinszenierung von "Raymonda" durch den Choreographen Heinz Spoerli am Opernhaus Zürich, die Ausstellung "inside Teheran out" auf dem Forum Schlossplatz in Aarau und die Aufführung von Gogols "Revisor" am Schauspielhaus Zürich durch Regisseur Sebastian Nübling.

FR, 02.11.2009

Christoph Schröder berichtet von einem anonymen Papier, das im Internet kursiert und ein ziemlich deprimierendes Bild von der Lage des E-Book-Händlers Libreka zeichnet: "'libreka - ungeschminkt' heißt das vierseitige Dokument, das geradezu vernichtende Vorwürfe gegen die Download-Plattform und den MVB ins Feld führt: Etwa eine Million Euro pro Jahr, so der Vorwurf, pumpe der Börsenverein auf Kosten seiner Mitglieder in den 'hirntoten Komapatienten' libreka!; im Monat September seien ganze 32 E-Books über das Internet an Endkunden verkauft worden."

Weiteres: Hans-Jürgen Linke berichtet vom Jazzfestival beim Hessischen Rundfunk. In Times mager sinniert Linke auch über den Herbst, Halloween und Genmais. Christian Thomas schreibt zum 25-jährigen Bestehen des Frankfurter Architekturmuseums. Ina Hartwig meldet die Verleihung von Büchner-, Merck- und Freud-Preis. Die Medienseite druckt Ulrike Simons Artikel über den Relaunch beim Handelsblatt nach.

Besprochen werden die beiden neuen Inszenierungen an der Burg, Tracy Letts "Eine Familie" und Alfred de Musset "Lorenzaccio", Stephan Thoss' Choreografie "Carmencita" in Wiesbaden und Dieter Hildebrandts Buch "Schillers erste Heldin" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

TAZ, 02.11.2009

Lavinia Meier-Ewert und Andreas Resch besuchen das Städtchen Lowell, Massachusetts, den Geburtsort Jack Kerouacs, der vor vierzig Jahren gestorben ist: "Jack Kerouac ist in Lowell so präsent wie Lowell in seinen Büchern. Die Sehnsuchtsorte in seinen Texten aber, diese uramerikanischen Mythen, beschwören immer noch etwas anderes, etwas, das über einen konkreten geografischen Ort hinausgeht."

Besprochen werden eine Installation des portugiesischen Künstlers Pedro Cabrita Reis in Hamburg, eine Konzert von Massive Attack in Berlin und eine Lesung des 87-jährigen Georg Kreisler ebendort.

Und Tom.

Aus den Blogs, 02.11.2009

Markus Beckedahl hat in Netzpolitik in den letzten Monaten soviele Datenskandale aufgedeckt, dass sich die Journalisten etablierter Medien langsam am Kopf kratzen sollten, meint Daniel Bröckerhoff von den Blogjournalisten. "Scheinbar setzten die Informanten Beckedahls mehr Vertrauen in einen Blogger als in die klassischen Medien. Das hat seine Gründe: Markus Beckedahl tritt als Mensch hinter einem anonymen Medium hervor. Er diskutiert mit seinen Lesern, ist erreichbar, transparent, korrigiert sich, wenn Fehler gemacht wurden. Er hat über Jahre bewiesen, dass es ihm zuerst um die Sache und dann um die Sensation geht. Das zahlt sich jetzt aus."

(Via 3quarksdaily) Ein Artikel im TLS hat Slate-Mitarbeiter Ron Rosenbaum noch einmal ordentlich die Lektüre von Hannah Arendts Schriften vergällt. Der Historiker Bernard Wasserstein hat darin Arendts "Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft" durchleuchtet und für Rosenbaum erschreckende Anklänge an antisemitische Propaganda gefunden: "Im neuen Vorwort, geschrieben 1967, kommentert Arendt die Arbeit des führenden Nazi-Historikers Walter Frank, dessen 'Beiträge', wie Wasserstein Arendt zitiert, 'noch immer mit Gewinn gelesen werden können'... Natürlich hat es immer jüdische Kritiker von Juden gegeben. Aber Arendts 'Aversionen gehen ganz klar viel tiefer' als bisher angenommen wurde, fügt Wasserstein hinzu."

(Via Arts and Letters Daily) Im Chronicle of Higher Education fordert Carlin Romano, Martin Heidegger zu ignorieren und seine Bücher nicht mehr zu verlegen, nachdem er Emmanuel Fayes Buch "Heidegger: Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie" gelesen hat: "For Faye, new material about Heidegger's 1930s teaching and administrative work turns a crucial point upside-down. While other thinkers, including Löwith and Maurice Blanchot, suggested that Heidegger's Nazism stemmed directly from his philosophy, Faye counters that his philosophy grew out of his Nazism, forcing us to see it as a kind of philosophical propaganda for Nazism in a different key. Faye's leitmotif throughout is that Heidegger, from his earliest writings, drew on reactionary ideas in early-20th-century Germany to absolutely exalt the state and the Volk over the individual, making Nazism and its Blut und Boden ('Blood and Soil') rhetoric a perfect fit. Heidegger's Nazism, he writes, 'is much worse than has so far been known.' (Exactly how bad remains unclear because the Heidegger family still restricts access to his private papers.)"

Spiegel Online, 02.11.2009

"Keine Sorge. Ich mache es nicht. Ich bin weder größenwahnsinnig noch vergnügungssüchtig", erklärt Henryk M. Broder, der nun doch nicht für den Zentralrat kandideren wird: "Hätte ich geschrieben, dass ich mich in Peschawar zum Taliban ausbilden lassen will oder dass in Wahrheit ich es war, der neulich als Wallraff mit Kraushaarperücke dem Rassismus in Deutschland nachspürte, nichts wäre geschehen. Aber offensichtlich hatte ich den politischen G-Punkt der Deutschen getroffen: Wer darf und soll für die Juden in Deutschland sprechen?"

Welt, 02.11.2009

Auf der Forumsseite erklärt der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama im Interview, warum Demokratie auch in nicht-westlichen Gesellschaften die beste Regierungsform ist: "Huntingtons Argument war, dass Demokratie, Individualismus und Menschenrechte nicht universal seien, sondern kulturelle Reflexionen, die im westlichen Christentum wurzeln. Historisch ist das richtig, doch diese Werte sind über ihre Ursprünge hinausgewachsen. Sie sind von Gesellschaften übernommen worden, die aus ganz anderen kulturellen Traditionen kommen. Schauen Sie sich Japan, Taiwan, Südkorea und Indonesien an. Gesellschaften gänzlich anderen kulturellen Ursprungs haben diese Werte akzeptiert, nicht weil die USA es auch tun, sondern weil es funktioniert. Es stellt einen Mechanismus der Regierungsverantwortlichkeit bereit. Es gibt Gesellschaften die Möglichkeit, ihre Staatschefs loszuwerden, wenn etwas schiefläuft. Das ist ein riesiger Vorteil demokratischer Gesellschaften, den beispielsweise China nicht hat."

Im Feuilleton fragt sich vier Jahre nach der Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen in Jyllands Posten der verantwortliche Redakteur Flemming Rose: "Bereue ich, die dänischen Karikaturen veröffentlicht zu haben? Offen gestanden, ich glaube, diese Frage verkennt, was auf dem Spiel steht. Ebenso gut könnte man ein Vergewaltigungsopfer fragen, ob sie es bereut, am Freitagabend in der Diskothek einen kurzen Rock getragen zu haben. In Dänemark kommt es nicht einer Einladung zur Vergewaltigung gleich, wenn man in einem kurzen Rock zum Tanzen geht, und ebenso wenig ist es eine Einladung zum Terror, Karikaturen zu veröffentlichen, die sich über die lustig machen, die im Namen der Religion Flugzeuge, Züge und Gebäude in die Luft jagen. Die satirische Darstellung von Religion ist legal und völlig normal."

Weitere Artikel: In der Leitglosse mokiert sich Hendrik Werner über die Bürokraten von der Wikipedia, die einen Artikel über den Verein "Missbrauchsopfer gegen Internetsperren" wegen angeblich fehlender Relevanz gelöscht haben. Uwe Wittstock berichtet über die Verleihung der Herbstpreise der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Hanns-Georg Rodek hebt in seinem Resümee der Hofer Filmtage vor allem zwei Filme hervor: Marc Rensings "Parkour" und "66/67" (der Titel bezieht sich auf die letzte Meistersaison von Eintracht Braunschweig) von Carsten Ludwig und Jan-Christoph Glaser.

Besprochen werden eine "Don Giovanni"-Aufführung in München, die Premieren von "Lorenzaccio" am Wiener Burgtheater und "Eine Familie" am Akademietheater und die Aufführung von Dirk Laucks Stück "Für alle reicht es nicht" zur Eröffnung des Dresdners Theaterfestivals "After the Fall".

FAZ, 02.11.2009

Felicitas von Lovenberg berichtet von Verleihung der Preise der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Erstaunt war sie vor allem von der eigentümlichen Stimmung der Veranstaltung: "Selten herrschten bei der Verleihung des wichtigsten deutschen Literaturpreises solche Unbedingtheit, solcher Drang nach Klarheit und so viel Temperament". Die Reden wurden gehalten von den FAZ-Mitarbeitern Paul Ingendaay, Harald Hartung, Heinrich Detering und Julia Voss, deren Dankesrede zum Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa abgedruckt ist.

Weitere Artikel: Gerhard Rohde war bei einer gleichfalls in Darmstadt stattfindenden Erinnerungsveranstaltung "Hin zur Neuen Musik". Stefan Aust weist auf Marc Brasses und Florian Hubers Reportage "Schabowskis Zettel" hin, ein filmisches Protokoll der Ereignisse vom 9. November 1989, das heute im Ersten läuft. In der Glosse geht es um die Studierendenproteste in Wien und ihre Hintergründe. Wolfgang Sandner hat das Deutsche Jazzfestival in Frankfurt besucht. Geburtstagsglückwünsche gehen an den Theatermann Jürgen Bosse (70), den Künstler Richard Serra und den Hirnforscher Eric Kandel (80).

Besprochen werden ein Münchner "Don Giovanni" von Stephan Kimmig und Kent Nagano, Inszenierungen im Burg- ("Lorenziaccio") und im Akademietheater ("Eine Familie") in Wien, der Doppelfilm "Kreuzukölln" und Bücher, darunter die Essay- und Bildersammlung "Wie China debattiert" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 02.11.2009

Stephan Speicher begründet im Aufmacher ausführlich, warum das Stipendienprogramm der neuen Bundesregierung seine bildungspolitische Neugierde erweckt. In den "Nachrichten aus dem Netz" verabschiedet Michael Moorstedt den Internetdienst Geocities. Stephan Opitz, Leiter des Referates Kulturelle Grundsatzfragen an der Staatskanzlei des Landes Schleswig-Holstein (was die SZ seltsamerweise nicht erwähnt), plädiert dafür, die Krise als Chance für eine Neugestaltung der deutschen Kulturpolitik zu sehen. Rainer Gansera resümiert die 43. Hofer Filmtage. Gottfried Knapp gratuliert Richard Serra zum Siebzigsten. Volker Breidecker berichtet von der Herbsttagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt.

Besprochen werden die Ausstellung "Cranach und die Kunst der Renaissance unter den Hohenzollern" in Berlin, neue DVDs, Mozarts "Don Giovanni" am Münchner Nationaltheater und neue Inszenierungen von Stücken Alfred Mussets und Tracy Letts am Wiener Burgtheater.