Heute in den Feuilletons

Weiß, glatt, verfugt

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.11.2009. In der Achse des Guten erinnert sich Richard Wagner, wie die Evangelische Kirche einmal Herta Müller und ihn selbst auslud, weil sie beim Tête-a-Tête mit den rumänischen Machthabern störten. Im Perlentaucher antwortet der Medienwissenschaftler Stefan Münker auf Richard David Prechts Sehnsucht nach Öffentlichkeit wie früher. Die NZZ erklärt, was Schwindel-Marketing ist. In der SZ fordert der Urheberrechtler Gerd Hansen ein Urheberrecht, das auch Nutzer schützt.  In der taz spricht der Schriftsteller Mahmud Doulatabadi über die Lage im Iran.

FR, 03.11.2009

Der Kulturwissenschaftler Olaf Briese spricht im Interview mit Andreja Andrisevic über die Ästhetik der Mauer, die zum Westen hin als Herrschafts- und Todesarchitektur wahrgenommen, nach Osten hin dagegen verschämt versteckt wurde: "Weiß, glatt, verfugt. Betonästhetik. Zu der Zeit wurde, anders als bei der zusammengestoppelten Rumpelmauer der Anfangszeit, industriell gebaut, mit Betonplatten, die senkrecht standen. Die hatten schon durch ihre Ordnungshaftigkeit eine Ästhetik von Geometrie, von Normung, von Serialität. Ich nenne das Ästhetik des Einheitlichen und des Sachlichen. Die Bauweise ist schnörkellos, und das ist eine moderne architektonische Idee. Bauhausästhetik, kann man sagen."

Weiteres: In Times mager vermutet Christian Schlüter, dass Angela Merkel nicht alles sagt, was sie meint; aber leider hat er gerade keine Zeit, das zu überprüfen. Besprochen werden Stefan Herheims Inszenierung von Strauss' "Rosenkavalier", ein Beethoven-Konzert mit Radu Lupu in Frankfurt, Udo Jürgens' 250. Deutschlandtournee und Peter-Andre Alts Buch "Kafka und der Film".

Perlentaucher, 03.11.2009

Der Publizist Richard David Precht hat in einer Rede auf den Münchner Medientagen (die leider nirgends nachzulesen ist) Artenschutz für die etablierten Medien, besonders die Zeitungen gefordert. Der Medienwissenschaftler Stefan Münker repliziert im Perlentaucher: "Wer, wie Precht, glaubt, die mediale Öffentlichkeit sei wesentlich ein Ort der thematischen Gleichschaltung, der muss vielleicht auch nur jene Medien für öffentlichkeitsrelevant halten, die er als gleichgeschaltet halluziniert. Das allerdings waren die traditionellen Leitmedien der Moderne, das war auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen selbst in seiner Blütezeit in den sechziger und siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts nie."

Welt, 03.11.2009

Zwei Dinge vor allem hat Uwe Wittstock am Verkauf des Suhrkamp-Archivs an Marbach auszusetzen: Erstens habe Siegfried Unseld noch 2002 einen Teil des Archivs der Universität Frankfurt übergegeben, die ihn jetzt an Marbach rausrücken muss - eine Art Raub unter würdevollen Kulturinstitutionen. Und zweitens "werden sich manche Verlagsleiter, die in den letzten Jahren große Teile ihrer Archive an Marbach gaben, inzwischen fragen, was sie falsch gemacht haben. Denn bislang war es in fast allen Fällen üblich, derartige Bestände ohne Gegenleistungen an das Deutsche Literaturarchiv zu geben. Auch Siegfried Unseld hatte das offenbar beabsichtigt: Der nach seinen Wünschen ausgehandelte Vertrag mit der Universität Frankfurt sah keinen Kaufpreis vor. (...) Nach dem spektakulären Fall Suhrkamp ist aber wohl damit zu rechnen, dass sich in diesem Punkt die bislang guten Sitten ändern werden."

In der Leitglosse freut sich Eckhard Fuhr, dass wenigstens in der Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte in Rastatt die Revolution von 1989 in die deutsche Geschichte eingebettet wurde. Uta Baier berichtet über die Versteigerung eines Pissarro-Gemäldes aus dem Besitz des Verlegers Samuel Fischer. Der Streit um das Erbe des schwedischen Autors Stieg Larssons ist beigelegt, berichtet Wfr.

Besprochen werden die Ausstellung des Erfurter Schatzes in der restaurierten Alten Synagoge Erfurts, die Aufführung der Marx-Saga am Hamburger Thalia Theater und die Uraufführung des Rockmusicals "Nackt!" in Bremen.

NZZ, 03.11.2009

Auf der Medienseite stellt Tobias Feld den Einzug des viralen Marketings in die Medien fest. Ausgehend von der Verleihung gleich dreier Goldener Löwen an die Kampagne "Best Job in the World for Tourism Queensland" während des Werbefestivals in Cannes beobachtet er eine Werbestrategie, die vor allem auf Internetnutzer als Werbeträger baut: "Agenturen wie GoViral arbeiten weltweit mit gewichtigen Meinungsführern, um Themen zu setzen. 'GoViral platziert etwa mit Hilfe von Bloggern einen Spot gezielt im redaktionellen Umfeld', sagt Frank Scheuerer, der die Agentur in Deutschland repräsentiert. Dass dabei Geld fließt, verhehlt man nicht. 'Im Netz fehlt weithin eine Sensibilität für das Thema Schwindel-Marketing, dessen Wirkung auf das Kaufverhalten nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, wie jüngst auch eine Studie zeigte', meint Christian Roth, Medienforscher am Hamburger Hans-Bredow-Institut."

Weiteres: Joachim Güntner nimmt die Herbsttagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung zum Anlass, eine Lobrede auf die geographische, aber nicht kulturelle Provinz Darmstadt zu halten.

Besprochen werden ein Klavierkonzert mit Yuja Wang in Zürich, die Neuinszenierung von Mozarts "Don Giovanni" durch Regisseur Stephan Kimmig und Dirigent Kent Nagano an der Münchner Staatsoper, die Aufführung von Alfred de Mussets "Lorenzaccio" durch Regisseur Stefan Bachmann am Wiener Burgtheater, eine Einspielung der Klaviertrios Nr. 1 und Nr.2 von Felix Mendelssohn durch das Trio Jean Paul und Bücher, darunter Isolde Ohlbaums Fotoband "Auswärtsspiele" sowie gleich zwei Bände des ukrainischen Schriftstellers Serhij Zhadan "Die Selbstmordrate bei Clowns" und "Hymne der demokratischen Jugend" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 03.11.2009

Herta Müller hat neulich die Evangelische Kirche scharf für ihren Friedensdialog mit den rumänischen Schergen kritisiert, demzuliebe die Veranstalter eines Kirchentags noch 1989 Müller und ihren Ehemann Richard Wagner ausluden. In der Achse des Guten erinnert sich Wagner an die Szene: "Man stand gewissermaßen kurz vor dem Durchbruch, nämlich vor dem gemeinsamen Pressefoto mit den Verbrechern, da erschienen zwei Leute am Horizont des Kirchentags, Katholiken, und wollten die Wahrheit aufs Tapet bringen. Welch eine Zumutung, und was für eine Regelverletzung! Ich gebe zu, es war schlechtes Benehmen. Wir störten die Nashörner beim Tee." Und weiter: "So lange die großen Institutionen des Westens, zu denen EKD und Kirchentag gehören, nicht bereit sind, über ihre fragwürdige und zum Teil skandalöse Kooperation mit den Machthabern im Osten zu sprechen, kann nicht von der historischen Wahrheit über den Kalten Krieg die Rede sein."

TAZ, 03.11.2009

Der Schriftsteller Mahmud Doulatabadi, der gerade auf Lesereise in Deutschland war, spricht im Interview mit Andreas Fanizadeh über seinen Roman "Der Colonel" (Leseprobe), die Zensur und die gegenwärtige Lage im Iran: "Es gibt einen großen Unterschied: Das Schahregime hatte ein durchschaubares, halbwegs berechenbares System. Der Schah versuchte ganz gezielt gewisse politische Oppositionsbewegungen zu unterdrücken. Aber heute ist es so, zumindest scheint es so, dass ein Teil der etablierten Gesellschaft gegen einen anderen Teil der etablierten Gesellschaft opponiert. Diese undurchschaubare Situation ist sehr negativ im Vergleich zu früher, als die Fronten ganz klar erkennbar waren. Das macht die Lage so unübersichtlich und schwierig. Ende der 1970er Jahre stand ein diktatorisches Regime, ein geschlossenes System gegen das gesamte Volk. Heute hingegen verläuft die Spaltung quer durchs Volk und auch quer durchs Establishment."

Weiteres: Julia Grosse meldet, dass Damien Hirst auf der Power-100-Liste des Kunstmagazins Art Review von Platz eins auf Platz 48 abgestürzt ist; an der Spitze steht jetzt Londons Superkurator Hans-Ulbrich Obrist. Micha Brumlik kündigt an, nicht mehr die Grünen zu wählen, "bis nicht in irgendeinem Bundesland oder einer Stadt mit mindestens einer halben Million Einwohnern eine rot-rot-grüne Koalition regiert." Detlef Kuhlbrodt resümiert zufrieden das Festival für Dokumentar- und Animationsfilm in Leipzig. Besprochen wird Irmin Schmidts Filmmusik-Anthologie "Volume 4 & 5".

Und noch Tom.

SZ, 03.11.2009

Im Gespräch mit Dirk von Gehlen (Blog) skizziert der Urheberrechtler Gerd Hansen ("Warum Urheberrecht?") eine Alternative zum überkommenen, aber kaum mehr praktikablen Urheberrecht. Er plädiert für eine "offene Kultur": "In einer offenen Kultur findet eine breitest mögliche Partizipation aller am Prozess und an den Resultaten kreativen Schaffens statt. Voraussetzung dafür ist, dass Urheber vergütet werden und zugleich aber der Schutz nicht so weit ausgedehnt wird, dass dadurch kreatives Schaffen Dritter verhindert wird. Es geht daher um eine Kultur, in der möglichst viele Werknutzungen zustimmungsfrei, aber vergütungspflichtig sind. Leitbild einer solchen offenen Kultur ist für mich neben dem Urheber der aktive und selbstbestimmte Nutzer, der die im Zuge der digitalen Revolution freigesetzten Möglichkeiten kreativ ausschöpft."

Weitere Artikel: Im Aufmacher des Feuilletons macht sich Thomas Steinfeld unter Anspielung auf die "sonderbare" Sloterdijk-Honneth-Debatte nochmal Gedanken über die Wirtschaftskrise, die für ihn offenbart, "in welchem Maße die rationale Unvernunft selbst in den letzten Winkel der Gegenwart eingezogen ist". Christine Dössel bespricht erste Produktionen des vom Goethe-Institut initiierten Festivals "After the Fall" vor, für das europäische Autoren Stücke über die Wende und ihre Folgen verfassten. Lothar Müller zeichnet französische Debatten um eine political correctness nach, die als neue Form der Zensur in die Literatur Einzug halte. Jens Bisky gratuliert dem Schriftsteller Joachim Seyppel zum Neunzigsten. In der "Zwischenzeit" schreibt Gustav Seibt nochmals über Goethe und Napoleon (mehr hier). Gemeldet wird, dass die in Berlin lebende Autorin Marie NDiaye für ihren Roman "Trois femmes puissantes" mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde. Fritz Göttler hat die Reihe "The Unquiet Amercan" mit "Transgressive Comedies from the U.S." bei der Viennale gesehen. Jonathan Fischer macht auf eine Deutschlandtournee schwarzer französischsprachiger Zydeco-Musiker aus Louisiana aufmerksam. Auf Seite 3 kommt Egebert Tholl nochmal auf die hochsensible Angelegenheit zwischen Christian Thielemann und den Münchner Philharmonikern zurück.

Besprochen werden ein "Rosenkavalier" unter Stefan Herheim in Stuttgart, eine Ausstellung zu Ehren des jüdischen Sammlers und Stifters James Loeb im Münchner Antikenmuseum und Bücher, darunter Anson Rabinbachs Essay "Begriffe aus dem Kalten Krieg - Totalitarismus, Antifaschismus, Genozid" (mehr in der Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 03.11.2009

Leicht gekürzt abgedruckt wird Ilja Trojanows Laudation auf die Franz-Werfel-Menschenrechtspreisträgerin Herta Müller. Der Autor betont darin Prinzipienfragen der Erinnerung an die Totalitarismen: "Das massenhafte Leid früherer Jahrzehnte provoziert verwirrende Debatten über Gedächtnis. Wie wir in Europa mit der Vergangenheit umgehen, ist Prüfstein für eine angestrebte gesamteuropäische Ethik, für ein Zusammenwachsen der Schicksale, von dem wir heute, da in Russland der Stalinismus romantisiert wird und die verbrecherische DNA der Eliten in manchen neuen EU-Mitgliedsländern selbst vom einstigen Westen ignoriert wird, meilenweit entfernt sind. Es geht nicht nur um eine metaphysische Gerechtigkeit, sondern um eine menschenwürdige Gesellschaft."

Weitere Artikel: Joachim Müller-Jung sieht die Aufrufe zur Schweinegrippe-Impfung inzwischen weniger als Forderungen nach Selbstschutz denn als Aufforderung zum Schutz der "womöglich viel stärker Gefährdeten."Über die Liebe eines französischen Korrespondenten zu Deutschland (samt Currywurst) berichtet Jürg Altwegg. In der Glosse findet Christian Geyer, dass es spätestens Richard David Prechts Wortmeldung zur Sloterdijk-Honneth-Debatte im Spiegel nicht auch noch gebraucht hätte. Was auf einer Urbanistenkonferenz im chinesischen Kanton alias Guangzhou verhandelt wurde, schildert Arnold Bartetzky. Michael Hanfeld meldet erfreut, dass die in Berlin lebende Schriftstellerin Marie NDiaye den diesjährigen Prix Goncourt erhält. Jürg Altwegg schreibt zum Tod des Historikers Jean-Francois Bergier.

Besprochen werden Stefan Herheims Stuttgarter Inszenierung des "Rosenkavalier", Christine Pohles Uraufführung des von ihr dramatisierten Juan-Goytisolo-Romans "Die Marx-Saga", Heinz Spoerlis Züricher Version von Marius Pepitas "Raymonda"-Ballett, die Ausstellung "Cranach und die Kunst der Renaissance unter den Hohenzollern" im Schloss Charlottenburg in Berlin, und Bücher, darunter Christoph Türckes neue Studie "Jesu Traum" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).