Heute in den Feuilletons

Ob die DDR in Zukunft existieren wird

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.11.2009. Kultiversum bringt ein Theaterheute-Gespräch vom 4. November 1989, in dem Ulrich Mühe und Heiner Müller über den Fortgang der Ereignisse spekulieren. Netzwertig kommentiert die Iphone-Politik des Springer-Verlags: Bild und Welt bekommen zahlbare Apps, der Iphone-Zugang zu den Webseiten wird gesperrt.In der Welt erklärt die Goncourt-Preisträgerin Marie N'Diaye, warum sie in Berlin lebt. Die SZ hätte gern ein Bürgergeld. Die FR dankt den Islamisten für den Mauerfall, und Slavoj Zizek fordert Freiheit ohne Risiko.

Welt, 06.11.2009

Johanna Schmeller interviewt endlich die französische Autorin Marie N'Diaye, der in dieser Woche der Prix Goncourt zugesprochen wurde und die seit drei Jahren in Berlin lebt: "In Frankreich empfinde ich schon seit Jahren keine Frische mehr, keine Begeisterungsfähigkeit, wie es sie in Berlin noch gibt. Ich habe oft den Ort gewechselt, wenn ich das Gefühl hatte, dass ich alle Inspirationsquellen ausgeschöpft habe. Sobald ich umziehe, kommen die Ideen, kommt die Leidenschaft zu schreiben wieder."

Weiteres: Der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch erinnert sich an das magische Jahr 1989 und an Fußballspiel der DDR gegen die Sowjetunion, was vor der Wende wohl noch als Spitzenbegegnung galt. Hanns-Georg Rodek erinnert an Klaus Maria Brandauers Film über den schwäbischen Schreiner Georg Elser, dem es beinahe am 8. November 1938 gelungen wäre, Hitler das Handwerk zu legen. Das Gedenken an Elser kommentiert auch Berthold Seewald. Freddy Litten erzählt noch einmals die Geschichte der ersten Anime-Serie im japanischen Fernsehen und den atombetriebenen Roboter Astro Boy. Ulrich Clauß attestiert dem neuen Sender Neo, der das ZDF "vor dem Aussterben" bewahren soll, ein "Bemühen um unangestrengte Ernsthaftigkeit" fest.

Besprochen werden Robbie Williams neues Album "Reality Killed the Video Star" und James Manns Buch über das Ende des Kalten Kriegs "The Rebellion of Ronald Reagan".

Aus den Blogs, 06.11.2009

Ziemlich faszinierend. Das Kultiversum hat in den Archiven von Theaterheute gekramt und ein Gespräch gefunden, das Michael Merschmeier vor dem 4. November mit Heiner Müller, Ulrich Mühe und Hilmar Thate geführt hat: "Frage: Haben die Mächtigen noch unter Kontrolle, wieviel sie nachgeben müssen, um nicht alles zu verlieren, oder gewinnt die Bewegung schon einen Selbstlauf, der nicht mehr zu stoppen ist?
Ulrich Mühe: Sie bewegen sich so weit vor, um die Verfassung nicht ändern zu müssen.
Hilmar Thate: Es gerät ihnen planmäßig außer Kontrolle. Die SED kann froh sein, daß sie die Bündnisparteien hat, die einiges auffangen können.
Mühe. Und sie wissen, daß es jetzt nur noch um die Grundfrage geht, ob die DDR in Zukunft existieren wird oder nicht.
Müller: Und es wäre langweilig, wenn sie nicht mehr existierte.
Mühe: Fragt sich nur, ob es nicht schon zu spät ist, ob das nicht längst entschieden ist." Und? Ist es langweilig?

Mit den zahlbaren Apps fürs iPhone führt der Springer Verlag glechzeitig auch die Zensur auf dem schicken Smartphone ein, meint Martin Weigert auf Netzwertig: "Was der Axel Springer Verlag heute dem Medienmagazin DWDL.de bestätigte, gehört meiner Ansicht nach klar in die Kategorie 'fahrlässige Ideen ohne Zukunft'. Mit dem geplanten Launch kostenpflichtiger iPhone-Applikationen für Bild und Welt Online soll gleichzeitig der Browser-Zugriff auf die mobilen Sites beider Zeitungen von Apples Smartphone gesperrt werden."

BoingBoing meldet ein weiteres ominösen Vorkommnis vom Genfer Teilchenbeschleuniger Cern, ein Vogel hat ein Baguette-Krümelchen auf die Anlage fallen lassen. Gut möglich, dass dies das Werk zeitreisender Higgs-Partikel gewesen ist, die ihre eigene Entdeckung verhindern wollen.

TAZ, 06.11.2009

Christian Semler und Stefan Reinicke unterhalten sich mit der NS-Forscherin Susanne Heim über die antijüdischen Pogrome am 9. November 1938. Sie hat eine Studie über dieses Ereignis veröffentlicht, in der rund drei Viertel bisher unveröffentlichte Quellen ausmachen (vorgeblättert im Perlentaucher). Dazu meint sie: "Mir ist auch klar, dass ein 850-seitiger Dokumentenband kein Verkaufserfolg in Bahnhofsbuchhandlungen wird. Aber wer ein bisschen genauer hinschaut, merkt: Es stimmt nicht, dass wir alles wissen. Nehmen Sie zum Beispiel die Frage, wie viele Juden bei dem Novemberpogrom getötet wurden. Es gibt die offizielle Zahl von 91 Toten, aber wie viele es wirklich waren, weiß niemand. Es gibt viele solcher offenen Fragen."

Weiteres: Alexandra Eul porträtiert das Hamburger Label Dial Records, das sich den vergangenen neun Jahren zu einem der einflussreichsten Technolabels gemausert hat. Besprochen wird das neue Album von Robbie Williams "Reality Killed The Video Star".

Auf der Medienseite informiert Daniel Bohous über die Firma Textguard, die mittels einer Software Textklau im Internet ermittelt und den Autoren Anwälte empfiehlt, um diese Urheberrechtsverletzungen ahnden zu können; Kunden sind unter anderem Journalisten, prominentester Kunde die Nachrichtenagentur AFP. einige Hintergründe zum Abmahnbusiness und zu diesem Fall liefert Udo Vetter in seinem Lawblog unter dem Titel "Eva redselig".

Hier Tom.

FR, 06.11.2009

Die FR legt ein kleines Dossier zu zwanzig Jahren Mauerfall vor. Arno Widmann sieht es ähnlich wie Jürgen Todenhöfer: "Es waren islamische, ja islamistische Kämpfer, die die Sowjetunion zu Fall brachten. Meinten wir es ehrlich mit unserer Freude und Dankbarkeit, was die Wiedervereinigung angeht, wir würden sie feiern in Afghanistan." (Dafür haben die Amerikaner sie doch finanziert!) Der unvermeidliche Slavoj Zizek erblickt nach Mauerfall und Krise neue Utopien am Horizont, diesmal hoffentlich mit nicht so vielen Kolletaralschäden - er träumt nämlich von einem Sozialismus, der Freiheit ohne Risiko bringt. Stefan Keim hat sich Stücke des Festivals "After the Fall" angesehen, in dem sich Dramatiker im Auftrag des Goethe-Instituts Gedanken über den Mauerfall machen - und er empfiehlt besonders Dirk Lauckes Stück "Für alle reicht es nicht". Außerdem werden einige Bücher zum Mauerfall empohlen.

Weitere Artikel: Peter Michalzik glossiert den Preis der Theaterverlage für die Förderung junger Autoren, der an das Theater Mannheim geht - nicht von ungefähr, meint er, denn dort wird in Autoren wirklich investiert.

Besprochen wird eine CD des wiederauferstandenen Robbie Williams.

NZZ, 06.11.2009

Marc Zitzmann stöbert in den französischen Feuilletons nach Reaktionen auf den Tod von Claude Levi-Strauss und liest in der "Le Monde", dass der Musikliebhaber Levi-Strauss mit seinen Forschungen "das Solfeggio des Geistes entziffert habe". In dem 10 Seiten langen Requiem der "Liberation" stellt man ihn derweil in eine Reihe mit Montaigne und Malinowski, erfährt Zitzmann.

Besprochen werden die Aufnahme von Salvatore Sciarrinos Gesangszyklus "12 Madrigali", eine CD mit Orchesterstücken Edward Elgars, eine Einspielung von Beethovens Klavierkonzerten, die Ausstellung "Straßen Bilder" von Barbara Klemm im Frankfurter Museum für Moderne Kunst, der Auftakt des internationalen Theaterfestivals "After the Fall" in Dresden, James Turrells Lichtinstallationen "Wolfsburg Project" im Kunstmuseum Wolfsburg sowie die Alte Synagoge in Erfurt, die jetzt als Museum für jüdisches Leben im Mittelalter genutzt wird.

SZ, 06.11.2009

Nüchtern betrachtet, findet Burkhard Müller, gibt es das Grundeinkommen für alle längst. Nur dass die, die keine Arbeit mehr finden, zur Strafe per Hartz IV drangsaliert werden. Müller plädiert dafür, das besser zuzugeben und mit dem Schikanieren dafür aufzuhören: "Im Grunde garantieren Staat und Gesellschaft längst jedermann ein Grundeinkommen, das er in jedem Fall bezieht, egal, was ihm widerfährt. Es hat sich bislang auf verschiedene Weise verkleidet, um seinen einheitlichen Charakter nicht preisgeben zu müssen: bei denen, die im Erwerbsleben stehen, als Sockelfreibeträge in der Besteuerung oder als Kindergeld, bei den anderen als Sozialhilfe und Arbeitslosengeld, vulgo Hartz IV. Wie wäre es, wenn man das Bürgergeld, das faktisch da ist, endlich auch bei seinem Namen nennen wollte, um es bedingungslos und lebenslagenunabhängig auszuzahlen?"

Weitere Artikel: Tobias Lehmkuhl unterhält sich mit dem Jazz-Saxofonisten Wayne Shorter "über Geld, Verrat und Miles Davis". Rafael Medoff hat das bislang nur in englischer Sprache erschienene Buch "Das Dritte Reich im Elfenbeinturm" gelesen, dessen Autoren schildern, wie Vertreter des Nationalsozialismus an amerikanischen Universitäten mit recht offenen Armen empfangen wurden. Johannes Boie meldet, dass Google unter der Adresse google.com/dashboard jetzt für Transparenz im Umgang mit Nutzerdaten sorgen will. Außerdem stellt er eine Software namens "Darkroom" vor, die wieder Ruhe auf die Bildschirme bringen will (sie ist gratis zu haben: für Windows, für den Mac). Die schlechte Figur, die ein holländischer Investor im Hamburger Gängeviertel abgibt, schildert Till Briegleb.

Auf der Medienseite berichtet Nikolaus Piper von den Ideen des früheren Washington-Post-Chefs Leonard Downie zum "Wiederaufbau des amerikanischen Journalismus" mittels eines öffentlich finanzierten Hilfsfonds: "Das Ganze erinnert verblüffend an deutsche Fernsehgebühren, deutsche Rundfunkräte und die deutsche Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten, kurz KEF. Vermutlich haben Downie und Schudson noch nie eine deutsche Rundfunkanstalt von innen gesehen.""

Besprochen werden Robbie Williams' neues Album "Reality Kills the Video Star" (Jens-Christian Rabe findet es "unrund" und holt gleich zur Williams-Großanalyse aus), Sebastian Nüblings "Revisor"-Inszenierung in Zürich, Ken Loachs Film "Looking For Eric" (mehr; ein Gespräch mit dem Regisseur gibt's dazu), eine Reihe Taschenbücher, aber auch neue Hardcover, darunter die neue Max-Goldt-Textsammlung "Ein Buch namens Zimbo" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 06.11.2009

Parallel vorgestellt werden zwei Erinnerungsorte deutscher Zeitgeschichte. Ein Plattenbau in der Wilhelmstraße, in dem Rolf Hochhuth wohnt (und Angela Merkel und Brigit Breuel wohnten), sowie - dieser Artikel ist online - die Potsdamer Villa Schöningen, in der nun ein Museum zur Erinnerung an die deutsche Teilung eröffnet wird. In der Glosse rät Dirk Schümer den kruzifixurteilgeschädigten Italienern, sich an Bayern zu orientieren. Eduard Beaucamp schildert in seiner Kunstkolumne, wie die Museen sich in Krisenzeiten auf sichere Werte und ihre eigenen Magazine besinnen. Thorsten Gräbe schlägt Alarm: In Zeiten klammer kommunaler Kassen sind die Stadtbibliotheken in Gefahr - in Biberach an der Riss hat er aber auch ein Zukunftsmodell gesehen.

Besprochen werden Uraufführungen von Finanzkrisendramen von David Hare und Lucy Prebbles in London, die Laszlo-Moholy-Nagy-Ausstellung in der Frankfurter Schirn, die Ausstellung der "Sammlung James Loeb" in München, Jukka-Pekka Valkeapääs Debütfilm "Der Besucher" und Bücher, darunter der wiederentdeckte einzige Roman von Hans Adler mit dem Titel "Das Städtchen" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).